Anhörungsrüge: Einfluss auf den Ablauf prozessualer Fristen (Beschluss des BGH 6. Zivilsenat)

BGH 6. Zivilsenat, Beschluss vom 14.06.2022, AZ VI ZB 26/21, ECLI:DE:BGH:2022:140622BVIZB26.21.0

§ 321a ZPO, § 517 ZPO

Leitsatz

Die Erhebung einer Anhörungsrüge hat keinen Einfluss auf den Ablauf prozessualer Fristen und hindert den Eintritt der formellen Rechtskraft nicht (hier: Frist zur Einlegung der Berufung).

Verfahrensgang

vorgehend LG Frankfurt, 18. Februar 2021, Az: 2-01 S 143/20
vorgehend AG Frankfurt, 23. Juli 2020, Az: 29 C 1318/20 (11)

Tenor

Die Rechtsbeschwerde des Klägers gegen den Beschluss der 1. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main vom 18. Februar 2021 wird auf seine Kosten als unzulässig verworfen.

Der Gegenstandswert beträgt bis 600 €.

Gründe

I.

1

Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen und die Berufung nicht zugelassen. Das Urteil ist dem Kläger am 5. August 2020 zugestellt worden.

2

Der Kläger hat Anhörungsrüge erhoben und sich sowohl gegen die Entscheidung in der Sache als auch gegen die Nichtzulassung der Berufung gewandt. Mit Beschluss vom 19. August 2020 hat das Amtsgericht die Anhörungsrüge zurückgewiesen
. Dieser Beschluss ist dem Kläger am 3. September 2020 zugestellt worden.

3

Der Kläger hat gegen das Urteil des Amtsgerichts Berufung eingelegt. Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Landgericht die Berufung als unzulässig verworfen. Die Berufungsschrift sei erst nach Ablauf der Frist zur Einlegung der Berufung (Montag, den 7. September 2020) am 10. September 2020 eingegangen. Das Rechtsmittel sei daher verfristet. Es könne dahinstehen, ob trotz Nichterreichens der Beschwerdesumme nach der Erschöpfung des Ergänzungsverfahrens gemäß § 321a ZPO ausnahmsweise die Möglichkeit der Berufung grundsätzlich offenstehen könnte. Eine verspätete Einlegung der Berufung könne auf diesem Wege nicht geheilt werden. Der Kläger sei mit Schreiben vom 16. September 2020 auf die Verfristung der Berufung und deren Unzulässigkeit hingewiesen worden. Die darauf folgende Stellungnahme des Klägers gebe dem Gericht keinen Anlass, von seiner Ansicht abzuweichen. Der Kläger trage zwar zur Beschwer vor, nicht jedoch zur Einhaltung der Berufungsfrist. Ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht gestellt worden und ergebe sich auch nicht aus sonstigen Anhaltspunkten.

II.

4

Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist unzulässig, da eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts – anders als der Kläger meint – weder zur Rechtsfortbildung noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist (§ 574 Abs. 2 Nr. 2, 1. und 2. Alt. ZPO). Der angefochtene Beschluss verletzt auch den Anspruch des Klägers auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) nicht.

5

1. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde hat die Frist zur Einlegung der Berufung mit Zustellung des Urteils des Amtsgerichts begonnen (§ 517 ZPO) und nicht erst mit Zustellung der Entscheidung des Amtsgerichts über die Anhörungsrüge. Die Erhebung einer Anhörungsrüge hat keinen Einfluss auf den Ablauf prozessualer Fristen und hindert den Eintritt der formellen Rechtskraft nicht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 11. Januar 2022 – VIII ZB 37/21, NJW-RR 2022, 346 Rn. 7; vom 13. April 2021 – VIII ZB 80/20, juris Rn. 15; vom 24. Juni 2009 – IV ZB 2/09, juris Rn. 12; BAGE 168, 235 Rn. 8; MünchKomm-ZPO/Musielak, 6. Aufl., ZPO § 321a Rn. 6 a.E.; jew. mwN).

6

Abweichendes ergibt sich entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht daraus, dass die Frist zur Erhebung und Begründung einer Verfassungsbeschwerde (§ 93 Abs. 1 BVerfGG), mit der die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) geltend gemacht wird, mit Bekanntgabe der fachgerichtlichen Entscheidung über die Anhörungsrüge beginnt. Denn erst nach Durchführung des Anhörungsrügeverfahrens ist in diesem Fall gemäß § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG der Rechtsweg erschöpft (siehe dazu BVerfGE 134, 106 Rn. 22 mwN; BVerfG [K], Beschluss vom 26. April 2022 – 2 BvR 1880/21, juris Rn. 2; O. Klein, in: Benda/Klein, Verfassungsprozessrecht 4. Aufl., Rn. 604, 633 ff.; Hettche, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2. Aufl., § 93 BVerfGG Rn. 16). Demgegenüber setzt eine Berufung, auch wenn sie auf die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gestützt wird, nicht die Durchführung des Anhörungsrügeverfahrens voraus. Vielmehr ist das Anhörungsrügeverfahren gemäß § 321a Abs. 1 Nr. 1 ZPO nur statthaft, wenn ein Rechtsmittel oder ein anderer Rechtsbehelf gegen die Entscheidung nicht gegeben ist (vgl. BGH, Urteil vom 13. Dezember 2004 – II ZR 249/03, BGHZ 161, 343, 346 [juris Rn. 9]; BAGE 168, 235 Rn. 6 f.).

7

2. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde hätte dem Kläger durch das Berufungsgericht nicht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden müssen. Denn es ist schon nicht dargelegt (§ 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO) und auch sonst nicht ersichtlich (§ 236 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO), dass der Kläger ohne sein Verschulden an der Einhaltung der Frist zur Einlegung der Berufung gehindert gewesen ist. Vom Rechtsanwalt, an den insoweit hohe Sorgfaltsanforderungen zu stellen sind, wird die Kenntnis des Rechtsmittelsystems der Zivilprozessordnung erwartet. Zugleich ist es seine Aufgabe, alle gesetzlichen Anforderungen an die Zulässigkeit des danach bestimmten Rechtsmittels in eigener Verantwortung zu prüfen und dafür Sorge zu tragen, dass dieses Rechtsmittel innerhalb der jeweils gegebenen Rechtsmittelfrist bei dem zuständigen Gericht eingeht (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Januar 2022 – VIII ZB 37/21, NJW-RR 2022, 346 Rn. 9). Die Rechtslage, wonach die Frist zur Einlegung der Berufung mit der Zustellung des amtsgerichtlichen Urteils begonnen hat und die Einlegung der Anhörungsrüge keinen Einfluss auf den Beginn und Lauf dieser prozessualen Frist hatte, war eindeutig (oben II.1.).

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