BGH 6. Strafsenat, Urteil vom 15.06.2022, AZ 6 StR 401/21, ECLI:DE:BGH:2022:150622U6STR401.21.0
Verfahrensgang
vorgehend LG Braunschweig, 29. April 2021, Az: 12 KLs 13/20
Tenor
1. Auf die Revision des Nebenklägers wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 29. April 2021 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
– Von Rechts wegen –
Gründe
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Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Hiergegen wendet sich der Nebenkläger mit seiner auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision, mit der er eine Verurteilung des Angeklagten wegen – heimtückisch und aus sonst niedrigen Beweggründen begangenen – Mordes erstrebt. Das Rechtsmittel ist zulässig (§ 400 Abs. 1, § 401 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 StPO) und begründet.
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1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:
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Der zur Tatzeit 17-jährige Angeklagte sagte am 28. April 2020 seinem Freund B. auf dessen Bitte hin zu, gemeinsam mit etwa zwölf bis 15 weiteren Personen, namentlich den mit ihnen befreundeten gesondert Verfolgten F. , P. , und V. , zur Wohnanschrift des D. in S. zu fahren. B. wollte mit diesem ein zuvor für ihn nicht „zufriedenstellend“ verlaufenes Betäubungsmittelgeschäft „klären“. Am selben Tag fuhren der Angeklagte und die weiteren Tatbeteiligten in insgesamt drei Pkw nach S. , wobei der Angeklagte in dem von B. gesteuerten Wagen hinter diesem saß.
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Bei ihrer Ankunft wurden sie bereits von D. und mindestens drei weiteren Personen erwartet und aufgefordert, sich „zu verpissen“, anderenfalls werde die Polizei verständigt. Mindestens zwei Personen liefen sodann ebenso wie der in der Nachbarschaft einen Cousin besuchende und auf den „Tumult“ aufmerksam gewordene Nebenkläger A. auf die Fahrzeuge der Gruppe um den Angeklagten zu.
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B. entschied sich – ebenso wie die beiden anderen Fahrer – zum Abbruch seines Vorhabens und wendete sein Fahrzeug. Bevor er losfahren konnte, schlug eine unbekannt gebliebene Person mit einer Axt die Heckscheibe des Wagens ein. Zugleich riss der Nebenkläger die Fahrertür auf und versuchte, B. herauszuziehen. Um dies zu verhindern, stieg der Angeklagte aus, ergriff einen im Fußraum liegenden Schraubendreher und versuchte zunächst, den Nebenkläger von B. wegzuziehen. Im Zuge dieser Rangelei schlug der Nebenkläger dem Angeklagten mit der Faust auf das linke Auge.
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Nach dem Faustschlag trennten sich der Nebenkläger und der Angeklagte für wenige Sekunden und standen sich einige Schritte entfernt gegenüber, wobei der Angeklagte den Schraubendreher, dessen Spitze nach unten zeigte, in der rechten Hand hielt. Dabei nahm er wahr, dass der Nebenkläger unbewaffnet war. Als er sich auf den Nebenkläger zubewegte, senkte dieser seinen Kopf, um sich vor einem bevorstehenden Angriff zu schützen. Zugleich hob der Angeklagte seinen rechten Arm und stach mit dem Schraubendreher in Richtung des Kopfes des Nebenklägers. Der Angeklagte erkannte, dass er dessen Kopf treffen würde, und nahm hierbei eine tödliche Verletzung billigend in Kauf. Als unmittelbar nach dem Stich jemand rief, „der hat ein Messer“, stiegen der Angeklagte und die weiteren Tatbeteiligten in ihre Fahrzeuge und fuhren davon.
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Der Schraubendreher drang acht Zentimeter tief in den Schädel des Nebenklägers ein, wodurch es zu knöchernen Absplitterungen und lebensbedrohlichen Einblutungen im Gehirn kam. Dem Nebenkläger verblieb eine etwa zehn Zentimeter lange, schmale Narbe. Er leidet zudem noch immer unter Kopfschmerzen sowie Taubheitsgefühlen und ist in psycho- und physiotherapeutischer Behandlung.
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2. Die Jugendkammer stützt die Feststellungen „im Wesentlichen“ auf die geständigen Angaben des Angeklagten und hat auf dieser Grundlage die Verwirklichung des Mordmerkmals der sonst niedrigen Beweggründe nach § 211 Abs. 2 StGB verneint. Aufgrund des von einer unbekannten Person ausgeübten Axtschlags gegen die Heckscheibe habe aus Sicht des Angeklagten eine Situation vorgelegen, in welcher er seine eigene körperliche Unversehrtheit und die seiner Bekannten als bedroht angesehen habe. Da der Nebenkläger nur wenige Augenblicke zuvor versucht hatte, B. aus dem Fahrzeug zu ziehen, und dem Angeklagten, der dies zu verhindern versuchte, mit der Faust ins Gesicht geschlagen hatte, sei von diesem eine „empfundene Gefahr“ für den Angeklagten ausgegangen. Dieser habe sich der Angeklagte durch die Tat entziehen wollen. Die Tat erreiche deshalb noch nicht das für das Mordmerkmal erforderliche Maß an Verwerflichkeit.
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3. Das Rechtsmittel des Nebenklägers führt bereits mit der Sachrüge zur Aufhebung des Urteils. Es bedarf deshalb keines Eingehens auf die erhobenen Verfahrensrügen. Die Beweiswürdigung hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
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a) Sie ist lückenhaft. Es fehlt jede nähere Darstellung und Würdigung der Angaben des Nebenklägers zum Tatgeschehen. Insoweit beschränkt sich die Strafkammer auf die Mitteilung, dass der in der Hauptverhandlung vernommene Nebenkläger weder die Anzahl noch die Identität der Angreifer angeben konnte. Ob der Nebenkläger darüber hinaus Angaben zur Sache, namentlich zum unmittelbaren Vortatgeschehen, gemacht hat, die Rückschlüsse auch auf die Motive des Angeklagten zugelassen hätten, teilt das Urteil nicht mit.
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Zwar ist das Tatgericht grundsätzlich nicht gehalten, im Urteil Zeugenaussagen in Einzelheiten wiederzugeben; erforderlich ist dies aber, wenn bei einem im Übrigen nicht eindeutigen Beweisergebnis einer Aussage entscheidende Bedeutung zukommen könnte und dem Revisionsgericht ohne Kenntnis ihres wesentlichen Inhalts die Prüfung verwehrt ist, ob im Rahmen der Beweiswürdigung alle wesentlichen Gesichtspunkte beachtet worden sind (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Dezember 1982 – 3 StR 453/82, NStZ 1983, 133; Urteile vom 3. Juli 1985 – 2 StR 188/85, StV 1986, 6; vom 27. April 2017 – 4 StR 434/16, NStZ-RR 2017, 223; Miebach FS Joecks [2018] S. 133, 134).
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Hier drängten die Besonderheiten der konkreten Beweislage zu einer revisionsgerichtlich nachvollziehbaren Würdigung der Angaben des Nebenklägers. Denn die den Feststellungen „im Wesentlichen“ zugrunde gelegte Darstellung des Angeklagten zum maßgeblichen Tatgeschehen wird – entgegen der Annahme des Landgerichts – schon nicht durch den Zeugen S. , einen Nachbarn des D. , gestützt. Dieser hat ausweislich der Urteilsgründe weder das unmittelbare Tatgeschehen noch das vorangegangene Einwirken einer unbekannten Person mittels einer Axt auf B. s Fahrzeug bestätigt. Ferner hat er gerade nicht bekundet, dass eine zu dem von B. geführten Fahrzeug gelaufene Person versucht habe, diesen herauszuziehen. Auch der anderweitig Verfolgte F. hat weder den vom Angeklagten geführten Stich „mitbekommen“ noch angeben können, wer zuvor den B. angegriffen hatte.
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Mit Blick auf die deshalb für die getroffenen Feststellungen erkennbar allein maßgebliche Einlassung des Angeklagten kam der Aussage des Nebenklägers hier besondere Bedeutung zu. Dies gilt namentlich für dessen mögliche Wahrnehmungen zum Geschehen unmittelbar vor der Tat, etwa zu einem – vom Angeklagten behaupteten – Angriff auf B. , zu der durch eine weitere Person eingeschlagenen Heckscheibe sowie zu der – von anderen Zeugen geschilderten – Maskierung und Bewaffnung der Mitglieder der Gruppe um den Angeklagten mit Sturmhauben und Teleskopschlagstöcken.
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b) Die Beweiswürdigung ist darüber hinaus teilweise widersprüchlich. Das Landgericht stützt seine Überzeugung davon, dass der Nebenkläger für den Angeklagten eine „empfundene Gefahr“ gewesen sei und er sich dieser „durch die Tat“ habe entziehen wollen, wiederum allein auf Angaben des Angeklagten. Diese Erwägung steht ohne nähere Erläuterung allerdings in einem unauflöslichen Widerspruch zu der an anderer Stelle der Urteilsgründe mitgeteilten Angabe, der Angeklagte habe sich dahin eingelassen, sich an den Stich gegen den Kopf des Nebenklägers nicht erinnern zu können.
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c) Auf diesen Rechtsfehlern beruht das Urteil (§ 337 Abs. 1 StPO). Der Senat kann nicht ausschließen, dass sich die Jugendkammer bei rechtsfehlerfreier Würdigung vom Vorliegen eines Mordmerkmals überzeugt hätte. Die Feststellungen unterliegen insgesamt der Aufhebung (§ 353 Abs. 2 StPO).
- Sander
- Feilcke
- Wenske
- Fritsche
- von Schmettau