BVerwG 6. Senat, Urteil vom 27.03.2024, AZ 6 C 1/22, ECLI:DE:BVerwG:2024:270324U6C1.22.0
Leitsatz
1. Mit der Qualifikation als „Verhinderungsblockade“ kann der Versammlungscharakter einer Personenzusammenkunft, bei der es jedenfalls auch zu in den Rahmen der öffentlichen Meinungsbildung einzuordnenden Bekundungen kommt, allenfalls dann verneint werden, wenn das kommunikative Anliegen und der Einsatz entsprechender Kommunikationsmittel in handgreiflicher Weise einen bloßen Vorwand darstellen.
2. Jedenfalls solche unfriedlichen Versammlungen, die von Beginn an und dann durchgehend einen unfriedlichen Charakter haben, bedürfen vor einer Anwendung des Landespolizeirechts keiner Auflösung nach § 15 Abs. 3 VersG.
Verfahrensgang
vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 18. November 2021, Az: 1 S 803/19, Urteil
vorgehend VG Sigmaringen, 13. Februar 2019, Az: 1 K 4335/17, Urteil
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 18. November 2021 aufgehoben, soweit der Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Sigmaringen vom 13. Februar 2019 in Bezug auf die Fesselung des Klägers am 30. April 2016 in der Zeit von seiner Ankunft in bzw. vor der Halle 9 der Stuttgarter Messe bis 13.30 Uhr sowie in Bezug auf die Fortsetzung des Gewahrsams von 17.54 Uhr bis zum Abend des 30. April 2016 und die Verbringung des Klägers nach Esslingen stattgegeben worden ist.
Insoweit wird die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit von polizeilichen Maßnahmen, denen er als Teilnehmer an einer Protestaktion unterzogen wurde, die gegen den Bundesparteitag der Partei Alternative für Deutschland (AfD) gerichtet war, der am 30. April und 1. Mai 2016 auf dem Gelände der Landesmesse Stuttgart (Messe) stattfand.
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Die Polizei hatte im Vorfeld Kenntnis davon erlangt, dass 850 bis 1000 gewaltbereite Personen aus dem linksautonomen Spektrum Zufahrtswege zu der Messe blockieren, schwere Ausschreitungen ähnlich denjenigen bei der Eröffnung der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt am Main im Jahr 2015 begehen und die Infrastruktur an der Messe in einem die Durchführung des AfD-Bundesparteitags ausschließenden Maße zerstören wollten.
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Am frühen Morgen des 30. April 2016 besetzte eine mit mehreren Reisebussen angereiste Gruppe von mehreren hundert teilweise vermummten, fast ausschließlich schwarz oder mit weißen Einmalanzügen bekleideten Personen, die unter anderem gegen die AfD gerichtete Transparente mit sich führten, einen Kreisverkehr im Osten der Messe. Mitglieder der Gruppe zündeten Pyrotechnik und blockierten die Ausfahrten des Kreisverkehrs mit Barrikaden, die sie mit herbeigeholtem Baustellenmaterial errichteten. Als Einsatzfahrzeuge der Polizei eintrafen, verließ die Personengruppe den Kreisverkehr und bewegte sich auf der angrenzenden Flughafenstraße auf das Messegelände zu. Den sich nähernden Einsatzkräften der Polizei wurde eine Rauchbombe entgegengeworfen.
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Um 7.02 Uhr wurde die Gruppe auf der Flughafenstraße durch die Polizei eingekesselt. Aus der Gruppe heraus wurden gegen die AfD gerichtete Parolen gerufen. Der Leiter des Polizeieinsatzes ordnete für die eingeschlossenen 419 Personen – unter ihnen der Kläger – den polizeilichen Gewahrsam an. Es folgten Lautsprecherdurchsagen der Polizei „an alle Teilnehmer, die den friedlichen Verlauf der Versammlung stören“. Sie genössen wegen ihrer Vermummung und der Errichtung von Barrikaden nicht mehr den Schutz des Versammlungsrechts. Sie befänden sich in polizeilichem Gewahrsam und würden in Kürze polizeilich bearbeitet.
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Sodann wurden die Mitglieder der eingekesselten Personengruppe einzeln – der Kläger um 8.10 Uhr – aus der Einkesselung herausgelöst, mittels Einwegschließen mit den Händen auf dem Rücken gefesselt und in Bussen – der Kläger stehend – zu der ca. 600 Meter entfernten Gefangenensammelstelle der Polizei in der Messehalle 9 verbracht. Dort kam es zu Verzögerungen in der weiteren Abwicklung. Der Kläger wurde gegen 13.30 Uhr einer Identitätsfeststellung und erkennungsdienstlichen Behandlung unterzogen. Im zeitlichen Zusammenhang damit traf die Polizei die Prognose, dass mit einer Entscheidung über den Gewahrsam des Klägers durch die vor Ort anwesenden vier Richter des Amtsgerichts Nürtingen vor dem Wegfall des Gewahrsamsgrundes nicht zu rechnen sei. Vor diesem Hintergrund wurde eine richterliche Entscheidung über den Gewahrsam des Klägers nicht herbeigeführt. Der Kläger wurde, nachdem ihm im Anschluss an seine Identitätsfeststellung und erkennungsdienstliche Behandlung die Fesseln abgenommen worden waren, in einer Einzelzelle in einem Gefangenenbus eingeschlossen. Im weiteren Verlauf wurde ihm um 17.54 Uhr ein Platzverweis für das Messegelände bis zum 1. Mai 2016 um 20.00 Uhr erteilt. Er wurde zu dem ca. 16 Kilometer entfernten Bahnhof in Esslingen verbracht, wo er nach den übereinstimmenden Angaben der Beteiligten gegen 19.50 Uhr aus dem polizeilichen Gewahrsam entlassen wurde. Dem Kläger wurde während seines Gewahrsams ein Toilettengang nicht ermöglicht und Trinkwasser nicht zugänglich gemacht.
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Der Kläger hat am 2. Mai 2017 bei dem Verwaltungsgericht Stuttgart Klage erhoben. Dieses hat sich mit Beschluss vom 17. Mai 2017 für örtlich unzuständig erklärt und die Klage an das Verwaltungsgericht Sigmaringen als örtlich zuständiges Gericht verwiesen.
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Der Kläger hat sinngemäß die Feststellung beantragt, dass folgende ihm gegenüber am 30. April 2016 vorgenommenen polizeilichen Maßnahmen rechtswidrig waren: Die Einkesselung der Personengruppe, der er angehörte, auf der Flughafenstraße um 7.02 Uhr (Klageantrag zu 1), der polizeiliche Gewahrsam vom Morgen bis ca. 19.50 Uhr am Abend (Klageantrag zu 2), die Fesselung (Klageantrag zu 3), der Transport in einem Bus – gefesselt und stehend – von der Flughafenstraße zur Messehalle 9 (Klageantrag zu 4), das Nichtermöglichen eines Toilettengangs (Klageantrag zu 5), das Vorenthalten von Trinkwasser (Klageantrag zu 6), die Identitätsfeststellung und die erkennungsdienstliche Behandlung (Klageantrag zu 7), der Platzverweis (Klageantrag zu 8) sowie die Verbringung zum Bahnhof in Esslingen (Klageantrag zu 9).
8
Das Verwaltungsgericht hat der Klage mit allen Anträgen stattgegeben. Die polizeilichen Maßnahmen hätten wegen der Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes (VersG) nur nach vorherigem Erlass einer Auflösungsverfügung gemäß § 15 Abs. 3 VersG auf Grundlage des Landespolizeirechts bzw. – wie die Identitätsfeststellung und die erkennungsdienstliche Behandlung des Klägers – des Strafprozessrechts ergehen dürfen.
9
Auf die Berufung des beklagten Landes Baden-Württemberg hat der Verwaltungsgerichtshof das Urteil des Verwaltungsgerichts teilweise geändert und die Klage hinsichtlich der Klageanträge zu 1 bis 4 und zu 7 bis 9 abgewiesen (VBlBW 2022, 297). Dabei hat der Verwaltungsgerichtshof, was den polizeilichen Gewahrsam des Klägers anbelangt, dem Klageantrag zu 2 lediglich den Zeitraum von der Herauslösung des Klägers aus der eingekesselten Personengruppe um 8.10 Uhr am Morgen bis zur Erteilung des Platzverweises um 17.54 Uhr am Nachmittag des 30. April 2016 zugeordnet. Die Fortsetzung des Gewahrsams bis zur Absetzung des Klägers am Bahnhof in Esslingen hat der Verwaltungsgerichtshof im Zusammenhang mit dem Klageantrag zu 9 behandelt. Erfolglos geblieben ist die Berufung des Beklagten in Bezug auf die Klageanträge zu 5 – Nichtermöglichen eines Toilettengangs – und zu 6 – Vorenthalten von Trinkwasser -; insoweit ist das erstinstanzliche Urteil rechtskräftig geworden.
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Der Verwaltungsgerichtshof hat ausgeführt, für die Zulässigkeit der Klage komme es nicht darauf an, ob es sich bei den angegriffenen, insgesamt bereits vorprozessual erledigten Maßnahmen um Verwaltungsakte oder bloße Realakte gehandelt habe. Die Klage sei in jedem Fall – entweder als Fortsetzungsfeststellungsklage oder als allgemeine Feststellungsklage – zulässig. Der Einhaltung einer Klagefrist habe es in der bestehenden Erledigungskonstellation nicht bedurft. Das Klagerecht sei bei Erhebung der Klage ein Jahr nach Erledigung der angegriffenen Maßnahmen noch nicht verwirkt gewesen. Das erforderliche (Fortsetzungs-)Feststellungsinteresse des Klägers sei zwar nicht in Gestalt eines Rehabilitierungsinteresses gegeben, denn es fehle an einer noch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bestehenden Stigmatisierung des Klägers. Es bestehe aber deshalb, weil mit den zur gerichtlichen Überprüfung gestellten Maßnahmen tiefgreifende Grundrechtseingriffe in Rede stünden, die sich typischerweise so kurzfristig erledigten, dass Rechtsschutz in einem Hauptsacheverfahren regelmäßig nicht erlangt werden könne.
11
In der Sache habe eine Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes in dem Sinne, dass auf andere Rechtsgrundlagen, die zu einem polizeilichen Einschreiten gegen versammlungsspezifische Gefahren ermächtigten, erst dann zurückgegriffen werden dürfe, wenn die Versammlung zuvor rechtmäßig aufgelöst worden sei, nicht bestanden. Die versammlungsgesetzliche Sperrwirkung knüpfe an das Bestehen einer Versammlung an. Ob diese einen friedlichen oder unfriedlichen Charakter habe, sei unerheblich.
12
Unter einer Versammlung sei in Übereinstimmung mit dem Versammlungsbegriff des Art. 8 GG eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zum Zweck der gemeinschaftlichen, auf eine Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Kundgebung zu verstehen. Diese Begriffsmerkmale seien im Fall einer sog. Verhinderungsblockade nicht erfüllt. Mit einer solchen strategischen Blockadeaktion solle nicht nur, wie es für eine dem Versammlungsbegriff unterfallende demonstrative Blockade kennzeichnend sei, in Gestalt eines einem Kommunikationsanliegen untergeordneten Mittels kurzfristig ein symbolischer Protest ausgedrückt werden, bei dem die Behinderung Dritter eine bloße Nebenfolge darstelle. Ihr primärer Zweck bestehe nicht in einer öffentlichen Meinungskundgabe, sondern darin, eigene Forderungen zwangsweise durchzusetzen, die Rechte Dritter gezielt zu beeinträchtigen oder das, was – wie etwa eine andere Versammlung – politisch missbilligt werde, tatsächlich zu stören oder zu verhindern. Für die Abgrenzung einer demonstrativen Blockade von einer Verhinderungsblockade komme es maßgeblich darauf an, ob die jeweilige Personengruppe sich nach dem anhand der objektiven Umstände zu ermittelnden Gesamtgepräge im Kern kommunikativer Mittel bediene und nicht ausschließlich bezwecke, die Veranstaltung, gegen die sie sich richte, mit physischen Mitteln zu verhindern. Für die Annahme einer Versammlung in Gestalt einer demonstrativen Blockade bedürfe es substantiierter Anhaltspunkte dafür, dass der Kommunikationszweck im Vordergrund stehe. Nicht ausreichend sei, dass die Veranstaltungsteilnehmer ihre Meinung lediglich bei Gelegenheit der Blockade kundtäten. Für die Abgrenzung sei im Einzelfall auf die Art, den Umfang und die Dauer der Blockade sowie ihren sachlichen Zusammenhang mit dem inhaltlichen Gegenstand der Zusammenkunft abzustellen. Für die Frage, ob die Blockademaßnahmen einen nur symbolhaften Charakter hätten, sei ferner zu berücksichtigen, mit welcher Intensität sie durchgeführt würden, und ob sie überhaupt geeignet seien, das erklärte Ziel tatsächlich vor Ort mit physischen Mitteln zu erreichen.
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Gemessen an diesem Maßstab habe es sich bei der auf der Flughafenstraße durch die Polizei eingekesselten Personengruppe um eine Verhinderungsblockade und damit um keine Versammlung gehandelt. Für die Beurteilung sei zu Grunde zu legen, dass es sich bei den Ereignissen in dem Kreisverkehr und auf der Flughafenstraße im Hinblick auf Zeit, Raum, Qualität und Ziel um ein einheitliches Geschehen gehandelt habe. Bei diesem habe nach der durchgeführten Beweisaufnahme der Einsatz von auf eine öffentliche Meinungsbekundung gerichteten kommunikativen Mitteln nicht im Vordergrund gestanden. Der primäre Zweck der Zusammenkunft habe vielmehr darin bestanden, die Durchführung des AfD-Bundesparteitags mit koordinierten, zielgerichteten und von der Solidarität der Mehrheit ersichtlich getragenen unfriedlichen Mitteln zu verhindern oder zumindest erheblich zu stören. Zu verweisen sei auf das mitgeführte Transparent mit der Aufschrift „AfD-Parteitag verhindern – Nationalismus ist keine Alternative“, auf das Auftreten als durch schwarze Bekleidung, weiße Einmalanzüge bzw. Vermummung gekennzeichnete homogene Gruppe sowie auf das den polizeilichen Vorfelderkenntnissen entsprechende planmäßige Vorgehen. Dieses habe in der gleichzeitigen, gezielten Ansteuerung des Kreisverkehrs durch Busse aus dem gesamten Bundesgebiet sowie dem Zünden von Pyrotechnik und dem Errichten von Barrikaden durch die angereisten Personen gleich nach ihrer Ankunft seinen Ausdruck gefunden. Absetzbewegungen habe es nicht gegeben. Die Blockade des Kreisverkehrs sei geeignet gewesen, die Durchführung des AfD-Bundesparteitags vor Ort zu verhindern bzw. zu stören. Sie habe die Anreise zu dem Parteitag zumindest erschweren können. Zwar sei die Blockade nur von kurzer Dauer gewesen, hätten die errichteten Barrikaden von der Polizei zügig entfernt werden können und habe es noch andere Zufahrtswege zu dem Messegelände gegeben. Jedoch sei die Blockade erst durch das massive Auftreten der Polizei beendet worden. Zudem müsse sie in ihrem jedenfalls faktischen Zusammenwirken mit anderen Störergruppen im Umfeld des Messegeländes gewürdigt werden. Die von mehreren Personen hochgehaltenen Transparente und die in der Gruppe skandierten Sprechchöre, die als solche unzweifelhaft öffentliche Meinungsbekundungen dargestellt hätten, hätten der Ansammlung nicht ein entsprechendes übergeordnetes objektives Gepräge gegeben. Sie seien lediglich bei Gelegenheit des Versuches erfolgt, den AfD-Bundesparteitag zu verhindern bzw. zu stören.
14
Im Anschluss an die dergestalt verneinte Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes hat der Verwaltungsgerichtshof die mit den Klageanträgen zu 1 bis 4 sowie zu 7 bis 9 angegriffenen Maßnahmen im Wesentlichen nach Maßgabe des baden-württembergischen Polizeigesetzes in der seinerzeit geltenden Fassung vom 13. Januar 1992 (GBl. S. 1, ber. S. 596, ber. GBl. 1993 S. 155), für den maßgeblichen Zeitraum zuletzt geändert durch Art. 4 des Gesetzes vom 29. Juli 2014 (GBl. S. 378, 379) – PolG BW a. F. – für rechtmäßig erachtet. Für die mit dem Klageantrag zu 7 angegriffene Feststellung der Identität des Klägers hat er sich zusätzlich auf § 163b Abs. 1 StPO bezogen, für die von demselben Klageantrag umfasste erkennungsdienstliche Behandlung des Klägers hat er allein auf § 81b Alt. 1 StPO abgestellt. Demgegenüber sei es – wie mit den Klageanträgen zu 5 und 6 geltend gemacht – jedenfalls wegen einer Verletzung der in Art. 1 Abs. 1 GG enthaltenen Garantie der Menschenwürde rechtswidrig gewesen, dem Kläger die Möglichkeit eines Toilettengangs sowie Trinkwasser vorzuenthalten.
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Der Kläger verfolgt mit seiner Revision seine Klagebegehren weiter, soweit diese in der Berufungsinstanz ohne Erfolg geblieben sind. Der Standpunkt des Verwaltungsgerichtshofs, die in Rede stehende Personenzusammenkunft habe eine Verhinderungsblockade und keine Versammlung dargestellt, so dass die Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes nicht eingreife, verletze revisibles Recht. Die polizeilichen Lautsprecherdurchsagen hätten keine die Sperrwirkung aufhebende Auflösungsverfügung nach § 15 Abs. 3 VersG dargestellt. Die Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichtshofs seien unzureichend.
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Der Beklagte verteidigt das Berufungsurteil.
Entscheidungsgründe
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Die von dem Kläger mit den Klageanträgen zu 1 bis 4 und zu 7 bis 9 in zulässiger Weise eingelegte Revision ist begründet, soweit der Verwaltungsgerichtshof der Berufung des Beklagten gegen das klagestattgebende Urteil des Verwaltungsgerichts in Bezug auf die Fesselung des Klägers am 30. April 2016 in der Zeit von seiner Ankunft in bzw. vor der Messehalle 9 bis zur Abnahme der Fesseln im Anschluss an seine Identitätsfeststellung und erkennungsdienstliche Behandlung um 13.30 Uhr (größter Teil des Klageantrags zu 3) sowie in Bezug auf die Fortsetzung des polizeilichen Gewahrsams des Klägers von der Erteilung des Platzverweises um 17.54 Uhr bis – nach Angabe der Beteiligten – zum Abend des 30. April 2016 und seine Verbringung zum Bahnhof in Esslingen (Klageantrag zu 9 in der Zuordnung durch den Verwaltungsgerichtshof) Erfolg beigemessen hat. Insoweit beruht das angefochtene Urteil auf einer Verletzung von Bundesrecht im Sinne von § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO. Es ist in diesem Umfang nach § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO aufzuheben und die Sache ist zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen. Im Übrigen ergibt sich aus den Entscheidungsgründen des überwiegend zu Gunsten des Beklagten ergangenen, nur bezüglich der Klageanträge zu 5 und zu 6 rechtskräftig gewordenen Berufungsurteils zwar ein Verstoß gegen Bundesrecht, die Entscheidung selbst stellt sich aber aus anderen Gründen als richtig dar, so dass die Revision insoweit nach § 144 Abs. 4 VwGO zurückzuweisen ist.
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Der Verwaltungsgerichtshof hat die Klage, die der Kläger in nach § 44 VwGO zulässiger objektiver Klagehäufung erhoben hat, mit allen in die Revisionsinstanz gelangten Klageanträgen im Einklang mit revisiblem Recht für zulässig erachtet (1.). In der Sache kann das Berufungsurteil nur teilweise in seinem Ergebnis aufrecht erhalten bleiben (2.).
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1. Die Klage ist mit den Klageanträgen zu 1, zu 2, zu 7, zu 8 und zu 9 als Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO (a.) sowie mit den Klaganträgen zu 3 und zu 4 als allgemeine Feststellungsklage nach § 43 VwGO (b.) zulässig.
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a. Die mit den Klageanträgen zu 1, zu 2, zu 7, zu 8 und zu 9 angegriffenen Maßnahmen sind jeweils als Verwaltungsakt ergangen oder jedenfalls verwaltungsprozessual wie ein solcher zu behandeln. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Einkesselung der Personengruppe auf der Flughafenstraße am 30. April 2016 um 7.02 Uhr im Hinblick auf den der Gruppe angehörenden Kläger als polizeiliche Ingewahrsamnahme nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW a. F. eingeordnet (Klageantrag zu 1). Diese Vorschrift bildete nach dem Berufungsurteil auch die Grundlage für den fortgesetzten polizeilichen Gewahrsam des Klägers in der Zeit von seiner Herauslösung aus der eingekesselten Personengruppe um 8.10 Uhr bis zur Erteilung des Platzverweises um 17.54 Uhr desselben Tages (Klageantrag zu 2 in der Zuordnung durch den Verwaltungsgerichtshof). Ferner konnte nach der Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs die Identitätsfeststellung des Klägers jedenfalls auch auf § 26 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW a. F. gestützt werden (erster Teil des Klageantrags zu 7), und fand der dem Kläger erteilte Platzverweis seine Grundlage in § 27a Abs. 1 PolG BW a. F. (Klageantrag zu 8). Schließlich waren nach dem angegriffenen Urteil die Aufrechterhaltung des polizeilichen Gewahrsams des Klägers bis zu seiner Absetzung am Bahnhof in Esslingen gemäß § 28 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW a. F. und die darüber hinaus mit der räumlichen Distanzierung des Klägers verbundene Belastung nach der polizeilichen Generalklausel aus § 3 in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Satz 1 PolG BW a. F. gerechtfertigt (Klageantrag zu 9 in der Zuordnung durch den Verwaltungsgerichtshof). Der Verwaltungsakt ist die Handlungsform zur Umsetzung des von dem Verwaltungsgerichtshof dergestalt für den Senat nach § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 560 ZPO bindend ausgelegten irrevisiblen Landespolizeirechts. Die ausschließlich auf § 81b Alt. 1 StPO zu stützende erkennungsdienstliche Behandlung des Klägers (zweiter Teil des Klageantrags zu 7) ist im Verwaltungsprozess wegen des einzelfallbezogenen Regelungsgehalts der ihr zu Grunde liegenden Anordnung einem Verwaltungsakt gleichzustellen.
21
Sämtliche genannten Maßnahmen hatten sich bereits am 30. April 2016 und damit vor Klageerhebung und einer gegebenenfalls eintretenden Bestandskraft erledigt, so dass die Fortsetzungsfeststellungsklage nicht an die Einhaltung der Klagefrist aus § 74 VwGO gebunden war (BVerwG, Urteile vom 14. Juli 1999 – 6 C 7.98 – BVerwGE 109, 203 <206 ff.> und vom 24. Mai 2022 – 6 C 9.20 – BVerwGE 175, 346 Rn. 15). Obwohl der Kläger die Klage erst am 2. Mai 2017 erhoben hat, war das Klagerecht nicht verwirkt. Der Beklagte durfte nicht darauf vertrauen, dass der Kläger zu diesem Zeitpunkt keine Klage mehr erheben werde. Denn der Kläger hatte bereits mit anwaltlichem Schriftsatz vom 11. Mai 2016 unter Bezug auf seine polizeiliche Ingewahrsamnahme am 30. April 2016 Akteneinsicht begehrt, woraufhin der Beklagte eine Rückmeldung angekündigt hatte, dann jedoch untätig geblieben war.
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Die Klagebefugnis des Klägers nach § 42 Abs. 2 VwGO steht wegen der möglichen Verletzung seiner Grundrechte der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG, der Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (wegen des polizeilichen Gewahrsams), der informationellen Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (wegen der Identitätsfeststellung und der erkennungsdienstlichen Behandlung) sowie der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG (wegen des Platzverweises und der räumlichen Distanzierung) nicht in Zweifel.
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Der Kläger verfügt zudem im Hinblick auf alle hier in Rede stehenden Maßnahmen über das nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erforderliche berechtigte Interesse an der begehrten Feststellung. Dabei kann dahinstehen, ob entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs ein rechtlich erhebliches Rehabilitierungsinteresse zu bejahen ist. Denn es handelt sich jedenfalls durchweg um Akte, die sich zum einen typischerweise so kurzfristig erledigen, dass sie während des Andauerns der mit ihnen verbundenen Beschwer keiner Überprüfung in einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugänglich sind, und die sich zum anderen als tiefgreifend zu beurteilende Grundrechtseingriffe darstellen können (vgl. zu dieser Fallgruppe eines berechtigten Interesses nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zuletzt: BVerwG, Beschlüsse vom 29. November 2023 – 6 C 2.22 – juris Rn. 7 ff. und vom 29. Januar 2024 – 8 AV 1.24 – juris Rn. 11 ff.). Die letztgenannte Voraussetzung ist nicht nur im Hinblick auf die im Raum stehenden schwerwiegenden Verletzungen der Grundrechte des Klägers aus Art. 8 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG erfüllt. Sie kann vielmehr in Anbetracht der Prägung, die das zur Beurteilung stehende Gesamteingriffsszenario durch diese möglichen Grundrechtsverletzungen erfährt, auch hinsichtlich der gegebenenfalls vorliegenden, für sich genommen weniger schwerwiegenden Beeinträchtigung der allgemeinen Handlungsfreiheit des Klägers aus Art. 2 Abs. 1 GG nicht verneint werden.
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b. Die Maßnahmen, auf die sich die Klageanträge zu 3 und zu 4 beziehen, stellen Realakte dar. Diese Qualifikation ist eine Folge der für den Senat bindenden Auslegung des Landespolizeirechts durch den Verwaltungsgerichtshof, wonach es sich bei der Fesselung des Klägers um unmittelbaren Zwang im Sinne von § 52 Abs. 1 PolG BW a. F. – angewandt im Zuge der Durchführung des angeordneten polizeilichen Gewahrsams – handelte (Klageantrag zu 3) und der Transport des Klägers von der Flughafenstraße zur Messehalle 9 – gefesselt und stehend in einem Bus – eine tatsächliche Begleiterscheinung dieser Zwangsanwendung darstellte (Klageantrag zu 4).
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Aus dieser Einordnung der in Rede stehenden Realakte ergeben sich im Hinblick auf das betroffene Grundrecht des Klägers auf Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG rechtliche Beziehungen zwischen ihm und dem Beklagten in Gestalt eines nach § 43 Abs. 1 VwGO feststellungsfähigen Rechtsverhältnisses.
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Das nach § 43 Abs. 1 VwGO erforderliche Feststellungsinteresse des Klägers ist in Entsprechung zu den obigen Darlegungen betreffend das Fortsetzungsfeststellungsinteresse nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO gegeben. Es handelt sich hier wie dort um sich typischerweise kurzfristig erledigende, mit potentiell tiefgreifenden Grundrechtseingriffen verbundene Maßnahmen.
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2. Die zulässige Klage ist teilweise begründet. In der Sache scheitert eine Anwendung der polizeirechtlichen und strafprozessualen Rechtsgrundlagen, die der Verwaltungsgerichtshof zur Rechtfertigung der gegenüber dem Kläger angewandten Maßnahmen herangezogen hat, nicht an der Rechtsfigur der Sperrwirkung („Polizeifestigkeit“) (a.) des in Baden-Württemberg gemäß Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG fortgeltenden (Bundes-)Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (Versammlungsgesetz – VersG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. November 1978 (BGBl. I S. 1789), für den hier maßgeblichen Zeitraum zuletzt geändert durch Gesetz vom 8. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2366). Dies hat der Verwaltungsgerichtshof allerdings nur im Ergebnis zutreffend erkannt. Demgegenüber ergibt sich aus den dieses Ergebnis tragenden Gründen des Berufungsurteils eine Verletzung revisiblen Rechts. Dies ist, was die Anwendung des Landespolizeirechts anbelangt, deshalb der Fall, weil der Verwaltungsgerichtshof die Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes in Gestalt des aus § 15 Abs. 3 VersG abzuleitenden Vorbehalts, dass eine Versammlung nach dieser Vorschrift aufgelöst worden sein muss, bevor nach Polizeirecht gegen ihren Bestand eingeschritten werden darf, auf Grund der Annahme verneint hat, es habe sich bei der Personengruppe in dem Kreisverkehr und auf der Flughafenstraße um eine Zusammenkunft zur Durchführung einer Verhinderungsblockade und damit um keine Versammlung im Sinne des Art. 8 GG sowie des § 1 Abs. 1 VersG gehandelt. Die in Rede stehenden Personengruppe erfüllte jedoch die Merkmale einer Versammlung im verfassungsrechtlichen und versammlungsrechtlichen Sinne (b.).
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Die Verkennung des bundesrechtlichen Begriffs der Versammlung durch den Verwaltungsgerichtshof wirkt sich indes in Bezug auf das Einschreiten der eingesetzten Polizeikräfte auf polizeirechtlicher Grundlage nicht aus, denn der Zugriff auf das Landespolizeirecht war aus anderem Grund eröffnet. Dieser Grund bestand zwar nicht darin, dass in den Lautsprecherdurchsagen der vor Ort eingesetzten Polizeikräfte eine Auflösungsverfügung nach § 15 Abs. 3 VersG gefunden werden könnte (c.). Jedoch erfüllte die Versammlung in dem Kreisverkehr und auf der Flughafenstraße nach den tatsächlichen Feststellungen, die der Verwaltungsgerichtshof im Zusammenhang mit seiner nicht tragfähigen Annahme einer Verhinderungsblockade getroffen hat, von ihrem Beginn an – und durchgehend unverändert bis zum Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens – die Merkmale einer unfriedlichen Versammlung. Im Hinblick darauf, dass Art. 8 Abs. 1 GG – ebenso wie Art. 11 Abs. 1 EMRK – nur das Recht gewährleistet, sich friedlich (und ohne Waffen) zu versammeln, bedürfen jedenfalls solche unfriedlichen Versammlungen, die von Beginn an und dann durchgehend einen unfriedlichen Charakter haben, vor einer Anwendung des Landespolizeirechts keiner Auflösung nach § 15 Abs. 3 VersG (d.).
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Trotz der Anwendbarkeit des Landespolizeirechts stellt sich das Berufungsurteil hinsichtlich der eingangs genannten, auf polizeirechtlicher Grundlage ergangenen Maßnahmen (fortgesetzte Fesselung, Fortsetzung des Gewahrsams, Verbringung nach Esslingen) aus bundesrechtlicher Sicht gleichwohl nicht nach § 144 Abs. 4 VwGO als im Ergebnis richtig dar. Denn der Verwaltungsgerichtshof ist insoweit den Anforderungen an die richterliche Sachverhaltsaufklärung, die sich aus der durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 104 Abs. 1 und 2 GG garantierten Unverletzlichkeit der Freiheit der Person ergeben, nicht gerecht geworden. In diesem Umfang ist dem Verwaltungsgerichtshof nach § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO Gelegenheit zur Nachholung der erforderlichen Feststellungen und Würdigungen in tatsächlicher Hinsicht sowie – auf dieser Grundlage – zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Dauer der Freiheitsentziehung des Klägers und ihrer näheren Umstände zu geben (e.).
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Demgegenüber erweist sich das Berufungsurteil in Bezug auf die übrigen auf das Landespolizeirecht gestützten Maßnahmen als nach § 144 Abs. 4 VwGO im Ergebnis richtig, weil diese auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs durch die von ihm ohne Verstoß gegen revisibles Recht angewandten Bestimmungen des baden-württembergischen Polizeigesetzes in seiner hier anwendbaren alten Fassung getragen werden (f.).
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Was das Einschreiten der eingesetzten Polizeikräfte auf strafprozessualer Grundlage – jedenfalls eines solchen auf Grund des im vorliegenden Fall letztlich allein entscheidungserheblichen § 81b Alt. 1 StPO – anbetrifft, steht die Annahme des Verwaltungsgerichtshofs in Widerspruch zum Bundesrecht, dem Auflösungsvorbehalt aus § 15 Abs. 3 VersG könne insoweit überhaupt eine – wenn auch entsprechend dem Verhältnis zum Landespolizeirecht überwindbare – Sperrwirkung zukommen. Eine solche Sperrwirkung ist hier vielmehr von vornherein ausgeschlossen. Auch insoweit besteht allerdings eine Ergebnisrichtigkeit des Berufungsurteils im Sinne von § 144 Abs. 4 VwGO, weil der Verwaltungsgerichtshof eine versammlungsgesetzliche Sperrwirkung entsprechend seinen Darlegungen zur Anwendbarkeit des Landespolizeirechts verneint und die Tragfähigkeit des § 81b Alt. 1 StPO in nicht zu beanstandender Weise bejaht hat (g.).
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a. Die Rechtsfigur der Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes gegenüber der Anwendung von Vorschriften des allgemeinen Landespolizeirechts ist eine Ausprägung sowohl des Grundsatzes des Vorrangs des speziellen Gesetzes (aa.) als auch des Grundrechts der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG (bb.).
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aa. In der erstgenannten Hinsicht ist in der älteren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Sperrwirkung des auf Grund der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 3 GG a. F. erlassenen Versammlungsgesetzes sehr weit verstanden worden. Das Gericht hat in einem Beschluss aus dem Jahr 1987 ausgeführt, das Versammlungsgesetz regele nicht lediglich im Sinne von Art. 8 Abs. 2 GG Beschränkungen des Grundrechts der Versammlungsfreiheit, sondern stelle die – seinerzeit noch nach Maßgabe der Art. 70 und 72 GG a. F. landesrechtliche Regelungen ausschließende – umfassende bundesgesetzliche Ordnung des Versammlungswesens dar. Das gelte insbesondere für § 15 Abs. 2 VersG a. F. (nunmehr § 15 Abs. 3 VersG). Die Unterbindung einer Versammlung könne auch in den Fällen ausschließlich auf diese Vorschrift gestützt werden, in denen die Auflösung der Versammlung den Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG nicht berühre und deshalb keine Beschränkung der Versammlungsfreiheit im Sinne von Art. 8 Abs. 2 GG darstelle (BVerwG, Beschluss vom 14. Januar 1987 – 1 B 219.86 – NVwZ 1988, 250 <251>).
34
Von dieser Rechtsprechung ist das Bundesverwaltungsgericht seit dem Jahr 2007 abgerückt. Es hat mehrfach betont, die Sperrwirkung des Versammlungsgesetzes bedeute nicht, dass in die Versammlungsfreiheit nur auf der Grundlage des Versammlungsgesetzes eingegriffen werden könne. Dieses Gesetz enthalte keine abschließende Regelung für die Abwehr aller Gefahren, die im Zusammenhang mit Versammlungen auftreten könnten. Vielmehr sei das Versammlungswesen im Versammlungsgesetz nicht umfassend und vollständig, sondern nur teilweise und lückenhaft geregelt, so dass in Ermangelung einer speziellen Regelung auf das der allgemeinen Gefahrenabwehr dienende jeweilige Landespolizeirecht zurückgegriffen werden müsse. Obwohl das Bundesverwaltungsgericht diesen auf den Grundsatz des Vorrangs des speziellen Gesetzes bezogenen Ansatz bisher nur für Maßnahmen im Vorfeld von Versammlungen (BVerwG, Urteile vom 25. Juli 2007 – 6 C 39.06 – BVerwGE 129, 142 Rn. 30, 37 ff., vom 25. Oktober 2017 – 6 C 46.16 – BVerwGE 160, 169 Rn. 16, 48 und vom 24. Mai 2022 – 6 C 9.20 – BVerwGE 175, 346 Rn. 11; vgl. im Ergebnis übereinstimmend auch: BVerfG, Beschluss vom 18. Dezember 2018 – 1 BvR 142/15 – BVerfGE 150, 244 Rn. 136), in Bezug auf die Verhütung von Gefahren, die allein aus der Ansammlung einer Vielzahl von Menschen an einem dafür ungeeigneten Ort entstehen (BVerwG, Beschluss vom 16. November 2010 – 6 B 58.10 – Buchholz 402.44 VersG Nr. 18 Rn. 6) sowie für die Vollstreckung von auf versammlungsrechtlicher Grundlage erlassenen Verfügungen (BVerwG, Beschluss vom 3. Mai 2019 – 6 B 149.18 – Buchholz 402.41 Allgemeines Polizeirecht Nr. 116 Rn. 8 f.) angewandt hat, ist er prinzipiell nicht auf diese Konstellationen begrenzt.
35
bb. Begrenzungen für die Anwendung des Landespolizeirechts ergeben sich indes aus der Schutzwirkung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu im Jahr 2004 ausgeführt, Art. 8 GG erlaube Beschränkungen von Versammlungen unter freiem Himmel nur nach Maßgabe seines Absatzes 2. Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen Versammlungen richteten sich dementsprechend nach dem Versammlungsgesetz. Dessen im Vergleich zum allgemeinen Polizeirecht besonderen Voraussetzungen für beschränkende Maßnahmen seien Ausprägungen des Grundrechts der Versammlungsfreiheit. Dementsprechend gehe das Versammlungsgesetz als Spezialgesetz dem allgemeinen Polizeirecht vor. So scheide – ohne vorherige Auflösung der Versammlung oder entsprechende Ausschließung eines Versammlungsteilnehmers – ein auf allgemeines Polizeirecht gegründeter Platzverweis aus, solange sich eine Person in einer Versammlung befinde und sich auf die Versammlungsfreiheit berufen könne (BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. Oktober 2004 – 1 BvR 1726/01 – NVwZ 2005, 80 <81>).
36
Diese Maßgaben hat das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2007 bekräftigt. Aus dem Versammlungsgesetz ergäben sich besondere Anforderungen für einen polizeilichen Zugriff auf Versammlungsteilnehmer. Eine auf allgemeines Polizeirecht gegründete Maßnahme, durch welche das Recht zur Teilnahme an der Versammlung beschränkt werde, scheide auf Grund der Sperrwirkung der versammlungsgesetzlichen Regelungen aus. Für Beschränkungen der Versammlungsteilnahme stünden der Polizei lediglich die abschließend versammlungsgesetzlich geregelten teilnehmerbezogenen Maßnahmen zu Gebote, für die im Interesse des wirksamen Grundrechtsschutzes strengere Anforderungen bestünden als für polizeirechtliches Einschreiten allgemein. Nach allgemeinem Polizeirecht erlassene Maßnahmen, die – wie ein Platzverweis oder eine Ingewahrsamnahme – die Teilnahme an einer Versammlung beendeten, seien rechtswidrig, solange nicht die Versammlung gemäß § 15 Abs. 3 VersG aufgelöst oder der Teilnehmer auf versammlungsrechtlicher Grundlage von der Versammlung ausgeschlossen worden sei (BVerfG, Kammerbeschluss vom 30. April 2007 – 1 BvR 1090/06 – NVwZ 2007, 1180 <1182>).
37
Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in seiner oben angeführten Rechtsprechung im Blick gehabt (vgl. etwa: BVerwG, Urteil vom 25. Juli 2007 – 6 C 39.06 – BVerwGE 129, 142 Rn. 39, Beschlüsse vom 16. November 2010 – 6 B 58.10 – Buchholz 402.44 VersG Nr. 18 Rn. 6 und vom 3. Mai 2019 – 6 B 149.18 – Buchholz 402.41 Allgemeines Polizeirecht Nr. 116 Rn. 8). Sie kamen in den betreffenden Entscheidungen allerdings nicht zum Tragen, weil es in diesen nicht um einen auf das allgemeine Polizeirecht gestützten, unmittelbaren Eingriff in den Ablauf einer Versammlung ging (zu diesem Unterschied auch: BVerfG, Beschluss vom 18. Dezember 2018 – 1 BvR 142/15 – BVerfGE 150, 244 Rn. 136).
38
b. Der Verwaltungsgerichtshof hat das Eingreifen der versammlungsgesetzlichen Sperrwirkung in Gestalt des Auflösungsvorbehalts aus § 15 Abs. 3 VersG gegenüber einer Anwendung des Landespolizeirechts verneint, indem er an dem Begriff der Versammlung (aa.) angesetzt und aus diesem seiner Einschätzung nach mit der Bezeichnung als Verhinderungsblockade zu erfassende Aktionsformen ausgenommen hat (bb.). Dieses Normverständnis steht mit dem bundesrechtlichen Begriff der Versammlung nicht im Einklang (cc.).
39
aa. Art. 8 Abs. 1 GG verleiht allen Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Nach § 1 Abs. 1 VersG hat jedermann das Recht, öffentliche Versammlungen und Aufzüge zu veranstalten und an solchen Veranstaltungen teilzunehmen.
40
Das Bundesverfassungsgericht definiert die Versammlung im Sinne des Art. 8 GG als örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung (BVerfG, Urteil vom 22. Februar 2011 – 1 BvR 699/06 – BVerfGE 128, 226 <250>; Beschluss vom 24. Oktober 2001 – 1 BvR 1190/90 u. a. – BVerfGE 104, 92 <104>; Kammerbeschlüsse vom 12. Juli 2001 – 1 BvQ 28/01 u. a. – NJW 2001, 2459 <2460>, vom 26. Oktober 2004 – 1 BvR 1726/01 – NVwZ 2005, 80, vom 30. April 2007 – 1 BvR 1090/06 – NVwZ 2007, 1180 und vom 7. März 2011 – 1 BvR 388/05 – NJW 2011, 3020 Rn. 32). In Übereinstimmung mit dieser Definition bestimmt das Bundesverwaltungsgericht in gefestigter Rechtsprechung den Versammlungsbegriff nicht nur des Art. 8 GG, sondern auch des § 1 Abs. 1 VersG (BVerwG, Urteile vom 16. Mai 2007 – 6 C 23.06 – BVerwGE 129, 42 Rn. 15, vom 22. August 2007 – 6 C 22.06 – Buchholz 402.44 VersG Nr. 14 Rn. 14, vom 25. Oktober 2017 – 6 C 46.16 – BVerwGE 160, 169 Rn. 25 und vom 24. Mai 2022 – 6 C 9.20 – BVerwGE 175, 346 Rn. 19). Diese Gleichsetzung ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. Juli 2001 – 1 BvQ 28/01 u. a. – NJW 2001, 2459 <2460>).
41
Eine Bewertung des Inhalts des mit einer Veranstaltung verfolgten kommunikativen Anliegens bzw. der Eignung oder Sinnhaftigkeit einer Veranstaltung sowie der in ihrem Rahmen geplanten Aktionen und Ausdrucksformen im Hinblick auf den jeweils bezweckten Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung steht den grundrechtsgebundenen staatlichen Stellen nicht zu (BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 – 1 BvR 1190/90 u. a. – BVerfGE 104, 92 <109 ff.>, Kammerbeschluss vom 21. September 2020 – 1 BvR 2152/20 – NVwZ 2020, 1505 Rn. 17). Unberührt hiervon bleibt allein die den zuständigen Behörden und den Gerichten obliegende rechtliche Beurteilung, ob eine Veranstaltung den Versammlungsbegriff erfüllt (BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. Juli 2001 – 1 BvQ 28/01 u. a. – NJW 2001, 2459 <2461>; BVerwG, Urteil vom 24. Mai 2022 – 6 C 9.20 – BVerwGE 175, 346 Rn. 23).
42
Enthält eine Veranstaltung sowohl Elemente, die auf eine Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtet sind, als auch solche, die diesem Zweck nicht zuzurechnen sind, ist entscheidend, ob eine derart gemischte Veranstaltung ihrem Gesamtgepräge nach eine Versammlung ist. Kann ein Übergewicht des einen oder des anderen Bereichs nicht zweifelsfrei festgestellt werden, bewirkt der hohe Rang der Versammlungsfreiheit, dass die Veranstaltung wie eine Versammlung zu behandeln ist (BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 2016 – 1 BvR 458/10 – BVerfGE 143, 161 Rn. 112 f., Kammerbeschluss vom 12. Juli 2001 – 1 BvQ 28/01 u. a. – NJW 2001, 2459 <2461>; BVerwG, Urteile vom 16. Mai 2007 – 6 C 23.06 – BVerwGE 129, 42 Rn. 16 ff., vom 22. August 2007 – 6 C 22.06 – Buchholz 402.44 VersG Nr. 14 Rn. 14, 22 und vom 24. Mai 2022 – 6 C 9.20 – BVerwGE 175, 346 Rn. 21).
43
bb. Der Verwaltungsgerichtshof hat die nach seiner Einschätzung dem Versammlungsbegriff nicht unterfallende Verhinderungsblockade als eine strategische Veranstaltung definiert, mit der nicht nur wie bei einer von dem Versammlungsbegriff umfassten demonstrativen Blockade kurzfristig ein symbolischer Protest im Sinne einer Meinungskundgabe ausgedrückt werden solle, bei dem die Behinderung Dritter bloße Nebenfolge sei. Vielmehr bestehe deren primärer Zweck darin, eigene Forderungen zwangsweise durchzusetzen, die Rechte Dritter gezielt zu beeinträchtigen oder das, was – wie etwa eine andere Versammlung – politisch missbilligt werde, tatsächlich zu stören oder zu verhindern. Für die Prüfung, ob eine Blockade einen nur symbolischen Charakter habe und der kommunikative Zweck im Vordergrund stehe oder aber Meinungen lediglich bei Gelegenheit der Blockade kundgetan würden, sei auf das anhand der objektiven Umstände zu ermittelnde Gesamtgepräge abzustellen, wobei insbesondere Art, Umfang, Dauer und Intensität der Blockade sowie der sachliche Zusammenhang mit ihrem inhaltlichen Gegenstand und die Eignung, das erklärte Ziel tatsächlich vor Ort mit physischen Mitteln zu erreichen, in den Blick zu nehmen seien. Diese Merkmale hat der Verwaltungsgerichtshof im vorliegenden Fall als gegeben erachtet.
44
cc. Mit dieser einschränkenden Interpretation hat der Verwaltungsgerichtshof den bundesrechtlichen Versammlungsbegriff verkannt. Sie gibt einer wertenden Betrachtung der von den Veranstaltungsteilnehmern verfolgten Zwecke in einem Maße Raum, das bereits mit den dem Versammlungsbegriff inhärenten Geboten, eine Bewertung von Meinungskundgaben zu unterlassen und im Zweifel einen Versammlungscharakter anzunehmen, kaum zu vereinbaren ist. Jedenfalls kann sich der Verwaltungsgerichtshof zur Rechtfertigung seines restriktiven Interpretationsansatzes nicht auf zwei Stränge in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts berufen, in denen dieses – äußerst eng umgrenzt – bestimmte Formen des Zusammenwirkens in einer Personengruppe von dem Versammlungsbegriff des Art. 8 GG ausgenommen hat (aaa.). Über die danach bestehenden Maßgaben geht das Normverständnis des Verwaltungsgerichtshofs weit hinaus (bbb.). Im Ergebnis handelte es sich bei der Personengruppe, die sich in dem Kreisverkehr eingefunden und sich sodann auf die Flughafenstraße begeben hatte, in Anbetracht der aus ihrer Mitte heraus zum Ausdruck gebrachten Ablehnung der der AfD zugeschriebenen politischen Positionen um eine Versammlung.
45
aaa. Der erste Rechtsprechungsstrang zur abgrenzenden Konturierung des Versammlungsbegriffs wird durch zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus den Jahren 1991 und 2007 gebildet. Im Jahr 1991 hat das Gericht für die Konstellation der opponierenden Teilnahme (zu diesem Begriff: Rusteberg, NJW 2011, 2999 <3002>) an einer Versammlung in geschlossenen Räumen festgestellt, der Schutz des Art. 8 GG ende dort, wo es nicht um die – wenn auch kritische – Teilnahme an der Versammlung, sondern um deren Verhinderung gehe. Die Beteiligung an einer Versammlung setze zwar keine Unterstützung des Versammlungsziels voraus, sondern erlaube auch Widerspruch und Protest. Wohl aber verlange sie die Bereitschaft, die Versammlung in ihrem Bestand hinzunehmen und abweichende Ziele allein mit kommunikativen Mitteln zu verfolgen. Wer dagegen eine Versammlung in der Absicht aufsuche, sie durch seine Einwirkung zu verhindern, könne sich nicht auf das Grundrecht aus Art. 8 GG berufen. Das gelte auch, wenn er dabei seinerseits im Verein mit anderen auftrete (BVerfG, Beschluss vom 11. Juni 1991 – 1 BvR 772/90 – BVerfGE 84, 203 <209 ff.>).
46
Im Jahr 2007 hat es das Bundesverfassungsgericht dahinstehen lassen, ob und unter welchen Umständen Personenzusammenkünften unter freiem Himmel der Schutz des Art. 8 GG zu versagen sei, wenn diese ausschließlich die Verhinderung einer anderen Versammlung bezweckten. Jedenfalls werde der durch die Versammlungsfreiheit vermittelte Schutz nicht dadurch beseitigt, dass von einer Zusammenkunft Störungen für eine andere Versammlung ausgingen, die im Rahmen der die Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 Abs. 2 GG beschränkenden Gesetze abgewehrt werden könnten (BVerfG, Kammerbeschluss vom 30. April 2007 – 1 BvR 1090/06 – NVwZ 2007, 1180).
47
Der zweite hier relevante Rechtsprechungsstrang umfasst zwei Judikate aus dem Kreis der Entscheidungen, in denen sich das Bundesverfassungsgericht zu den Voraussetzungen einer Strafbarkeit von (Sitz-)Blockaden als Nötigung nach § 240 StGB verhalten hat. Im Jahr 2001 hat das Gericht bekräftigt, dass der Einsatz einer Blockade nach Art. 8 GG geschützt sei, wenn es sich um ein Mittel handele, um ein kommunikatives Anliegen bzw. die Erzielung von öffentlicher Aufmerksamkeit für einen politischen Standpunkt auf spektakuläre Weise zu verfolgen und dadurch am Prozess öffentlicher Meinungsbildung teilzuhaben (in diesem Sinne bereits zuvor: BVerfG, Urteil vom 11. November 1986 – 1 BvR 713/83 u. a. – BVerfGE 73, 206 <248 ff.>, Beschluss vom 1. Dezember 1992 – 1 BvR 88/91 u. a. – BVerfGE 87, 399 <406>). Im Rahmen der Prüfung der Verwerflichkeit nach § 240 Abs. 2 StGB seien Art und Maß der Auswirkungen der Blockade auf betroffene Dritte und deren Grundrechte zu berücksichtigen. Wichtige Abwägungselemente seien – unter anderem – die Dauer und Intensität der Blockade sowie der Bezug des Ortes der Versammlung, ihrer konkreten Ausgestaltung und der von ihr betroffenen Personen zu dem Versammlungsthema (BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 – 1 BvR 1190/90 u. a. – BVerfGE 104, 92 <110 ff.>). Das Bundesverfassungsgericht hat hiernach einer Blockade des Grenzübergangs zur Schweiz an der Bundesautobahn 5, die eine Gruppe von Roma und Sinti mit ihren Fahrzeugen ins Werk gesetzt hatte, um ihre Einreise in die Schweiz zu erzwingen, bereits die Anerkennung als Versammlung im Sinne des Art. 8 GG versagt, die es zwei in demselben Verfahren behandelten Blockadeaktionen an der Zufahrt zu der vormals geplanten Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf hat zuteilwerden lassen. Die Blockade des Grenzübergangs habe – anders als die beiden anderen behandelten Aktionen – nicht, jedenfalls nicht in erster Linie, der Kundgebung einer Meinung oder der Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit für ein kommunikatives Anliegen gedient. Vielmehr habe die Erzwingung des eigenen Vorhabens im Vordergrund der Blockadeaktion gestanden. Art. 8 GG schütze die Teilhabe an der Meinungsbildung, nicht aber die zwangsweise oder sonst wie selbsthilfeähnliche Durchsetzung eigener Forderungen (BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 a. a. O. S. 105).
48
Im Jahr 2011 hat das Bundesverfassungsgericht die Voraussetzungen für die Annahme einer nicht als Versammlung durch Art. 8 GG geschützten Blockade zur selbsthilfeähnlichen Durchsetzung eigener Forderungen präzisiert. Es müsse sich dabei um eine konkrete, vor Ort durchsetzbare Forderung handeln (BVerfG, Kammerbeschluss vom 7. März 2011 – 1 BvR 388/05 – NJW 2011, 3020 Rn. 35).
49
bbb. Die Kriterien, nach denen in Übereinstimmung mit diesen Strängen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das Agieren in einer Personengruppe von dem Versammlungsbegriff des Art. 8 GG ausgenommen werden kann, hat der Verwaltungsgerichtshof in mehrfacher Weise überdehnt.
50
Zunächst und vor allem kann der Versammlungscharakter einer Blockadeaktion, die nicht offensichtlich nur dem Nahziel dient, eine konkrete, vor Ort erfüllbare Forderung durchzusetzen, sondern in deren Verlauf es auch zu in den Rahmen der öffentlichen Meinungsbildung einzuordnenden Bekundungen zu weiteren Zielen kommt, nur dann verneint werden, wenn das kommunikative Anliegen und der Einsatz entsprechender Kommunikationsmittel in handgreiflicher Weise einen bloßen Vorwand darstellen. Der Verwaltungsgerichtshof hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, dass es aus der schließlich eingekesselten Personengruppe heraus öffentliche Meinungsbekundungen in Gestalt von Parolen auf Transparenten (z. B.: „Den nationalistischen Konsens brechen“) und in Sprechchören (z. B.: „AfD-Faschistenpack, wir haben Euch zum Kotzen satt“) gab, mit denen die seitens der Veranstaltungsteilnehmer der AfD zugeschriebene Politik angegriffen wurde. Anhaltspunkte, die dafür sprechen könnten, dass diese politischen Meinungsbekundungen einen bloßen Vorwand zur Kaschierung einer von einer entsprechenden politischen Positionierung gelösten Absicht zur Verhinderung des stattfindenden AfD-Bundesparteitags darstellten, hat der Verwaltungsgerichtshof nicht benannt. Für die von ihm stattdessen aufgestellte – und nicht als erfüllt erachtete – Forderung, die Meinungskundgaben müssten im Vordergrund gestanden haben und es dürfe zu ihnen nicht nur bei Gelegenheit des übrigen Geschehens gekommen sein, gibt es nach dem von dem Bundesverfassungsgericht im Jahr 2001 erstmals benannten und im Jahr 2011 präzisierten Maßstab keine Grundlage.
51
Ferner haben die Kriterien der Art, des Umfangs, der Dauer und der Intensität einer Blockade sowie ihres Zusammenhangs mit dem inhaltlichen Gegenstand der Aktion, auf die der Verwaltungsgerichtshof für die Verneinung des Versammlungscharakters der in Rede stehenden Personengruppe desweiteren abgestellt hat, mit dem bundesrechtlichen Begriff der Versammlung als solchem nichts zu tun. Das Bundesverfassungsgericht hat auf diese Kriterien vielmehr für die Beurteilung der Strafbarkeit von Teilnehmern an als Versammlungen zu beurteilenden Blockaden nach § 240 StGB – konkret für die Prüfung der Verwerflichkeit der jeweiligen Blockadeaktion nach § 240 Abs. 2 StGB – verwiesen.
52
Schließlich kann nach den von dem Bundesverfassungsgericht gebildeten Maßstäben allenfalls eine solche Veranstaltung von dem Versammlungsbegriff ausgenommen werden, die auf die vollständige Verhinderung einer anderen Versammlung abzielt; eine bloße Störung genügt hierfür in keinem Fall. Der Verwaltungsgerichtshof hat demgegenüber bereits in seiner Definition einer Verhinderungsblockade die bloße Störung einer anderen Versammlung deren vollständiger Verhinderung gleichgestellt. Er hat sich sodann, ausgehend von diesem dem revisiblen Recht widersprechenden Ansatz, nicht festgelegt, ob der Zweck der insbesondere in dem Kreisverkehr von Mitgliedern der Personengruppe unternommenen Aktionen in einer Verhinderung des AfD-Bundesparteitags oder nur darin bestand habe, diesen zu stören oder in seiner Durchführung zu erschweren.
53
c. Die Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs, der Auflösungsvorbehalt nach § 15 Abs. 3 VersG habe im vorliegenden Fall keine Sperrwirkung für die Anwendung des allgemeinen Landespolizeirechts geäußert, erweist sich nicht deshalb als im Ergebnis richtig, weil in den Lautsprecherdurchsagen der Polizei, nachdem sie die Versammlung auf der Flughafenstraße am 30. April 2016 um 7.02 Uhr eingekesselt hatte, Verlautbarungen einer erlassenen Verfügung zur Auflösung dieser Versammlung gefunden werden könnten.
54
Der Begriff der Auflösung umschreibt die Beendigung einer bereits durchgeführten Versammlung mit dem Ziel, die Personenansammlung zu zerstreuen. Die Auflösung ist ein Verwaltungsakt. Adressaten sind die Versammlungsteilnehmer. Die Auflösungsverfügung soll ihnen Klarheit darüber verschaffen, dass mit ihrem rechtmäßigen Erlass der Grundrechtsschutz aus Art. 8 GG entfällt. Wegen des Erfordernisses der Erkennbarkeit und Rechtssicherheit muss sie in eindeutiger, Missverständnisse ausschließender Weise formuliert sein (BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2001 – 1 BvR 1190/90 u. a. – BVerfGE 104, 92 <106 f.>, Kammerbeschlüsse vom 26. Oktober 2004 – 1 BvR 1726/01 – NVwZ 2005, 80 <81> und vom 30. April 2007 – 1 BvR 1090/06 – NVwZ 2007, 1180 <1182>).
55
Die Lautsprecherdurchsagen der Polizei richteten sich nach ihrem von dem Verwaltungsgerichtshof festgestellten Wortlaut nicht an alle Teilnehmer der eingekesselten Versammlung, sondern nur an solche, „die den friedlichen Verlauf der Versammlung stören“. Der dergestalt verlautbarten Aussage fehlte es damit – unabhängig von der Frage, ob eine tatsächliche Grundlage für die in ihr angelegte Differenzierung bestand – an dem für die Annahme einer Auflösungsverfügung erforderlichen eindeutigen Bezug auf die Versammlung in ihrer Gesamtheit. Abgesehen hiervon wäre es den Versammlungsteilnehmern, nachdem sie von den vor Ort befindlichen Polizeikräften eingekesselt worden waren, tatsächlich unmöglich gewesen, sich, wozu ihnen eine verfügte Versammlungsauflösung Gelegenheit geben soll (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 30. April 2007 – 1 BvR 1090/06 – NVwZ 2007, 1180 <1182 f.>), von sich aus zu entfernen.
56
d. Die Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs, die Anwendung des Landespolizeirechts sei trotz Fehlens einer auf der Grundlage von § 15 Abs. 3 VersG erlassenen Auflösungsverfügung nicht gesperrt gewesen, ist im Ergebnis deshalb nicht zu beanstanden, weil die Versammlung, die in dem Kreisverkehr begann und sich sodann ohne relevante Zäsur auf der Flughafenstraße fortsetzte, nicht nur zum Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens, sondern bereits von ihrem Beginn an und dann durchgehend die Merkmale einer kollektiven Unfriedlichkeit (aa.) aufwies, so dass sie gemäß Art. 8 Abs. 1 GG – wie auch gemäß Art. 11 Abs. 1 EMRK – dem Schutzbereich des Grundrechts der Versammlungsfreiheit nicht unterfiel. Der einheitliche Charakter des zunächst in dem Kreisverkehr und sodann auf der Flughafenstraße ablaufenden Geschehens und die der Versammlung als ganzer von Beginn an und dann durchgehend anhaftende Unfriedlichkeit ergeben sich aus den tatsächlichen Feststellungen und tatrichterlichen Würdigungen, die der Verwaltungsgerichtshof – wenn auch im Zusammenhang mit seiner revisiblem Recht widersprechenden Annahme einer Verhinderungsblockade – vorgenommen hat (bb). Der Senat ist an diese Feststellungen und Würdigungen des Verwaltungsgerichtshofs gemäß § 137 Abs. 2 VwGO gebunden. Die von dem Kläger erhobenen Verfahrensrügen greifen nicht durch (cc.). Unter Berücksichtigung der ausdrücklichen Entscheidung des Verfassungsgebers, unfriedlichen Versammlungen den Schutz des Grundrechts der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 Abs. 1 GG zu versagen, kommt jedenfalls einer unfriedlichen Versammlung, die – wie im vorliegenden Fall – von Beginn an und dann durchgehend einen unfriedlichen Charakter hat, die mit dem Auflösungsvorbehalt nach § 15 Abs. 3 VersG verbundene verfahrensrechtliche Privilegierung nicht zugute (dd.).
57
aa. Die Maßstäbe, nach denen eine Versammlung als unfriedlich zu charakterisieren ist, sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt. Auszugehen ist davon, dass die Unfriedlichkeit in der Verfassung auf der gleichen Stufe wie das Mitführen von Waffen behandelt wird. Unfriedlich ist eine Versammlung daher erst, wenn Handlungen von einiger Gefährlichkeit wie etwa aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten stattfinden, hingegen nicht schon, wenn es zu Behinderungen Dritter kommt, seien diese auch gewollt und nicht nur in Kauf genommen. Es muss sich zudem um eine kollektive Unfriedlichkeit handeln, das heißt, die Versammlung muss im Ganzen einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nehmen bzw. der Veranstalter oder sein Anhang müssen einen solchen anstreben oder zumindest billigen. Begehen nur einzelne Versammlungsteilnehmer oder eine Minderheit unter ihnen im Verlauf einer Versammlung Ausschreitungen, bleibt der Schutz der Versammlung mit Blick auf die friedlichen Teilnehmer erhalten (BVerfG, Urteil vom 11. November 1986 – 1 BvR 713/83 u. a. – BVerfGE 73, 206 <248>, Beschlüsse vom 14. Mai 1985 – 1 BvR 233/81 u. a. – BVerfGE 69, 315 <360 f.>, vom 1. Dezember 1992 – 1 BvR 88/91 u. a. – BVerfGE 87, 399 <406> und vom 24. Oktober 2001 – 1 BvR 1190/90 u. a. – BVerfGE 104, 92 <106>, Kammerbeschlüsse vom 30. April 2007 – 1 BvR 1090/06 – NVwZ 2007, 1180 <1180 f.> und vom 7. März 2011 – 1 BvR 388/05 – NJW 2011, 3020 Rn. 33). Im Zweifel ist von einer friedlichen Versammlung auszugehen. Nach der maßgeblichen ex-ante-Sicht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Mai 1985 – 1 BvR 233/81 u. a. – BVerfGE 69, 315 <361, 365>, Kammerbeschluss vom 2. November 2016 – 1 BvR 289/15 – NVwZ 2017, 555 Rn. 13) setzt die Annahme eines unfriedlichen Verlaufs einer Versammlung nicht voraus, dass es schon zu Gewalttätigkeiten in dem genannten Sinne gekommen ist. Es reicht vielmehr aus, wenn diese nach einer auf belastbare Feststellungen gestützten Prognose unmittelbar bevorstehen (vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ganz herrschende Ansicht, vgl. etwa: Ernst, in: v. Münch/Kunig/Kämmerer/Kotzur <Hrsg.>, GG, Bd. 1, 7. Aufl. 2021, Art. 8 Rn. 57; Höfling, in: Sachs <Hrsg.>, GG, 9. Aufl. 2021, Art. 8 Rn. 35; Kniesel/Poscher, in: Bäcker/Denninger/Graulich <Hrsg.>, Handbuch des Polizeirechts, 7. Aufl. 2021, Teil J Rn. 71).
58
bb. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs waren laut den von der Polizei im Vorfeld des AfD-Bundesparteitags gewonnenen Erkenntnissen 850 bis 1 000 gewaltbereite Personen aus dem linksautonomen Spektrum zu erwarten. Diese würden darauf ausgehen, Zufahrtswege zur Messe als dem Veranstaltungsort des AfD-Bundesparteitags zu blockieren, Infrastruktur an der Messe zu zerstören und durch das Inbrandsetzen von Kraftfahrzeugen und Ladengeschäften ähnlich schwere Ausschreitungen zu begehen, wie sie im Jahr 2015 anlässlich der Eröffnung der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main stattgefunden hatten. In erkennbar planmäßiger Umsetzung dieser im Vorfeld ermittelten Intentionen sammelten sich am 30. April 2016 450 bis 500 teilweise vermummte, fast ausschließlich schwarz oder mit weißen Einmalanzügen bekleidete Personen, die ab 6.35 Uhr in rascher Folge mit 13 Reisebussen eingetroffen waren. Sofort nach ihrer Ankunft in dem Kreisverkehr zündeten sie dort wiederholt Pyrotechnik und blockierten die Ausfahrten mit Barrikaden, die sie mit herbeigeholtem Baustellenmaterial errichteten. Es gab keine Absetzbewegungen aus der Personengruppe. Diese verließ, als Einsatzfahrzeuge der Polizei eintrafen, um 6.56 Uhr den Kreisverkehr und kam um 6.59 Uhr auf der angrenzenden Flughafenstraße – in nahezu identischer Zusammensetzung wie zuvor in dem Kreisverkehr und in großen Teilen weiterhin vermummt – zum Stehen. Dabei wurde eine Kreuzung blockiert. Den sich nähernden Polizeikräften wurde eine Rauchbombe entgegengeworfen, bevor die Gruppe um 7.02 Uhr von den anwesenden Polizeikräften eingekesselt wurde.
59
Auf Grund dieser Tatsachenfeststellungen hat der Verwaltungsgerichtshof in tatsächlicher Hinsicht darauf geschlossen, dass es sich bei den Ereignissen von der Ankunft der Reisebusse an dem Kreisverkehr um 6.35 Uhr bis zu der Einschließung der Personengruppe auf der Flughafenstraße um 7.02 Uhr um ein einheitliches Geschehen handelte, welches sich ununterbrochen innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums auf eng begrenztem Raum ereignete, keine erheblichen qualitativen Veränderungen aufwies und von derselben Zielrichtung getragen wurde. Der Verwaltungsgerichtshof hat auf Grund der von ihm festgestellten Tatsachenbasis weiterhin den Schluss gezogen, dass es sich bei den Personen, die in dem Kreisverkehr zusammengekommen waren und sich sodann in nahezu identischer Zusammensetzung auf die Flughafenstraße begeben hatten, um eine homogene Gruppe handelte, deren unfriedliches Verhalten koordiniert und zielgerichtet und ersichtlich von der Solidarität der Mehrheit der Versammlungsteilnehmer getragen war.
60
cc. Der Kläger kann mit den Rügen der Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht aus § 86 Abs. 1 VwGO (aaa.) und der Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes aus § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO (bbb.), die er sinngemäß gegen die tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs und dessen tatrichterlichen Würdigungen des Sachverhalts erhebt, nicht durchdringen.
61
aaa. Der Kläger vermisst hinreichende Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichtshofs zur Geeignetheit der in dem Kreisverkehr errichteten Barrikaden für eine grobe Störung oder Verhinderung des AfD-Bundesparteitags sowie zur Einordnung des Barrikadenbaus als homogenes Gruppenverhalten.
62
Aus dieser Rüge ergibt sich eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht aus § 86 Abs. 1 VwGO schon deshalb nicht, weil der Kläger nicht darlegt, welche geeigneten und erforderlichen Aufklärungsmaßnahmen in Betracht gekommen wären, welche tatsächlichen Feststellungen voraussichtlich getroffen worden wären und welche Relevanz diesen Feststellungen für das Ergebnis der vorinstanzlichen Entscheidung hätte zukommen können. Zudem hat der Verwaltungsgerichtshof ausweislich des Protokolls über die mündliche Verhandlung durch Inaugenscheinnahme der polizeilichen Videoaufzeichnungen über die Ereignisse in dem Kreisverkehr und auf der Flughafenstraße am 30. April 2016 in der Zeit von 6.30 Uhr bis 8.00 Uhr sowie durch die Vernehmung von drei Polizeibeamten als Zeugen Beweis erhoben. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat nicht durch die Stellung von Beweisanträgen auf eine weitere Beweiserhebung hingewirkt. Dafür, dass eine solche sich dem Verwaltungsgerichtshof von sich aus hätte aufdrängen müssen, trägt der Kläger nichts vor (vgl. zu den Anforderungen an die Begründung einer Aufklärungsrüge: BVerwG, Urteil vom 31. Mai 2017 – 6 C 42.16 – BVerwGE 159, 64 Rn. 31).
63
bbb. Der Kläger meint ferner, der Verwaltungsgerichtshof habe in willkürlicher Weise nicht berücksichtigt, dass die Polizei mit der Unterscheidung von friedlichen und unfriedlichen Versammlungsteilnehmern in den Lautsprecherdurchsagen, die sie an die auf der Flughafenstraße eingekesselten Personen gerichtet habe, selbst vom Bestehen einer geschützten Versammlung ausgegangen sei. Mit dieser Rüge übersieht der Kläger, dass die Rechtsauffassung der vor Ort eingesetzten Polizeikräfte die rechtliche Beurteilung des polizeilichen Einschreitens durch das später entscheidende Gericht in keiner Weise bindet. Ebenso wenig verlässt der Tatrichter durch ihre Außerachtlassung den Wertungsrahmen, der ihm durch § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO für die Würdigung des Sachverhalts eingeräumt wird.
64
dd. Wie dargelegt, ist die versammlungsgesetzliche Sperrwirkung gegenüber einer Anwendung des Landespolizeirechts nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG angelegt. Es ist eine Folge dieser verfassungsrechtlichen Wurzel der Sperrwirkung, dass die in Art. 8 Abs. 1 GG enthaltene Entscheidung des Verfassungsgesetzgebers, unfriedliche Versammlungen von dem Schutzbereich der grundgesetzlich garantierten Versammlungsfreiheit auszunehmen, bei der Auslegung der Reichweite der durch den Auflösungsvorbehalt des § 15 Abs. 3 VersG bewirkten Sperre einer Anwendung des Landespolizeirechts ihren Niederschlag finden muss. Dementsprechend hat das Bundesverfassungsgericht, wie bereits erwähnt, etwa einen auf allgemeines Polizeirecht gegründeten Platzverweis – nur – für ausgeschlossen erachtet, solange sich eine Person in einer Versammlung befinde und sich auf die Versammlungsfreiheit berufen könne (BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. Oktober 2004 – 1 BvR 1726/01 – NVwZ 2005, 80 <81>). Letzteres ist im Rahmen einer unfriedlichen Versammlung grundsätzlich nicht der Fall.
65
Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht zugleich auf die Funktion einer Auflösungsverfügung als eine für den Schutz des Grundrechts aus Art. 8 GG wesentliche Förmlichkeit verwiesen. Es handele sich um eine Anforderung im Sinne der Erkennbarkeit und Rechtssicherheit, deren Beachtung für die Möglichkeit einer Nutzung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit wesentlich sei. In Versammlungen entstünden häufig Situationen rechtlicher und tatsächlicher Unklarheit. Könnten Versammlungsteilnehmer nicht wissen, ab wann der Schutz der Versammlungsfreiheit ende und dürften sie gleichwohl wegen eines ihrer Ansicht nach von der Versammlungsfreiheit geschützten Verhaltens negativ sanktioniert werden, könne diese Unsicherheit sie einschüchtern und von der Ausübung des Grundrechts abhalten (BVerfG, Kammerbeschluss vom 30. April 2007 – 1 BvR 1090/06 – NVwZ 2007, 1180 <1182>).
66
Die Rechtssicherheit gewährleistende Funktion der versammlungsgesetzlichen Auflösungsverfügung mag zwar den Erlass einer solchen vor einer Anwendung des Landespolizeirechts über den Kreis der durch Art. 8 GG geschützten, von Anfang an friedlichen oder jedenfalls später friedlich gewordenen Versammlungen hinaus auch in Fallgestaltungen gebieten, in denen eine anfänglich friedliche Versammlung in ihrem weiteren Verlauf objektiv einen unfriedlichen Charakter bekommt. Denn ein solcher Wechsel wird für die einzelnen Versammlungsteilnehmer oftmals nicht oder nur mit einer zeitlichen Verzögerung erkennbar sein. Hingegen kommt die besagte Funktion jedenfalls in Bezug auf eine unfriedliche Versammlung, die von ihrem Beginn an und dann durchgehend bis zum Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens einen unfriedlichen Charakter hat, nicht zum Tragen. Wird eine Versammlung – wie im vorliegenden Fall – von Anfang an und sodann unverändert durch kollektive und aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen oder sonstige Gewalttätigkeiten geprägt, kann das keinem Versammlungsteilnehmer – auch nicht einem solchen, der sich als Einzelner an diesen Ausschreitungen oder Gewalttätigkeiten nicht beteiligt – verborgen bleiben. In einer solchen Konstellation ist die Polizei zwar nicht gehindert, vor der Anwendung des Landespolizeirechts eine versammlungsrechtliche Auflösungsverfügung zu erlassen, es bedarf ihrer jedoch nicht zwingend.
67
Die verfassungsrechtliche Verankerung der versammlungsgesetzlichen Sperrwirkung in Art. 8 GG bestimmt zugleich die Reichweite des in § 15 Abs. 3 VersG zum Ausdruck kommenden Auflösungsvorbehalts. Demzufolge besteht – im Gleichklang mit dem auf friedliche Versammlungen beschränkten Schutzbereich des Versammlungsgrundrechts – bei von Beginn an durchgehend unfriedlichen Versammlungen kein Vorrang dieser Vorschrift als lex specialis gegenüber dem Landespolizeirecht. Denn mit Blick auf den Zweck des Auflösungsvorbehalts, Rechtssicherheit für Versammlungsteilnehmer in diffusen Übergangssituationen von friedlichen zu unfriedlichen Versammlungen zu gewährleisten, kann dem Gesetzgeber ohne dahingehende Anhaltspunkte nicht unterstellt werden, er habe darauf bestanden, dass die Polizei eine – wie im vorliegenden Fall – von Beginn an kollektiv unfriedliche Versammlung vor der Anwendung polizeilicher Befugnisnormen erst noch aufzulösen hat.
68
e. Die Anwendung des versammlungsgesetzlich nicht gesperrten Landespolizeirechts durch den Verwaltungsgerichtshof steht insoweit nicht im Einklang mit Bundesrecht, als der Verwaltungsgerichtshof den Anforderungen, die sich für die richterliche Sachverhaltsaufklärung aus dem Grundrecht der Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 104 Abs. 1 und 2 GG vor allem mit Blick auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit von Eingriffen in dieses Grundrecht ergeben (aa.), für einen Teil der freiheitsentziehenden Maßnahmen, denen der Kläger am 30. April 2016 unterzogen wurde, bei der Anwendung der landesrechtlichen Befugnisnormen nicht gerecht geworden ist. Dies gilt zum einen für die mit dem Klageantrag zu 3 angegriffene Fesselung des Klägers, was die Zeit von seiner Ankunft in bzw. vor der Messehalle 9 bis zur Abnahme der Fesseln im Anschluss an seine Identitätsfeststellung und erkennungsdienstliche Behandlung um 13.30 Uhr anbelangt (bb.). Betroffen ist zum anderen die in der Sachbehandlung des Verwaltungsgerichtshofs insgesamt dem Klageantrag zu 9 zugeordnete Fortsetzung des polizeilichen Gewahrsams des Klägers nach der Erteilung des Platzverweises um 17.54 Uhr mitsamt der durch die Absetzung des Klägers am Bahnhof in Esslingen verbundenen zusätzlichen Belastung (cc.).
69
aa. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die freiheitssichernde Funktion des Grundrechts der Freiheit der Person, das nach Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 GG nur aus besonders gewichtigen Gründen und unter strengen formellen Gewährleistungen eingeschränkt werden darf und nach Art. 104 Abs. 2 GG für eine über eine Freiheitsbeschränkung hinausgehende Freiheitsentziehung einem Richtervorbehalt unterliegt, im Verfahrensrecht allgemein zu beachten. Es ist hiernach unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 8. Oktober 1985 – 2 BvR 1150/80 u. a. – BVerfGE 70, 297 <308> und vom 15. Mai 2002 – 2 BvR 2292/00 – BVerfGE 105, 239 <250>, Kammerbeschluss vom 23. März 1998 – 2 BvR 2270/96 – NJW 1998, 1774 <1775>). Angesichts des hohen Ranges des Freiheitsgrundrechts gilt dies in gleichem Maße, wenn die nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme in Rede steht (BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 13. Dezember 2005 – 2 BvR 447/05 – NVwZ 2006, 579 Rn. 40 und vom 2. November 2016 – 1 BvR 289/15 – NVwZ 2017, 555 Rn. 25). Es ist zwar im Ausgangspunkt zutreffend, dass Masseningewahrsamnahmen im Rahmen von Großdemonstrationen eine spezifische Problematik aufweisen, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die personelle und sachliche Ausstattung von Behörden und Gerichten begrenzt und das Ausmaß des notwendigen außergewöhnlichen Einsatzes nur beschränkt planbar ist und es demzufolge zu Schwierigkeiten bei der praktischen Durchführung der Ingewahrsamnahmen kommen kann. Diese allgemeine Erkenntnis ersetzt jedoch nicht die gerichtliche Aufklärung des konkret in Rede stehenden Sachverhalts (BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 13. Dezember 2005 – 2 BvR 447/05 – NVwZ 2006, 579 Rn. 44 und vom 12. Juni 2006 – 2 BvR 1395/05 – juris Rn. 40).
70
bb. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Fesselung des Klägers – mittels Einwegschließen mit den Händen auf dem Rücken – in der Zeit von der Herauslösung des Klägers aus der eingekesselten Versammlung um 8.10 Uhr bis zum Abschluss seiner Identitätsfeststellung und erkennungsdienstlichen Behandlung um 13.30 Uhr am 30. April 2016 als Anwendung unmittelbaren Zwangs im Sinne von § 52 Abs. 1 PolG BW a. F. als gerechtfertigt angesehen.
71
Nach dem von dem Verwaltungsgerichtshof festgestellten, gewürdigten und von dem Kläger nicht mit Verfahrensrügen im Sinne des § 137 Abs. 2 VwGO angegriffenen Sachverhalt gingen die eingesetzten Polizeikräfte auf Grund des aggressiven Vorverhaltens der eingekesselten Versammlungsteilnehmer nachvollziehbar davon aus, dass während des Bustransports von der Flughafenstraße zur Messehalle 9 mit Störungen gerechnet werden musste. Die Busse seien von lediglich fünf Polizeibeamten begleitet worden, die angesichts der räumlichen Enge in den Bussen nur eingeschränkt handlungsfähig gewesen seien und etwa eine Entglasung der Busfenster nicht wirksam hätten verhindern können. Dem habe nur durch eine Fesselung der in Gewahrsam genommenen Personen Rechnung getragen werden können. Es habe keine ins Auge springenden Hinweise darauf gegeben, dass ein aggressives Verhalten speziell des Klägers sicher auszuschließen gewesen sei.
72
Diese Ausführungen sind aus bundesrechtlicher Sicht als solche nicht zu beanstanden. Sie sind allerdings lediglich geeignet, die Verhältnismäßigkeit der Fesselung des Klägers in der Zeit von 8.10 Uhr bis zu seiner Ankunft in bzw. vor der Messehalle 9 zu begründen. Der Verwaltungsgerichtshof hat indes bereits den Zeitpunkt dieser Ankunft nicht festgestellt. Überdies und vor allem fehlt es für den sich daran anschließenden Zeitraum bis zum Abschluss der um 13.30 Uhr durchgeführten Identitätsfeststellung und erkennungsdienstlichen Behandlung des Klägers an jeglichen tatrichterlichen Feststellungen über die in bzw. vor der Messehalle 9 bestehende Situation, insbesondere in Gestalt von Gesichtspunkten, die für eine Aufrechterhaltung der Fesselung des Klägers sprechen konnten. Die Erforderlichkeit solcher Feststellungen musste sich dem Verwaltungsgerichtshof insbesondere deshalb aufdrängen, weil sich der mit der Fesselung des Klägers verbundene, schon für sich genommen äußerst schwerwiegende Grundrechtseingriff mit zunehmender Dauer noch intensivierte.
73
cc. Die Rechtsgrundlage für die Fortsetzung des polizeilichen Gewahrsams des Klägers am 30. April 2016 nach der Erteilung des Platzverweises um 17.54 Uhr hat der Verwaltungsgerichtshof in § 28 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW a. F. gefunden. Nach dieser Vorschrift kann die Polizei eine Person in Gewahrsam nehmen, wenn auf andere Weise eine unmittelbar bevorstehende erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung nicht verhindert oder eine bereits eingetretene Störung nicht beseitigt werden kann. Für die mit der Absetzung des Klägers am Bahnhof in Esslingen verbundene zusätzliche Belastung hat der Verwaltungsgerichtshof auf die polizeiliche Generalklausel aus § 3 in Verbindung mit § 1 Abs. 1 Satz 1 PolG BW a. F. abgestellt.
74
In tatsächlicher Hinsicht hat der Verwaltungsgerichtshof in der erstgenannten Hinsicht festgestellt, die Voraussetzungen für die Fortsetzung des bereits um 7.02 Uhr begründeten – im Folgenden im Zusammenhang mit den Klageanträgen zu 1 und zu 2 näher zu untersuchenden – Gewahrsams hätten bis zur Gewahrsamsentlassung des Klägers am Bahnhof in Esslingen weiterhin vorgelegen und die Entziehung der Bewegungsfreiheit des Klägers auch noch während des Bustransports von der Messehalle 9 nach Esslingen gerechtfertigt. Mit diesen Feststellungen hat der Verwaltungsgerichtshof nicht annähernd den Anforderungen an die richterliche Sachverhaltsaufklärung genügt, die sich aus Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 und 2 GG mit Blick auf die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der mit dem fortgesetzten polizeilichen Gewahrsam des Klägers verbundenen Freiheitsentziehung ergeben.
75
Erstens steht die Feststellung des Verwaltungsgerichtshofs, der Kläger sei erst am Bahnhof in Esslingen aus dem um 7.02 Uhr begründeten polizeilichen Gewahrsam entlassen worden, in Widerspruch zu der im Zusammenhang mit den – im Folgenden zu erörternden – Klageanträgen zu 2 und zu 8 getroffenen, ihrerseits mit dem Inhalt des Verwaltungsvorgangs übereinstimmenden Feststellung, die Gewahrsamsentlassung des Klägers habe bereits um 17.54 Uhr in der Messehalle 9 mit der Erteilung des Platzverweises stattgefunden.
76
Zweitens hat der Verwaltungsgerichtshof nicht festgestellt, wann der Kläger nach Esslingen transportiert wurde und wann er – so jedenfalls eine der von dem Verwaltungsgerichtshof getroffenen Feststellungen – an dem dortigen Bahnhof aus dem Gewahrsam entlassen worden sein soll. Die Beteiligten haben angegeben, die Entlassung habe gegen 19.50 Uhr stattgefunden.
77
Drittens steht die Feststellung des Verwaltungsgerichtshofs, die Voraussetzungen für den polizeilichen Gewahrsam nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW a. F. hätten noch während des Bustransports des Klägers von der Messehalle 9 zu dem Bahnhof in Esslingen – also jedenfalls nach 17.54 Uhr – unverändert fortbestanden, in Widerspruch zu der zuvor im Zusammenhang mit den Klageanträgen zu 2 und zu 8 getroffenen Feststellung, dass sich die Lage bereits am späten Nachmittag – nach dem Verständnis des Verwaltungsgerichtshofs um 17.54 Uhr – beruhigt gehabt habe.
78
Viertens fehlt es an jeglichen Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs dazu, wie der polizeiliche Gewahrsam des Klägers – eine Entlassung erst am Bahnhof in Esslingen vorausgesetzt – in der Zeit nach 17.54 Uhr ausgestaltet war, insbesondere wo genau der Kläger festgehalten wurde. Der Kläger hat in der ersten Instanz vorgetragen, bis 19.40 Uhr in einer Gefangenenbuseinzelzelle eingeschlossen gewesen zu sein.
79
Fünftens gibt es keine Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs dazu, weshalb der Bus, der den Kläger zum Bahnhof in Esslingen verbrachte, die Fahrt – eine Gewahrsamsentlassung des Klägers erst in Esslingen vorausgesetzt – nicht bereits um 17.54 Uhr, sondern, ausgehend von den Angaben der Beteiligten über den Zeitpunkt der Gewahrsamsentlassung, erst knapp zwei Stunden später begann.
80
Die von dem Verwaltungsgerichtshof in Anwendung des Landesrechts gefundene Rechtfertigung der mit der Absetzung des Klägers am Bahnhof in Esslingen verbundenen zusätzlichen Belastung kann aus der Sicht des Bundesrechts schon deshalb keinen Bestand haben, weil sie an die Billigung des nach 17.54 Uhr fortgesetzten polizeilichen Gewahrsams des Klägers durch den Verwaltungsgerichtshof anknüpft, die bundesrechtlichen Maßgaben, wie dargelegt, nicht genügt.
81
f. Hinsichtlich der übrigen Maßnahmen, denen der Kläger am 30. April 2016 auf der Grundlage des Landespolizeirechts unterworfen wurde, ist die Anwendung des irrevisiblen Rechts durch den Verwaltungsgerichtshof auf der Grundlage des von ihm festgestellten und gewürdigten Sachverhalts sowie unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Kläger keine die Bindung des Senats nach § 137 Abs. 2 VwGO ausschließenden Verfahrensrügen erhoben hat, nach bundesrechtlichen Maßgaben nicht zu beanstanden. Hierbei handelt es sich um die mit dem Klageantrag zu 1 angegriffene Einkesselung der Versammlung auf der Flughafenstraße um 7.02 Uhr (aa.), den von dem Verwaltungsgerichtshof dem Klageantrag zu 2 zugeordneten polizeilichen Gewahrsam des Klägers von seiner Herauslösung aus der eingekesselten Versammlung um 8.10 Uhr bis zur Erteilung des Platzverweises um 17.54 Uhr (bb.), den von dem Klageantrag zu 4 umfassten Bustransport des Klägers von der Flughafenstraße zur Messehalle 9 (cc.), die Feststellung der Identität des Klägers als Gegenstand des ersten Teils des Klageantrags zu 7 (dd.) sowie den um 17.54 Uhr erteilten Platzverweis des Klägers, den dieser mit dem Klageantrag zu 8 zur gerichtlichen Prüfung gestellt hat (ee.).
82
aa. Die mit dem Klageantrag zu 1 angegriffene polizeiliche Einkesselung der Versammlung auf der Flughafenstraße um 7.02 Uhr hat der Verwaltungsgerichtshof als nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW a. F. gerechtfertigte Ingewahrsamnahme der anwesenden Personen und damit auch des Klägers qualifiziert.
83
Er hat festgestellt, im Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens seien in Gestalt der Blockaden des Verkehrs in dem Kreisverkehr und auf der Flughafenstraße, von Sachbeschädigungen an Baustelleneinrichtungen und des Abbrennens von Pyrotechnik bereits erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit im Sinne der Vorschrift eingetreten gewesen. Weitere Gewalttätigkeiten und Störungen mit Bezug auf den AfD-Bundesparteitag und seine Teilnehmer hätten – insbesondere nach einer drohenden Vereinigung der dann eingekesselten Personen mit anderen Störergruppen – nach der nicht zu beanstandenden Annahme der Polizei unmittelbar bevorgestanden. Eine Verwirklichung der Straftatbestände des § 21 VersG und der §§ 240 Abs. 1, 224 und 125 Abs. 1 StGB habe im Raum gestanden. Der Kläger habe jedenfalls in zurechenbarer Weise den Anschein erweckt, Verhaltensstörer im Sinne des § 6 PolG BW a. F. zu sein. Dies sei durch seine Anwesenheit in der Personengruppe auf der Flughafenstraße und durch sein Auftreten geschehen, welches ihn jedenfalls nicht offensichtlich von den übrigen in polizeilichen Gewahrsam genommenen Personen unterschieden habe. Der Schluss, der Kläger könne versehentlich in die eingekesselte Personengruppe geraten sein, habe sich den eingesetzten Polizeikräften nicht aufdrängen müssen. Die Ingewahrsamnahme sei erforderlich gewesen, weil mildere Mittel zur Gefahrenabwehr nicht existiert hätten. Sie habe angesichts des Ausmaßes der bereits eingetretenen Störungen und der zu erwartenden Gefährdungen von gewichtigen Rechtsgütern auch die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne gewahrt.
84
Diese Erwägungen lassen Verletzungen von Bundesrecht, insbesondere der in Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 Abs. 1 und 2 GG wurzelnden Anforderungen an die richterliche Sachverhaltsaufklärung als Grundlage der von dem Verwaltungsgerichtshof angestellten Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht erkennen.
85
bb. Der Verwaltungsgerichtshof hat die von ihm dem Klageantrag zu 2 zugeordnete Aufrechterhaltung des polizeilichen Gewahrsams des Klägers in der Zeit von seiner Herauslösung aus der eingekesselten Versammlung um 8.10 Uhr bis zur Erteilung des Platzverweises um 17.54 Uhr auf der Grundlage von § 28 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW a. F. als rechtmäßig erachtet.
86
Die im Rahmen des Klageantrags zu 1 für den frühen Morgen bejahte Gefahrenlage habe fortbestanden und sich erst am späten Nachmittag beruhigt. Der unverzüglichen Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung über den polizeilichen Gewahrsam des Klägers im Sinne von § 28 Abs. 3 Satz 3 PolG BW a. F. habe es nach § 28 Abs. 3 Satz 4 PolG BW a. F. nicht bedurft, weil anzunehmen gewesen sei, dass die Entscheidung erst nach dem Wegfall des Grundes des Gewahrsams ergehen werde. Die Polizei habe um 13.26 Uhr die Kenntnis erlangt, dass sich die Anhörungen der in Gewahrsam genommenen Personen durch die vor Ort anwesenden vier Richter des Amtsgerichts Nürtingen erheblich verzögern würden. Die richterliche Personalstärke sei auf die von der Polizei im Vorfeld erwarteten höchstens 250 bis 300 Ingewahrsamnahmen ausgelegt gewesen, tatsächlich seien aber 589 Personen in Gewahrsam genommen worden. Vor diesem Hintergrund habe die Polizei die nicht zu beanstandende Prognose getroffen, dass über den Gewahrsam des Klägers eine richterliche Entscheidung nicht würde herbeigeführt werden können, „bevor ab 16.40 Uhr mit den ersten Entlassungen aus dem Gewahrsam begonnen wurde und der Kläger um 17.54 Uhr die Gefangenensammelstelle in der Halle 9 verließ.“ Es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass das Amtsgericht Nürtingen seiner Verpflichtung zu hinreichenden personellen Vorkehrungen deshalb nicht gerecht geworden sei, weil der Einsatz von vier Richtern zu gering bemessen gewesen sei, um bei den polizeilich prognostizierten 250 bis 300 Ingewahrsamnahmen eine unverzügliche richterliche Entscheidung sicherzustellen. Die Annahme, dass bei einer nachträglichen deutlichen Erhöhung der Personalstärke eine Entscheidung über den Gewahrsam von 589 Personen noch vor dem späten Nachmittag hätte herbeigeführt werden können, liege fern.
87
Der Senat vermag in diesen Erwägungen, die der Kläger nicht angegriffen hat, eine Verletzung von Bundesrecht letztlich nicht zu erkennen. Dies gilt auch für die Berücksichtigung der aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG und Art. 104 Abs. 1 und 2 GG ableitbaren Anforderungen an die richterliche Sachverhaltsaufklärung im Hinblick auf die Frage, ob innerhalb der von dem Verwaltungsgerichtshof dem Klageantrag zu 2 zugeordneten Dauer des polizeilichen Gewahrsams des Klägers bis 17.54 Uhr eine unverzügliche richterliche Entscheidung durch organisatorische Vorkehrungen des Amtsgerichts Nürtingen im Hinblick auf die Zahl der vor Ort befindlichen Richter oder des Beklagten in Bezug auf die Stärke der eingesetzten Polizeikräfte hätte sichergestellt werden können (vgl. zu der aus Art. 104 Abs. 2 GG folgenden staatlichen Verpflichtung zu derartigen Vorkehrungen: BVerfG, Beschluss vom 15. Mai 2002 – 2 BvR 2292/00 – BVerfGE 105, 239 <249, 251>, Kammerbeschlüsse vom 13. Dezember 2005 – 2 BvR 447/05 – NVwZ 2006, 579 Rn. 36, 44 und vom 12. Juni 2006 – 2 BvR 1395/05 – juris Rn. 40). Die Erwägungen des Verwaltungsgerichtshofs zur Organisation der Richterpräsenz sind knapp, aber noch angemessen. Im Ergebnis nicht zu beanstanden ist es auch, dass der Verwaltungsgerichtshof nicht explizit erörtert hat, ob bei einer höheren Zahl eingesetzter Polizeikräfte eine schnellere Vorbereitung und Abwicklung der Vorführung der in Gewahrsam genommenen Personen vor die zur Entscheidung berufenen Richter erreichbar gewesen wäre. In den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils wird mehrfach hervorgehoben, dass die dem Beklagten zur Verfügung stehenden Polizeikräfte nicht nur durch die hier in Rede stehende unfriedliche Versammlung, sondern gleichzeitig durch mehrere andere gegen den AfD-Bundesparteitag gerichtete Aktionen in Anspruch genommen waren. Der Senat erachtet diese Verweise als hinreichend.
88
cc. Die Beurteilung des Verwaltungsgerichtshofs, dass mit dem von dem Klageantrag zu 4 umfassten Transport des Klägers gefesselt und stehend in einem Bus von der Flughafenstraße zu der 600 Meter entfernten Messehalle 9 kein Eingriff in die Menschenwürde des Klägers nach Art. 1 Abs. 1 GG oder in sein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verbunden war, ist nicht zu beanstanden. Der Verwaltungsgerichtshof hat festgestellt, der Bus sei besonders vorsichtig und den Umständen angepasst gefahren worden.
89
dd. Die Identitätsfeststellung des Klägers, auf die sich der erste Teil des Klageantrags zu 7 bezieht, wird nach der Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs durch § 26 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW a. F. getragen, der es der Polizei erlaubt, die Identität einer Person festzustellen, um im einzelnen Falle eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren oder eine Störung der Öffentlichen Sicherheit oder Ordnung zu beseitigen. Diese Voraussetzungen hat der Verwaltungsgerichtshof aus den für die Rechtmäßigkeit der Ingewahrsamnahme des Klägers genannten Gründen für gegeben erachtet. Hiergegen ist nach Maßgabe des Bundesrechts nichts zu erinnern.
90
ee. Der den Gegenstand des Klageantrags zu 8 bildende Platzverweis, der dem Kläger durch die eingesetzten Polizeikräfte am 30. April 2016 um 17.54 Uhr bis um 20.00 Uhr am Folgetag erteilt wurde, konnte nach der Beurteilung des Verwaltungsgerichtshofs auf § 27a Abs. 1 PolG BW a. F. gestützt werden, wonach die Polizei zur Abwehr einer Gefahr oder zur Beseitigung einer Störung eine Person vorübergehend von einem Ort verweisen oder ihr vorübergehend das Betreten eines Ortes verbieten kann. Die Polizei habe vor dem Hintergrund der bereits eingetretenen Störungen von weiteren Angriffen im Zusammenhang mit dem bis zum 1. Mai 2016 andauernden AfD-Bundesparteitag ausgehen dürfen. Die zwischenzeitlich eingetretene Beruhigung der Lage habe der Beklagte nachvollziehbar auf die zahlreichen Ingewahrsamnahmen zurückgeführt. Der Kläger habe weiterhin in verhältnismäßiger Weise jedenfalls als Anscheinsstörer in Anspruch genommen werden dürfen. In diesen Erwägungen kann eine Verletzung von Bundesrecht nicht gefunden werden.
91
g. Auf strafprozessuale Grundlagen hat der Verwaltungsgerichtshof mit § 163b Abs. 1 StPO für die Identitätsfeststellung des Klägers, gegen die sich der erste Teil des Klageantrags zu 7 richtet, und in Gestalt von § 81b Alt. 1 StPO für die mit dem zweiten Teil des Klageantrags zu 7 angegriffene erkennungsdienstliche Behandlung des Klägers abgestellt. Auf die Tragfähigkeit des § 163b Abs. 1 StPO für die Identitätsfeststellung des Klägers kommt es allerdings nicht an, weil diese Maßnahme, wie dargelegt, von den eingesetzten Polizeikräften ohne Verstoß gegen Bundesrecht nach dem Landespolizeirecht auf der Grundlage von § 26 Abs. 1 Nr. 1 PolG BW a. F. vorgenommen werden konnte.
92
Die Anwendung der bundesrechtlichen Vorschrift des § 81b Alt. 1 StPO durch den Verwaltungsgerichtshof ist insoweit zu beanstanden, als dieser angenommen hat, ihr Eingreifen könne grundsätzlich durch den Auflösungsvorbehalt des § 15 Abs. 3 VersG entsprechend dem Verhältnis dieses Vorbehalts zum Landespolizeirecht gesperrt sein. Für das Bestehen einer solchen Sperrwirkung gibt es jedoch in Bezug auf die strafprozessuale Grundlage für erkennungsdienstliche Behandlungen zum Zweck der Durchführung von Strafverfahren schon vom Ansatz her keinen Anhaltspunkt. Das Vorgehen nach § 81b Alt. 1 StPO gegenüber den Teilnehmern einer Versammlung ist gegebenenfalls, sofern es sich um eine dem Schutzbereich des Art. 8 GG unterfallende Versammlung handelt, unmittelbar an dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit zu messen (vgl. in Bezug auf § 163b und § 163c StPO: BVerfG, Kammerbeschluss vom 2. November 2016 – 1 BvR 289/15 – NVwZ 2017, 555 Rn. 13 ff.).
93
Das Berufungsurteil erweist sich allerdings auch in Bezug auf die auf § 81b Alt. 1 StPO gestützte erkennungsdienstliche Behandlung des Klägers als im Ergebnis richtig. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Anwendbarkeit der Vorschrift auf die gleiche Weise wie diejenige des Landespolizeirechts bejaht. Er hat zudem die Voraussetzungen der unter anderem die erforderliche Aufnahme von Lichtbildern eines Beschuldigten für die Zwecke der Durchführung eines Strafverfahrens auch gegen den Willen des Beschuldigten gestattenden Norm zutreffend unter Verweis auf das gegen den Kläger am 30. April 2016 eingeleitete Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruchs nach § 125 StGB als erfüllt angesehen. Die Frage einer Vereinbarkeit dieser Rechtsanwendung mit dem Grundrecht der Versammlungsfreiheit stellt sich nicht, da die Versammlung wegen ihrer von Beginn an und dann durchgehend bestehenden Unfriedlichkeit keinen Grundrechtsschutz genoss.
94
3. Die Kostenentscheidung ist der Schlussentscheidung vorzubehalten.
Sonstiger Langtext
Berichtigungsbeschluss vom 28. Mai 2024
Das Urteil enthält in den Gründen eine offenbare Unrichtigkeit im Sinne von § 118 Abs. 1 VwGO. In den Randnummern 22 und 23 muss es statt „allgemeine Handlungsfähigkeit“ richtigerweise „allgemeine Handlungsfreiheit“ heißen. Der Fehler ist gemäß § 118 Abs. 2 Satz 1 VwGO im Beschlusswege zu berichtigen.