BSG 8. Senat, Beschluss vom 11.08.2022, AZ B 8 SO 100/20 B, ECLI:DE:BSG:2022:110822BB8SO10020B0
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 153 Abs 4 S 2 SGG, § 73 Abs 6 S 6 SGG
Verfahrensgang
vorgehend SG Ulm, 17. September 2020, Az: S 13 SO 1283/20, Urteil
vorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg, 21. Dezember 2020, Az: L 2 SO 3298/20, Beschluss
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. Dezember 2020 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Gründe
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I. Im Streit steht die Gewährung höherer Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem Vierten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (SGB XII) für das Jahr 2018.
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Der 1971 geborene alleinstehende Kläger leidet an atopischer Diathese mit Begleitsyndromen. Er wohnt seit 2011 in einer 60 qm großen Wohnung, die mit Strom beheizt wird. Der Beklagte gewährte dem Kläger für das Jahr 2018 Grundsicherungsleistungen und berücksichtigte ab 1.1.2018 einen Regelbedarf von 416,00 Euro abzüglich 33,31 Euro für Haushaltsenergie und als angemessene Bruttokaltmiete monatlich 375,00 Euro. Wie zuvor 2017 übernahm er die tatsächlichen Heizkosten sowie die Müllgebühren; einen Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung erkannte er nicht an
(Bescheide vom 19.12.2017, vom 5.2.2018, vom 17.4.2018, vom 23. 4.2018 und vom 14.5.2018; Widerspruchsbescheid vom 17.10.2018). Die Klage hat keinen Erfolg gehabt
(Urteil des Sozialgerichts <SG> Ulm vom 17.9.2020). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat durch Verfügung vom 9.11.2020 die Beteiligten auf das beabsichtigte Vorgehen nach § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hingewiesen und Gelegenheit gegeben, zur Sache und zum beabsichtigten Verfahren bis spätestens 25.11.2020 Stellung zu nehmen. Das Anhörungsschreiben wurde an den Kläger persönlich adressiert und diesem per Einwurf-Einschreiben am 10.11.2020 zugestellt. Ebenfalls am 9.11.2020 hat sich Rechtsanwalt F als Prozessbevollmächtigter des Klägers gegenüber dem Berufungsgericht unter Vorlage einer Vollmacht bestellt. In der Folge hat er Akteneinsicht genommen und die Begründung der Berufung innerhalb von 2 bis 3 Wochen angekündigt
(Schriftsatz vom 25.11.2020). Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und zur Begründung unter Hinweis auf § 153 Abs 2 SGG auf die Gründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen
(Beschluss vom 21.12.2020).
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Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des LSG hat der Kläger Beschwerde eingelegt. Er rügt einen Verfahrensfehler
(§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), weil das LSG den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs
(§ 62 SGG iVm Art 103 Abs 1 Grundgesetz <GG>) verletzt habe, indem es vor der Entscheidung durch Beschluss den Prozessbevollmächtigten des Klägers nicht ordnungsgemäß angehört, sondern es bei der Zustellung des Anhörungsschreibens an den Kläger persönlich belassen habe. Im Übrigen habe es seiner Sachaufklärungspflicht nicht genügt und damit den Untersuchungsgrundsatz
(§ 103 SGG) verletzt.
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II. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG vom 21.12.2020 ist zulässig, denn er hat einen Verstoß gegen das grundrechtsgleiche Recht auf rechtliches Gehör nach Art 103 Abs 1 GG und damit einen Verfahrensmangel hinreichend bezeichnet
(§ 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Die Beschwerde ist auch begründet.
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Das LSG kann gemäß § 153 Abs 4 Satz 1 SGG die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind die Beteiligten vorher zu hören. Diese Anhörungspflicht ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots des rechtlichen Gehörs
(Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG), das bei der Wahl des vereinfachten Verfahrens im Berufungsrechtszug nicht verkürzt werden darf
(vgl zuletzt BSG vom 21.10.2021 – B 5 R 62/21 B – RdNr 5; BSG vom 25.5.2011 – B 12 KR 81/10 B – RdNr 8 und BSG vom 29.8.2006 – B 13 R 37/06 B – SozR 4-1500 § 153 Nr 5 RdNr 5). Das LSG hat zwar den Beteiligten am 9.11.2020 ein Schreiben zum beabsichtigten Vorgehen im vereinfachten Beschlussverfahren nach § 153 Abs 4 SGG zugeleitet, dieses jedoch an den Kläger persönlich adressiert, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits ein Rechtsanwalt mandatiert war
(Vollmacht vom 24.10.2020) und dieser an dem selben Tag seine Vertretung angezeigt hatte. Deshalb hätte die Anhörungsmitteilung ausschließlich an den Rechtsanwalt gerichtet werden müssen
(vgl § 73 Abs 6 Satz 6 SGG; dazu Schmidt in Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, SGG 13. Aufl 2020, § 73 RdNr 69; insbesondere zur Anhörungsmitteilung nach § 153 Abs 4 SGG, Burkiczak in jurisPK-SGG, 2. Aufl 2022, § 153 RdNr 124). Wird der Prozessbevollmächtigte im Rahmen der Anhörung nach § 153 Abs 4 SGG übergangen und ergeht eine Entscheidung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung, liegt darin – wie der Kläger zutreffend rügt – ein Gehörsverstoß, weil die Beauftragung eines Rechtsanwalts im Berufungsverfahren gewährleisten soll, dass eine Äußerung in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zum gesamten Streitstoff durch eine sachkundige Person erfolgt
(zu diesem Maßstab an eine denkbare Gehörsverletzung bereits BSG vom 21.9.2006 – B 12 KR 24/06 B – RdNr 11).
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So liegt der Fall hier, wobei offenbleiben kann, ob Anhörungsmitteilungen, die – wie hier – eine Frist in Gang setzen, zuzustellen sind
(so BVerwG vom 17.11.1994 – 1 B 42/94–RdNr 4 zu § 130a Verwaltungsgerichtsordnung; ebenso offengelassen von BSG vom 9.4.2003 – B 5 RJ 210/02 B; BSG vom 21.6.2000 – B 4 RA 71/99 R – SozR 3-1500 § 153 Nr 11 S 33). Jedenfalls müsste nachgewiesen sein, dass eine Anhörungsmitteilung den Bevollmächtigten tatsächlich erreicht hat. Selbst wenn man nicht von einer Pflicht zur Zustellung ausgehen wollte, liegt es in der Verantwortung des Gerichts, den Anspruch auf rechtliches Gehör sicherzustellen. Dieses muss sich ggf Gewissheit darüber verschaffen, ob ein für die Wahrung des rechtlichen Gehörs bedeutsames Schreiben
(hier die Anhörung nach § 153 Abs 4 SGG) den richtigen Adressaten auch tatsächlich rechtzeitig erreicht hat
(vgl BSG vom 21.6.2000 – B 4 RA 71/99 R – SozR 3-1500 § 153 Nr 11 S 33; BSG vom 29.11.2012 – B 14 AS 177/12 B – RdNr 5). Soll dieser Nachweis anders als durch ein zu den Akten gelangtes Empfangsbekenntnis geführt werden, müssen deshalb ggf im Wege des Freibeweises zu klärende andere Umstände die einer Zustellung vergleichbare Überzeugungsgewissheit vom Zugang der Anhörung vermitteln
(zuletzt zum Zugang einer Terminbestimmung BSG vom 12.3.2019 – B 13 R 160/17 B – RdNr 9).
7
Solche Umstände vermag der erkennende Senat hier nicht mit der gebotenen Sicherheit zu erkennen. Insbesondere lässt sich dieser Schluss nicht sicher aus der erfolgten Akteneinsicht durch den Bevollmächtigten ziehen. Unabhängig davon, dass sich anhand der Akte nicht sicher nachverfolgen lässt, ob sich das Anhörungsschreiben tatsächlich in der Akte befand, ist mit der Akteneinsicht nicht nachgewiesen, dass der Empfänger „tatsächlich“ und nicht nur potenziell Kenntnis von dem Dokument nehmen konnte. Daher genügt die bloße Gelegenheit zur Akteneinsicht nicht, vielmehr müsste nachgewiesen sein, dass der Empfänger das Anhörungsschreiben auch tatsächlich zur Kenntnis genommen hat oder aber diesem zumindest in einer Weise präsentiert wurde, bei der die fehlende Kenntnisnahme einer treuwidrigen Rechtsverweigerung gleichkäme. Ansonsten wäre der Prozessbevollmächtigte aus Gründen anwaltlicher Vorsicht genötigt, die komplette Akte durchzusehen um festzustellen, ob sich dort zuzustellende Dokumente finden. Da der Prozessbevollmächtigte des Klägers lediglich die Akteneinsicht bestätigt hat, jedoch auf das Anhörungsschreiben nicht inhaltlich reagiert hat – was insbesondere nicht aus der Ankündigung einer Berufungsbegründung folgt – hätte sich das LSG vor seiner Entscheidung auf andere Weise – zB durch einen Anruf – Gewissheit darüber verschaffen müssen, dass der Prozessbevollmächtigten Kenntnis von dem Anhörungsschreiben genommen hat
(BSG vom 24.10.2013 – B 13 R 253/13 B – RdNr 10; BSG vom 29.11.2012 – B 14 AS 176/12 B – RdNr 5; BVerfG vom 21.3.2006 – 2 BvR 1104/05–NJW 2006, 2248f; BSG vom 9.4.2003 – B 5 RJ 210/02 B – RdNr 4; BSG vom 21.6.2000 – B 4 RA 71/99 R – SozR 3-1500 § 153 Nr 11).
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Eine Verletzung des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG führt zur unvorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts nur mit den Berufsrichtern und damit zum Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes
(§ 547 Nr 1 ZPO iVm § 202 Satz 1 SGG), bei dem eine Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen ist
(vgl etwa BSG vom 29.8.2019 – B 14 AS 219/18 B – juris RdNr 4; BSG vom 19.10.2016 – B 14 AS 155/16 B – juris RdNr 4).
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Der Senat macht von dem ihm durch § 160a Abs 5 SGG eingeräumten Ermessen dahingehend Gebrauch, den Beschluss des LSG aufzuheben und den Rechtsstreit an dieses zurückzuverweisen.
10
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.
Krauß Scholz Bieresborn