BSG 2. Senat, Beschluss vom 26.05.2020, AZ B 2 U 25/20 B, ECLI:DE:BSG:2020:260520BB2U2520B0
§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG, § 153 Abs 4 S 2 SGG, Art 103 Abs 1 GG
Verfahrensgang
vorgehend SG Würzburg, 30. Juli 2019, Az: S 5 U 279/18
vorgehend Bayerisches Landessozialgericht, 7. Januar 2020, Az: L 17 U 269/19, Beschluss
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. Januar 2020 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger Verletztenrente nach einer höheren MdE als 20 vH gewähren muss.
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Am 11.4.2011 stürzte der Kläger und brach sich das linke Fersenbein. Die Beklagte gewährte ihm ab dem 8.11.2011 Rente als vorläufige Entschädigung nach einer MdE von 30 vH und ab dem 11.4.2012 nach einer MdE von 20 vH
(Bescheid vom 10.9.2013) sowie anschließend Rente auf unbestimmte Zeit nach einer MdE von unverändert 20 vH
(Bescheid vom 28.1.2014 und Widerspruchsbescheid vom 18.6.2014). Die Klage auf Bewilligung höherer Verletztenrente wies das SG ab
(Gerichtsbescheid vom 14.4.2015). Im Berufungsverfahren verpflichtete sich die Beklagte vergleichsweise, die Höhe der Verletztenrente ab 2016 erneut zu überprüfen.
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Im anschließenden Verwaltungsverfahren ließ sie die Fußverletzung des Klägers in einem Zentrum für Fuß- und Sprunggelenkchirurgie begutachten und lehnte eine Rentenerhöhung ab
(Bescheid vom 9.3.2018 und Widerspruchsbescheid vom 13.11.2018). Das SG hat im Klageverfahren von Amts wegen ein orthopädisch-chirurgisches Gutachten eingeholt und die Klage abgewiesen
(Urteil vom 30.7.2019). In seiner Berufungsbegründung vom 4.11.2019 hat der nicht vertretene Kläger ua „dauerhafte Schmerzbelastungen“ und „schlimme Schmerzen“ geltend gemacht. Gleichwohl hat das LSG den Beteiligten unter dem 7.11.2019 mitgeteilt, es sei beabsichtigt, „die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 30.07.2019 gem. § 153 Abs. 4 S. 1 Sozialgerichtsgesetz ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss als unbegründet zurückzuweisen“. Den Beteiligten werde „nochmals die Möglichkeit zur Äußerung bis zum 30.11.2019 (Eingang bei Gericht) gegeben“. Daraufhin hat der Kläger in seiner Stellungnahme vom 3.12.2019 ua gefragt, „warum haben alle Ärzte inklusive der Gutachter … bis heute sich geweigert eine MRT-Untersuchung oder eine neurologische Untersuchung von meinem Fuss zu machen“? Ohne auf diese Frage einzugehen und den Kläger nochmals anzuhören, hat das LSG die Berufung durch Beschluss vom 7.1.2020 zurückgewiesen.
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Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem vorbezeichneten Beschluss rügt der Kläger, ihm seien die ehrenamtlichen Richter
(§ 33 Abs 1 Satz 1 SGG) entzogen worden
(Art 101 Abs 1 Satz 2 GG, § 202 Satz 1 SGG iVm § 16 Satz 2 GVG) und das LSG sei deshalb unzutreffend besetzt gewesen
(absoluter Revisionsgrund, § 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO), weil die Anhörungsmitteilung vom 7.11.2019 für einen Rechtsunkundigen inhaltlich unzureichend gewesen sei und deshalb gegen § 153 Abs 4 Satz 2 SGG verstoße. Die vorbezeichneten Vorschriften seien aber auch deshalb verletzt, weil ihn das LSG nach Eingang seiner Stellungnahme vom 3.12.2019 nicht nochmals angehört habe, obwohl er mit dem Hinweis auf die bislang unterbliebene MRT- bzw neurologische Untersuchung weitere Sachaufklärung geltend gemacht habe.
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II. Die zulässige Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des LSG ist begründet. Die formgerecht
(§ 160 Abs 2 Nr 2 Halbsatz 2 SGG) gerügte Verletzung des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG liegt vor.
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Hat das SG – wie hier – nicht durch Gerichtsbescheid
(§ 105 SGG) entschieden, kann das LSG gemäß § 153 Abs 4 Satz 1 SGG die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind die Beteiligten vorher zu hören. Diese Anhörungspflicht ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots des rechtlichen Gehörs
(Art 103 Abs 1 GG), das bei der Wahl des vereinfachten Verfahrens im Berufungsrechtszug nicht verkürzt werden darf
(vgl BSG Beschlüsse vom 25.5.2011 – B 12 KR 81/10 B – juris RdNr 8, vom 29.8.2006 – B 13 R 37/06 B – SozR 4-1500 § 153 Nr 5 RdNr 5 und vom 17.9.1997 – 6 RKa 97/96 – SozR 3-1500 § 153 Nr 4 S 11 f mwN). Zwar hat das LSG die Beteiligten mit Verfügung vom 7.11.2019 – entgegen der Ansicht des Klägers – ordnungsgemäß zum beabsichtigten Vorgehen im vereinfachten Beschlussverfahren angehört. Gleichwohl hat das LSG die Berufung verfahrensfehlerhaft zurückgewiesen. Denn nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist eine erneute Anhörung gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 SGG erforderlich, wenn sich nach der ersten Anhörungsmitteilung die Prozesssituation entscheidungserheblich ändert
(vgl nur BSG Beschlüsse vom 30.10.2019 – B 14 AS 330/18 B – juris RdNr 2, vom 20.10.2010 – B 13 R 63/10 B – SozR 4-1500 § 153 Nr 11 RdNr 13 sowie vom 17.9.1997 – 6 RKa 97/96 – SozR 3-1500 § 153 Nr 4 S 12; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 153 RdNr 20, 20a mwN) und das LSG gleichwohl daran festhalten möchte, die Berufung im Beschlusswege zurückzuweisen. Zur Wahrung des rechtlichen Gehörs
(Art 103 Abs 1 GG) ist § 153 Abs 4 Satz 2 SGG zugunsten der Beteiligten verfassungskonform weit auszulegen, weil die Anhörungsmitteilung die ansonsten durch die mündliche Verhandlung ermöglichte umfassende Anhörung der Beteiligten adäquat kompensieren soll
(BSG Beschluss vom 30.10.2019 – B 14 AS 330/18 B – juris RdNr 2). Eine erneute Anhörung ist daher schon dann notwendig, wenn ein Beteiligter nach der Anhörungsmitteilung substantiiert neue Tatsachen vorträgt, die eine weitere Sachaufklärung von Amts wegen erfordern, oder wenn er einen Beweisantrag stellt oder die Erhebung weiterer Beweise anregt, sofern diese entscheidungserheblich sind
(BSG Beschlüsse vom 10.10.2017 – B 12 KR 37/17 B – juris RdNr 9, vom 12.12.2011 – B 7 AL 29/11 BH – juris RdNr 7, vom 25.5.2011 – B 12 KR 81/10 B – juris RdNr 8 und vom 20.11.2003 – B 13 RJ 38/03 B – SozR 4-1500 § 153 Nr 1 RdNr 6 f; Bienert, NZS 2012, 885, 890; Keller, aaO, § 153 RdNr 20a). In diesen Fällen muss das LSG den Beteiligten dann vor der Beschlussfassung erneut Gelegenheit zur Stellungnahme geben und sie darauf hinweisen, dass es den Beweisanträgen bzw -anregungen nicht zu folgen beabsichtigt, sondern an dem Verfahren nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG festhält
(BSG, aaO; Bienert, aaO; Keller, aaO). Hieran fehlt es.
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Der Kläger hat auf die Anhörungsmitteilung vom 7.11.2019 mit Schriftsatz vom 3.12.2019 reagiert. Darin hat er in Frageform hinreichend verdeutlicht, dass er die Sachaufklärung mit Blick auf eine MRT-Untersuchung und eine neurologische Untersuchung seines verletzten Fußes noch nicht für abgeschlossen hielt. Es war unschwer erkennbar, dass er mit diesen Untersuchungen die erhebliche Schmerzsymptomatik aufgeklärt wissen wollte, die er bereits in der Berufungsbegründung geltend gemacht hatte („dauerhafte Schmerzbelastungen“, „schlimme Schmerzen“). Dass die Schmerzintensität – nach der maßgeblichen Rechtsauffassung des LSG – entscheidungserheblich ist, folgt bereits daraus, dass das SG zur Bemessung der MdE auf die entsprechenden MdE-Erfahrungswerte von Schönberger/Mehrtens/Valentin
(Arbeitsunfall und BK, 9. Aufl 2017) zurückgegriffen und das LSG gemäß § 153 Abs 2 SGG auf die Gründe der erstinstanzlichen Entscheidung uneingeschränkt Bezug genommen hat. Nach den herangezogenen Bewertungsmaßstäben sind bei der Schmerzbegutachtung nur „übliche Schmerzen“ bedeutungslos, die sich als Begleitsymptom einer körperlich fassbaren Gewebeschädigung bzw -erkrankung darstellen, weil sie in den gängigen Bewertungstabellen für die jeweilige Schädigung bereits berücksichtigt sind
(Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, S 231). Demgegenüber sind „außergewöhnliche Schmerzen“ im Rahmen der Schmerzbegutachtung zusätzlich zur Gewebeschädigung bzw -erkrankung gesondert zu bewerten, da sie zu einer Funktionsbeeinträchtigung führen, die die aus der reinen Gewebeverletzung resultierenden deutlich übersteigt
(Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO). Insofern hatte das Berufungsgericht – auch auf Basis seiner Rechtsauffassung – zu erwägen, ob nach dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme die Einholung eines neurologischen Sachverständigengutachtens erforderlich oder entbehrlich ist. Über das Ergebnis dieser Überlegungen hätte es den Kläger vor der Beschlussfassung informieren müssen, um ihm im Rahmen einer zweiten Anhörung Gelegenheit zu geben, zum Vorliegen außergewöhnlicher Schmerzen weiter vorzutragen und/oder einen entsprechenden förmlichen Beweisantrag zu stellen. Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dass der Kläger das Tatsachengericht im Rahmen einer zweiten Anhörung überzeugt hätte, von einer Entscheidung durch Beschluss nach § 153 Abs 4 SGG abzusehen und eine weitere Beweisaufnahme durchzuführen, die das Vorliegen neuropathischer Schmerzen bestätigt und zu einer Erhöhung der MdE geführt hätte.
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Folglich kann der angegriffene Beschluss in seiner konkreten Gestalt auf dem gerügten Verfahrensmangel beruhen, so dass auf die Streitfrage nicht weiter einzugehen ist, ob eine Entscheidung bei Verstößen gegen § 153 Abs 4 Satz 2 SGG wegen des Entzugs der ehrenamtlichen Richter
(Art 101 Abs 1 Satz 2 GG, § 202 Satz 1 SGG iVm § 16 Satz 2 GVG; § 33 Abs 1 Satz 1 SGG) zu einer vorschriftswidrigen Besetzung der Richterbank führt und deshalb stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen ist
(absoluter Revisionsgrund, § 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO; vgl einerseits BSG Beschlüsse vom 30.10.2019 – B 14 AS 330/18 B – juris RdNr 5 und vom 17.11.2015 – B 1 KR 65/15 B – juris RdNr 6 sowie andererseits Beschlüsse vom 8.1.2013 – B 13 R 300/11 B – BeckRS 2013, 67152 RdNr 17, vom 17.12.2012 – B 13 R 371/11 B – BeckRS 2013, 65453 RdNr 6 und vom 12.2.2009 – B 5 R 386/07 B – SozR 4-1500 § 153 Nr 7 RdNr 19; vgl auch Bienert, NZS 2012, 885, 891 f).
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Die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG liegen somit vor. Zur Vermeidung einer weiteren Verfahrensverzögerung sowie weiterer Kosten hebt der Senat die angefochtene Berufungsentscheidung auf und verweist die Sache zur erneuten Entscheidung gemäß § 160a Abs 5 SGG an das LSG zurück.
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Lediglich beiläufig wird darauf hingewiesen, dass fraglich ist, ob das Vorgehen im vereinfachten Beschlussverfahren hier nach den Gesamtumständen des Einzelfalles sachgerecht war. Der nicht vertretene Kläger hat erkennbar einen Migrationshintergrund und ersichtlich Schwierigkeiten, sich schriftlich zu äußern und sich damit Gehör zu verschaffen. Dies hatte im ersten Berufungsverfahren zur Folge, dass die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung bis dahin unbeachtete Arztberichte vorlegten, die dann im hiesigen Verfahren zu prüfen waren. Zudem hat der Kläger der Beklagten Aktenmanipulation vorgeworfen und dem Verwaltungsgutachter eine Patientenverwechslung. Gerade weil diese Anschuldigungen nach Ansicht des LSG jeglicher Grundlage entbehrten, könnte es tunlich sein, auf diese Vorwürfe in einer mündlichen Verhandlung einzugehen. Schließlich hat der Kläger „im Berufungsverfahren keinen bestimmten Antrag gestellt“, was zumindest ein Formulierungshilfeangebot des Berichterstatters im vorbereitenden Verfahren
(§ 106 Abs 1 iVm § 153 Abs 1 SGG) oder – im Misserfolgsfall – des Vorsitzenden in der mündlichen Verhandlung
(§ 112 Abs 2 Satz 2 iVm § 153 Abs 1 SGG) erfordert hätte
(vgl BSG Urteil vom 26.11.2019 – B 2 U 8/18 R – juris RdNr 10 <zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen>), um den berufungsrechtlichen Streitgegenstand zu klären.
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Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.