BVerfG 2. Senat, Beschluss vom 10.12.2024, AZ 2 BvE 15/23, ECLI:DE:BVerfG:2024:es20241210.2bve001523
Art 21 Abs 1 S 1 GG, Art 38 Abs 1 S 1 GG, § 18 Abs 2 BWahlG, § 20 Abs 2 S 3 BWahlG, § 27 Abs 1 S 2 BWahlG
Leitsatz
1. Das „bloße“ Unterlassen einer Gesetzesänderung kann jedenfalls dann Gegenstand der Organklage einer politischen Partei sein, wenn sie die Verletzung ihrer Rechte aus Art. 21 Abs. 1 GG rügt, weil der Gesetzgeber eine hieraus folgende Handlungspflicht missachtet habe.
(Rn.30)
2. Das Erfordernis von Unterstützungsunterschriften für Wahlvorschläge hat den Zweck, die Anzahl der zugelassenen Wahlvorschläge zu reduzieren. Diese Reduktion sichert den Charakter der Wahl als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes. Unterstützungsunterschriften rechtfertigen die Annahme, dass ein Wahlvorschlag überhaupt eine Erfolgschance hat.
(Rn.56)(Rn.62)
3. Der Gesetzgeber darf parlamentarisch vertretene Parteien von den Unterschriftenerfordernissen befreien, ohne dass dies die Chancengleichheit der Parteien verletzt.
(Rn.83)
Tenor
1. Die Anträge zu 1. a) und b) werden zurückgewiesen.
2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird damit gegenstandslos.
3. Der Antrag der Antragstellerin auf Erstattung ihrer notwendigen Auslagen wird abgelehnt.
Gründe
A.
1
Die Antragstellerin ist eine politische Partei, die weder in einem Landtag noch im Bundestag, aber im Europaparlament mit einer Abgeordneten vertreten ist. Sie wendet sich mit ihrer Organklage dagegen, dass der Deutsche Bundestag das Erfordernis von Unterstützungsunterschriften für Wahlvorschläge zur Bundestagswahl (§ 20 Abs. 2 Satz 3 und § 27 Abs. 1 Satz 2, jeweils in Verbindung mit § 18 Abs. 2 Bundeswahlgesetz <BWahlG>) bei der Reform des Bundeswahlgesetzes im Jahr 2023 nicht abgeschafft oder modifiziert hat.
I.
2
1. Parteien, die im Deutschen Bundestag oder in einem Landtag seit deren letzter Wahl nicht aufgrund eigener Wahlvorschläge ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten waren, können gemäß § 18 Abs. 2 Satz 1 BWahlG nur dann an der Bundestagswahl teilnehmen, wenn sie dem Bundeswahlleiter ihre Beteiligung an der Wahl rechtzeitig angezeigt haben und der Bundeswahlausschuss ihre Parteieigenschaft festgestellt hat. Fällt eine Partei in den Anwendungsbereich dieser Norm, benötigt sie für Kreiswahlvorschläge sowie für die Aufstellung von Landeslisten Unterstützungsunterschriften. Nach § 20 Abs. 2 Satz 3 BWahlG müssen Kreiswahlvorschläge dieser Parteien – ebenso wie der Vorschlag eines parteiunabhängigen Bewerbers (§ 20 Abs. 3 BWahlG) – von mindestens 200 Wahlberechtigten des Wahlkreises persönlich und handschriftlich unterzeichnet sein. Landeslisten – die nur von Parteien eingereicht werden können – benötigen gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG persönliche und handschriftliche Unterschriften von 1 vom Tausend der Wahlberechtigten des Landes bei der letzten Bundestagswahl, höchstens jedoch von 2 000 Wahlberechtigten. Wahlberechtigte dürfen nur einen Kreiswahlvorschlag und eine Landesliste unterzeichnen (§ 34 Abs. 4 Nr. 4, § 39 Abs. 3 Satz 5 Bundeswahlordnung <BWO>). Parteien, die seit deren letzter Wahl im Deutschen Bundestag oder in einem Landtag aufgrund eigener Wahlvorschläge ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten waren, müssen keine Unterstützungsunterschriften beibringen. Außerdem sind Parteien nationaler Minderheiten von den Unterschriftenerfordernissen ausgenommen (§ 20 Abs. 2 Satz 4, § 27 Abs. 1 Satz 4 BWahlG).
3
2. Durch das Gesetz zur Änderung des Bundeswahlgesetzes und des Fünfundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vom 8. Juni 2023, verkündet am 13. Juni 2023 (BGBl I Nr. 147, nachfolgend: Wahlrechtsänderungsgesetz 2023), wurde das Zweitstimmendeckungsverfahren (§ 1 Abs. 3 Satz 2, § 6 Abs. 1 Sätze 1 und 4 BWahlG) in das Bundeswahlgesetz eingeführt (vgl. hierzu BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. – Bundeswahlgesetz 2023). Dabei wurden die Bestimmungen über die Wahlvorschlagsrechte – soweit hier von Belang – dahin geändert, dass nunmehr Parteien Kreiswahlvorschläge nur dann einreichen können, wenn sie auch einen Landeslistenvorschlag einreichen und dieser zugelassen wird (§ 20 Abs. 2 Satz 2, § 26 Abs. 1 Satz 3 BWahlG).
II.
4
1. Am 13. Dezember 2023 hat die Antragstellerin Organklage wegen des Unterlassens einer Änderung von § 20 Abs. 2 Satz 3, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG erhoben.
5
a) Ihre Anträge seien zulässig. Sie wahrten insbesondere die sechsmonatige Antragsfrist des § 64 Abs. 3 BVerfGG. Diese habe mit der Verkündung des Wahlrechtsänderungsgesetzes 2023 am 13. Juni 2023 im Bundesgesetzblatt neu zu laufen begonnen. Denn die Regelungen zu den Unterstützungsunterschriften seien in ein grundlegend verändertes gesetzliches Umfeld eingebettet worden und belasteten die Antragstellerin infolgedessen stärker als zuvor. Da Kreiswahlvorschläge nur noch möglich seien, wenn eine Landesliste zugelassen werde, könne eine kleine Partei nicht mehr lediglich mit einzelnen Kreiswahlvorschlägen kandidieren. Im Ergebnis müsse sie deutlich mehr Unterschriften sammeln. Gelinge dies nicht, drohe ein Verlust ihrer Sichtbarkeit und unter Umständen – wenn eine Wahlkreiskandidatur zur Aufrechterhaltung der Parteieigenschaft erforderlich sei – auch ihrer Existenz.
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b) Die Anträge seien auch begründet. Die Unterschriftenerfordernisse nach § 20 Abs. 2 Satz 3, § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG seien jedenfalls infolge des Wahlrechtsänderungsgesetzes 2023 nicht mehr verfassungskonform und verletzten die Antragstellerin in ihren Rechten auf allgemeine und gleiche Wahl gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG sowie auf Chancengleichheit der Parteien gemäß Art. 21 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG.
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Jedenfalls nach Einführung des Zweitstimmendeckungsverfahrens ließen sich die Unterschriftenerfordernisse nicht mehr mit dem Ziel rechtfertigen, eine Stimmenzersplitterung zu verhindern. Dies gelte insbesondere für die Unterschriften für Kreiswahlvorschläge. Durch das Zweitstimmendeckungsverfahren sei ausgeschlossen, dass eine Kleinpartei aufgrund gewonnener Wahlkreismandate in den Bundestag einziehen und an der Regierung mitwirken könne. Dieser vom Bundesverfassungsgericht genannte Rechtfertigungsgrund habe im Übrigen seit jeher nicht überzeugt. Denn eine Verkleinerung der Zahl der an einer Wahl teilnehmenden Parteien führe nicht zwangsläufig zu einer Verringerung der Zahl der in das Parlament einziehenden Parteien; damit sorgten Unterschriftenerfordernisse nicht für stabilere Mehrheits- und Regierungsverhältnisse.
8
Das Erfordernis von Unterstützungsunterschriften könne auch nicht (mehr) mit dem Ziel der Sicherung eines ordnungsgemäßen Wahlablaufs gerechtfertigt werden. Kreiswahlvorschläge von Parteien hätten aufgrund der neuen Vorgaben nach § 20 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 26 Abs. 1 Satz 3 BWahlG keinen Einfluss mehr auf die Länge des Stimmzettels. Auch bei einem Wegfall des Erfordernisses der Unterstützungsunterschriften für Landeslisten sei nicht damit zu rechnen, dass die Wahlzettel übermäßig anwüchsen. Dem stünden schon die hohen Hürden für die Anerkennung als Partei entgegen.
9
Ebenso wenig bedürfe es der Unterstützungsunterschriften, um nicht ernsthafte Wahlvorschläge auszuschließen. Die Ernsthaftigkeit des Wahlvorschlagsträgers – also der Partei – sei nach § 2 Abs. 1 Parteiengesetz (PartG) Voraussetzung der Parteieigenschaft und werde daher bereits im Anerkennungsverfahren nach § 18 Abs. 4 BWahlG geprüft. Auf den Wahlvorschlag selbst komme es nicht an. Denn es sei nicht möglich, den späteren Wahlerfolg anhand der beigebrachten Unterstützungsunterschriften zu prognostizieren. Es gebe regelmäßig Parteien, die bei der Wahl weniger Stimmen bekämen, als sie Unterstützungsunterschriften gesammelt hätten.
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Die Unterschriftenerfordernisse seien auch nicht durch das Ziel der Verhinderung einer Stimmenvergeudung gerechtfertigt. Es müsse den Wählerinnen und Wählern um der Integrationsfunktion der Wahl willen ermöglicht werden, zwischen allen Parteien, die an der Wahl teilnehmen wollten, auszuwählen. Es dürfe keine Vorauswahl geben. Außerdem gebe es mildere Mittel. Bei der Erststimme könne es eine Stichwahl geben, für die Zweitstimme könne eine Ersatzstimme eingeführt werden.
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Wenn Unterschriftenerfordernisse überhaupt zur Anwendung kommen sollten, könnten sie nur für Landeslisten gerechtfertigt sein. Dabei müssten sie auf jene Parteien begrenzt werden, die „neu“, also noch bei keiner Wahl angetreten oder bei der letzten Bundestagswahl in dem jeweiligen Land nicht in Erscheinung getreten seien. Der Gesetzgeber müsse das Quorum für Landeslisten zudem absenken, um den Nachteil zu kompensieren, der den kleinen Parteien dadurch entstehe, dass sie nicht mehr nur mit einzelnen Kreiswahlvorschlägen an der Bundestagswahl teilnehmen könnten.
12
2. Der Antragsgegner hält die Anträge für unzulässig, hilfsweise für unbegründet.
13
a) Es fehle bereits an einem tauglichen Antragsgegenstand. Die angegriffenen Regelungen bestünden schon seit langem, so dass ein Antrag gegen sie verfristet sei. Das Unterlassen einer Änderung könne nicht angegriffen werden, da ein solches Unterlassen des Gesetzgebers nicht qualifiziert sei. Im Gesetzgebungsverfahren und während der Beratungen der Wahlrechtskommission sei die Frage der Unterstützungsunterschriften in keiner Weise thematisiert worden.
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Außerdem fehle dem Antrag das Rechtsschutzbedürfnis, weil die Antragstellerin ihrer Konfrontationsobliegenheit nicht nachgekommen sei. Obwohl die Beibehaltung der Unterschriftenerfordernisse durch die öffentliche Beratung erkennbar gewesen sei, habe sie keine Eingabe auf Reduzierung respektive Abschaffung der Unterschriftenerfordernisse gemacht.
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b) Die Anträge seien jedenfalls unbegründet.
16
Es bedürfe der Unterstützungsunterschriften weiterhin zur Prüfung der Ernsthaftigkeit der Wahlvorschläge. Die Ernsthaftigkeitsprüfung im Anerkennungsverfahren vor dem Bundeswahlausschuss und die Unterstützungsunterschriften stellten erst in ihrem Zusammenspiel sicher, dass nur ernsthafte Parteien Wahlvorschläge einreichen könnten. Die Notwendigkeit einer Ernsthaftigkeitsprüfung entfalle für die Kreiswahlvorschläge auch nicht dadurch, dass die Ernsthaftigkeit der den Vorschlag einreichenden Partei bereits durch das Unterschriftenerfordernis für die Landesliste sichergestellt werde. Durch das Erreichen des Landeslistenquorums werde zwar eine Aussage über die Partei getroffen, nicht aber über den konkreten Kreiswahlvorschlag. Einer solchen gesonderten Prüfung bedürfe es auch deshalb, weil die dezentrale Kandidatenaufstellung die Repräsentation der lokalen Ebene sichere.
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Das Unterschriftenerfordernis für Kreiswahlvorschläge verhindere zudem eine Stimmenzersplitterung. Die relative Mehrheitswahl ohne Stichwahl begünstige knappe und deswegen wenig aussagekräftige Mehrheiten. Das Unterschriftenerfordernis verhindere weiter eine Stimmenvergeudung. Denn es stelle sicher, dass die Erststimme nicht einem Kreiswahlvorschlag zufalle, der schon im Ansatz nicht zur Repräsentation des jeweiligen Wahlkreises geeignet sei. Auch die Freistellung von parlamentarisch vertretenen Parteien sei nicht zu beanstanden, da die Ernsthaftigkeit ihrer Vorschläge auch für die Kreiswahl ohne weiteres vermutet werden könne.
18
Das Unterschriftenerfordernis für Landeslisten sichere die Durchführbarkeit der Wahl. Auf dem Wahlzettel könnten nicht beliebig viele Wahlvorschläge stehen. Die Anzahl der erforderlichen Unterschriften sei auch nicht zu hoch, sondern heute eher leichter zu erfüllen als in den fünfziger Jahren, denen der Maßstab des Bundesverfassungsgerichts entstamme, dass ein Unterschriftenquorum von 0,25 Prozent der Wahlberechtigten zulässig sei.
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3. Die Bundesregierung hält die Anträge ebenfalls für unzulässig, hilfsweise für unbegründet. Der Bundespräsident und der Bundesrat, denen die Organklage gemäß § 65 Abs. 2 BVerfGG ebenfalls zugestellt worden ist, haben von einer Stellungnahme abgesehen.
III.
20
1. Am 20. November 2024 hat die Antragstellerin beantragt, das Bundesverfassungsgericht möge im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs. 1 BVerfGG für die Dauer von sechs Monaten § 20 Abs. 2 Satz 3 BWahlG aussetzen und § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG dergestalt ändern, dass das dort genannte Quorum lediglich bei 0,25 vom Tausend der Wahlberechtigten des Landes bei der letzten Bundestagswahl liege, jedoch höchstens bei 500, hilfsweise höchstens bei 1 000 Wahlberechtigten.
21
Aller Voraussicht nach werde die Bundestagswahl vom geplanten Termin, dem 28. September 2025, auf den 23. Februar 2025 vorgezogen. Angesichts der zu erwartenden Fristverkürzung nach § 52 Abs. 3 BWahlG durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat werde es den Parteien, die unter § 18 Abs. 2 Satz 1 BWahlG fielen, allenfalls in einzelnen Ländern und Wahlkreisen möglich sein, die für die Einreichung von Wahlvorschlägen geforderten Unterschriften beizubringen. Die Wahl zum 21. Deutschen Bundestag 2025 sei nicht mit der ebenfalls vorgezogenen Wahl zum 16. Deutschen Bundestag 2005 vergleichbar. Damals habe der Zeitraum zwischen der Ankündigung der Vertrauensfrage durch den Bundeskanzler und der Wahl 118 Tage mit einem bundesweiten Feiertag betragen; diesmal stünden nur 108 Tage mit drei bundesweiten Feiertagen zur Verfügung. Zudem müssten die Unterstützungsunterschriften im Winter und damit unter widrigeren Umständen gesammelt werden. Zu berücksichtigen sei ferner, dass sich die gesetzlichen Fristen zur Einreichung der Unterstützungsunterschriften in der Praxis erheblich dadurch verkürzten, dass die Gemeindebehörden noch das Wahlrecht der jeweiligen Unterstützer bescheinigen müssten, nachdem die Parteien die Unterschriften gesammelt hätten.
22
2. Der Antragsgegner beantragt, den Antrag zurückzuweisen. Er sei möglicherweise schon unzulässig, weil er der Sache nach eine ins Vorfeld der Wahl verlagerte Wahlprüfungsbeschwerde darstelle. Jedenfalls sei er unbegründet. Einer einstweiligen Anordnung stehe schon entgegen, dass die Hauptsache offensichtlich sowohl unzulässig als auch unbegründet sei. Die Folgenabwägung müsse zudem zulasten der Antragstellerin ausfallen.
23
3. Der Bundespräsident, der Bundesrat und die Bundesregierung hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
IV.
24
Das Bundesverfassungsgericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Antragstellerin und der Antragsgegner gemäß § 25 Abs. 1 BVerfGG auf sie verzichtet haben.
B.
25
Die Organklage ist zulässig.
I.
26
Sie ist gegen das Unterlassen von Änderungen des § 20 Abs. 2 Satz 3 und des § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG gerichtet. Dieses Begehren ergibt sich aufgrund einer Auslegung der gestellten Anträge unter Berücksichtigung insbesondere der Antragsbegründung (vgl. BVerfGE 68, 1 <68>; 134, 141 <192 Rn. 149>; 150, 194 <199 Rn. 15>; 151, 191 <197 Rn. 13> – Bundesverfassungsrichterwahl II; 165, 270 <282 Rn. 39> – PartGuaÄndG 2018 – Organstreit; 166, 93 <139 Rn. 127> – Finanzierung Desiderius-Erasmus-Stiftung). Die Antragstellerin wendet sich nicht gegen die Einführung des Zweitstimmendeckungsverfahrens gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 sowie § 6 Abs. 1 Sätze 1 und 4 BWahlG. Vielmehr weist sie darauf hin, dass dieses isoliert betrachtet nicht zu beanstanden sei. Auch die Einfügung der § 20 Abs. 2 Satz 2 und § 26 Abs. 1 Satz 3 BWahlG, die Kreiswahlvorschläge einer Partei an die Voraussetzung knüpfen, dass eine Landesliste dieser Partei zugelassen wird, hält die Antragstellerin für systemimmanent und daher ihre Rücknahme für nicht möglich, solange der Gesetzgeber am System der Zweitstimmendeckung festhalte. Hingegen führt die Antragsbegründung umfänglich aus, dass der Gesetzgeber im Zuge der Einführung des Zweitstimmendeckungsverfahrens die Unterschriftenerfordernisse hätte streichen oder jedenfalls verändern müssen.
II.
27
1. Die Antragstellerin ist antragsbefugt (§ 64 Abs. 1 BVerfGG). Sie macht eine Verletzung ihrer organschaftlichen Rechte (a) durch das Unterlassen der Änderung von § 20 Abs. 2 Satz 3 und von § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG (b) geltend.
28
a) Die Antragstellerin ist als Partei befugt, die Verletzung ihres verfassungsrechtlichen Status aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG im Wege des Organstreits geltend zu machen (vgl. BVerfGE 4, 27 <27, Entscheidungsformel>; stRspr). Sie zeigt auf, dass die unveränderte Verpflichtung, Unterstützungsunterschriften vorzulegen, sie in ihren organschaftlichen Rechten verletzen kann.
29
b) Im Organstreitverfahren kann grundsätzlich sowohl eine Maßnahme als auch eine Unterlassung des Antragsgegners gerügt werden (§ 64 Abs. 1 BVerfGG). In welchen Fallkonstellationen ein Unterlassen des Gesetzgebers Gegenstand eines Organstreits sein kann, hat das Bundesverfassungsgericht bisher nicht abschließend entschieden (vgl. BVerfGE 92, 80 <87>; 103, 164 <168 f.>; 107, 286 <294>; 110, 403 <405>; 114, 107 <118>). Lediglich die Ablehnung eines Gesetzentwurfs hat es bisher als zulässigen Antragsgegenstand angesehen, weil eine solche „qualifizierte“ Unterlassung dem als Maßnahme zu wertenden Erlass eines Gesetzes gleichstehe (vgl. BVerfGE 120, 82 <98 f.>; 142, 25 <47 f. Rn. 60>).
30
Darüber hinaus kann aber auch das „bloße“ Unterlassen einer Gesetzesänderung jedenfalls dann Gegenstand einer Organklage sein, wenn eine Partei die Verletzung ihrer Rechte aus Art. 21 Abs. 1 GG durch die rechtliche Gestaltung des Wahlverfahrens geltend macht. Hierfür steht ihr nicht der Weg der Verfassungsbeschwerde offen, sondern lediglich der Organstreit (vgl. BVerfGE 4, 27; stRspr). Der verfassungsgerichtliche Rechtsschutz von Parteien ist damit jedoch nicht schwächer als die Möglichkeit wahlrechtlicher Verfassungsbeschwerden von Bürgerinnen und Bürgern. Diese können geltend machen, ihre Rechte aus Art. 38 Abs. 1 GG seien verletzt, weil der Gesetzgeber einer verfassungsrechtlichen Handlungspflicht, die sich aus den Grundsätzen der allgemeinen und gleichen Wahl aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG ergibt, nicht nachgekommen sei. Entsprechendes muss für Parteien gelten, die eine Verletzung ihrer Parteienfreiheit und Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG rügen, weil der Gesetzgeber eine solche Handlungspflicht missachtet habe (vgl. BVerfGE 157, 300 <310 f. Rn. 27> – Unterschriftenquoren Bundestagswahl).
31
Eine Handlungspflicht des Wahlgesetzgebers kann nicht nur aufgrund neuer tatsächlicher Entwicklungen (vgl. BVerfGE 146, 327 <353 Rn. 65>; 157, 300 <313 Rn. 32>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 248) entstehen, sondern auch infolge von Änderungen des rechtlichen Umfelds einer konkreten Bestimmung (vgl. BVerfGE 120, 82 <108 f.>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 246 f.). Der weite Gestaltungsspielraum, den Art. 38 Abs. 3 GG dem Wahlgesetzgeber einräumt, schließt eine solche Handlungspflicht nicht generell aus. Denn auch bei einer Reform des Wahlrechts bleibt der Gesetzgeber an die Vorgaben gebunden, die Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG aufstellt (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 136, 142 ff.). Ebenso darf der Gesetzgeber mit einem Wahlgesetz nicht die Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 GG verletzen (vgl. BVerfGE 146, 327 <350 Rn. 60>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 29. November 2023 – 2 BvF 1/21 -, Rn. 163 – Normenkontrolle Bundeswahlgesetz2020; Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 158).
32
Nach diesen Maßstäben erscheint nicht von vornherein ausgeschlossen, dass im vorliegenden Fall eine Handlungspflicht des Gesetzgebers besteht, weil die Unterschriftenerfordernisse aufgrund der Änderung ihres rechtlichen Umfelds und damit der von ihnen vorausgesetzten normativen Grundlagen nunmehr Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und – im vorliegenden Organstreit relevant – Art. 21 Abs. 1 GG verletzen. Die Einführung des Zweitstimmendeckungsverfahrens durch das Wahlrechtsänderungsgesetz 2023 hat den Ausgleich zwischen dem Ergebnis der Erst- und Zweitstimmenwahl neu gestaltet. Hierfür wurde durch § 20 Abs. 2 Satz 2, § 26 Abs. 1 Satz 3 BWahlG auch das Vorschlagsrecht der Parteien für die Wahlkreiswahl und für Landeslisten auf neue Weise miteinander verknüpft. Parteien können nun nicht mehr lediglich mit Kreiswahlvorschlägen an der Bundestagswahl teilnehmen, sondern müssen stets eine Landesliste einreichen. Dies könnte den Unterschriftenerfordernissen möglicherweise die bisher bestehende Rechtfertigung entzogen haben (vgl. BVerfGE 120, 82 <108>) oder zu einer anderen verfassungsrechtlichen Beurteilung führen (vgl. BVerfGE 146, 327 <355 Rn. 71>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 245 ff.).
33
2. Damit geht einher, dass die Organklage die Antragsfrist des § 64 Abs. 3 BVerfGG wahrt. Das Wahlrechtsänderungsgesetz 2023 hat die Frist in Gang gesetzt (a), beginnend mit seiner Verkündung (b).
34
a) Die Antragsfrist beträgt nach § 64 Abs. 3 BVerfGG sechs Monate ab dem Zeitpunkt, in dem die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung dem Antragsteller bekannt geworden ist. Richtet sich eine Organklage in der Sache gegen Normen, wird die Frist auch bei unveränderten Normen neu in Gang gesetzt, wenn eine Gesetzesänderung die geltend gemachte Verfassungswidrigkeit dieser Norm begründet oder verstärkt (vgl. BVerfGE 111, 382 <411>; 114, 107 <117>). Dies kann der Fall sein, wenn zwischen der geänderten und der unveränderten Norm ein Wirkungszusammenhang besteht (vgl. BVerfGE 114, 107 <117>), aufgrund dessen die Gesetzesänderung den jeweiligen Antragsteller erstmals oder in gesteigertem Maße beschwert (vgl. BVerfGE 134, 141 <202 Rn. 184>; Lenz/Hansel, BVerfGG, 4. Aufl. 2024, § 64 Rn. 39).
35
Dies ist hier zum einen in Bezug auf das Unterschriftenerfordernis für Kreiswahlvorschläge der Fall. Auch wenn sich die Belastungswirkung dieses Unterschriftenerfordernisses nicht verändert hat, könnte ihm die bisher bestehende Rechtfertigung entzogen worden sein. Zwar ist die Wahl in den Wahlkreisen entgegen der Annahme der Antragstellerin durch die Einführung des Zweitstimmendeckungsverfahrens nicht „entwertet“ worden. Denn ihr Wert hängt nicht davon ab, ob sie einer Partei zum Einzug in den Bundestag verhelfen kann. Sie ist vielmehr auf den Einzug eines konkreten Wahlbewerbers in den Bundestag gerichtet (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 186). Jedoch kann der Kreiswahlvorschlag einer Partei nicht mehr zur Verlängerung des Stimmzettels führen, weil Parteien ohne zugelassene Landesliste keine Kreiswahlvorschläge einreichen können. Ebenso ist nicht ausgeschlossen, dass Unterstützungsunterschriften für Kreiswahlvorschläge dadurch überflüssig geworden sind, dass die Zulassung eines Kreiswahlvorschlags einer Partei von der Zulassung ihrer Landesliste abhängt (§ 20 Abs. 2 Satz 2, § 26 Abs. 1 Satz 3 BWahlG) und die Partei hierfür bereits Unterstützungsunterschriften vorlegen muss.
36
Zum anderen könnte die Höhe des Unterschriftenerfordernisses für Landeslisten neu zu bewerten sein. Denn ein Unterschriftenquorum darf nicht dazu führen, dass die Parteien den ihnen durch Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG zugewiesenen Auftrag zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes nicht mehr erfüllen können, weil das Unterschriftenerfordernis die Teilnahme an der Wahl praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert (vgl. BVerfGE 157, 300 <317 f. Rn. 42>). Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass die mit § 20 Abs. 2 Satz 2, § 26 Abs. 1 Satz 3 BWahlG eingeführte Verpflichtung, stets mit einer Landesliste an der Bundestagswahl teilzunehmen, die verfassungsrechtlich zulässige Höhe des Unterschriftenerfordernisses für Landeslisten beeinflusst, weil Parteien nicht mehr nur mit einzelnen Kreiswahlvorschlägen an der Wahl teilnehmen können.
37
b) Den Beginn der Antragsfrist einer Organklage gegen Normen hat das Bundesverfassungsgericht dahin konkretisiert, dass dafür der Zeitpunkt maßgeblich ist, zu dem die Norm beim Antragsteller eine aktuelle rechtliche Betroffenheit auszulösen vermag (vgl. BVerfGE 80, 188 <209>; 92, 80 <88>; 118, 277 <321>; 134, 141 <193 Rn. 153>; 166, 93 <154 Rn. 164>). Greift eine politische Partei im Organstreit den Erlass eines Gesetzes an, kommt es daher nicht auf den Zeitpunkt des Gesetzesbeschlusses des Antragsgegners an, sondern auf den Verkündungszeitpunkt des Gesetzes (vgl. BVerfGE 24, 252 <258>; 166, 93 <154 Rn. 164> m.w.N.). Entsprechendes gilt, wenn gerügt wird, der Bundestag habe eine durch Gesetzesänderungen notwendig gewordene Änderung weiterer Vorschriften unterlassen. Da das Wahlrechtsänderungsgesetz 2023 am 13. Juni 2023 im Bundesgesetzblatt verkündet wurde, hat die Antragstellerin die Frist gewahrt.
38
3. Entgegen der Auffassung des Antragsgegners fehlt der Antragstellerin nicht deshalb das im Organstreitverfahren erforderliche Rechtsschutzbedürfnis, weil sie ihm gegenüber eine Konfrontationsobliegenheit verletzt hätte.
39
Bei Organstreitigkeiten zwischen Verfassungsorganen und ihren Organteilen obliegt es zwar dem Antragsteller, die Gegenseite auf die gerügte Rechtsverletzung hinzuweisen (vgl. BVerfGE 129, 356 <375>; 147, 31 <37 f. Rn. 19>). Bestehen verfahrensrechtliche Vorkehrungen, die dazu dienen, verfassungsrechtliche Streitfragen ohne Hinzuziehung des Bundesverfassungsgerichts zu klären, sind diese vor Einleitung eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens auszuschöpfen (vgl. BVerfGE 152, 35 <47 f. Rn. 31> – Ordnungsgeld gegen Abgeordnete; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 18. September 2024 – 2 BvE 1/20 u.a. -, Rn. 74 – Wahl/Abwahl von Ausschussvorsitzenden im Deutschen Bundestag).
40
Auf den Organstreit zwischen einer politischen Partei, die – wie hier die Antragstellerin – nicht im Bundestag vertreten ist, und dem Deutschen Bundestag wegen eines Wahlgesetzes lässt sich diese Anforderung jedoch nicht übertragen (offen gelassen in BVerfGE 157, 300 <331 Rn. 70>). Auch wenn Parteien einen Organstreit führen können, sind sie frei gebildete, im gesellschaftlich-politischen Bereich wurzelnde Vereinigungen, die in den Bereich der institutionalisierten Staatlichkeit hineinwirken, ohne diesem selbst anzugehören (vgl. BVerfGE 166, 93 <156 Rn. 170>; stRspr). Bei der Gesetzgebung räumt ihnen weder das Grundgesetz noch die Geschäftsordnung des Bundestages eine Verfahrensstellung ein. Politische Parteien, die nicht im Bundestag vertreten sind, trifft keine Obliegenheit, sich eigeninitiativ in Beratungen des Gesetzgebers oder einer vom Deutschen Bundestag eingesetzten Reformkommission einzubringen.
C.
41
Der Antragsgegner hat die Antragstellerin durch das Unterlassen einer Änderung der § 20 Abs. 2 Satz 3 und § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG bei seinem Gesetzesbeschluss über das Wahlrechtsänderungsgesetz 2023 nicht in ihren Rechten aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt. Der Deutsche Bundestag war nicht verpflichtet, diese Normen zur Wahrung der Rechte der Antragstellerin zu ändern.
I.
42
1. Prüfungsmaßstab für das vorliegende Verfahren ist Art. 21 Abs. 1 GG. Das Recht der politischen Parteien auf Teilnahme an Wahlen hängt eng mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl zusammen und folgt insoweit den gleichen Maßgaben (vgl. BVerfG, Urteil vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 158; stRspr).
43
2. Das Wahlvorschlagsrecht ist integraler Bestandteil des Wahlrechts (vgl. BVerfGE 41, 399 <417>; 89, 243 <251>; 161, 136 <151 Rn. 49> – Wahlprüfungsbeschwerde 19/IX – Nichtzulassung einer Landesliste zur Bundestagswahl). Es genießt verfassungsrechtlichen Schutz nach den Wahlgrundsätzen des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG. Beschränkungen berühren sowohl den Grundsatz der Wahlfreiheit (vgl. BVerfGE 71, 81 <100>; 161, 136 <151 Rn. 50>) als auch den Grundsatz der Gleichheit der Wahl (vgl. BVerfGE 60, 162 <167 f.>; 71, 81 <99 f.>; 111, 289 <301>).
44
In gleicher Weise wird das Wahlvorschlagsrecht von Parteien durch Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG sowohl in seiner Ausprägung der Parteienfreiheit (vgl. BVerfGE 3, 383 <392>; 161, 136 <151 Rn. 50>) als auch der Chancengleichheit der Parteien (vgl. BVerfGE 157, 300 <315 Rn. 37>) geschützt.
45
Neben der in Art. 21 Abs. 1 Satz 2 GG ausdrücklich genannten Gründungsfreiheit garantiert die Parteienfreiheit den politischen Parteien die Möglichkeit der Mitwirkung an der politischen Willensbildung. Parteien sind nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG berechtigt, an Wahlen zu den Volksvertretungen in Bund und Ländern, die den wichtigsten Vorgang der Willensbildung des Volkes darstellen, grundsätzlich frei mitzuwirken (vgl. BVerfGE 3, 383 <392>; 157, 300 <317 f. Rn. 42>). Die Beteiligung an Wahlen ist von Verfassungs wegen wesentliches und unverzichtbares Element des Parteibegriffs (vgl. BVerfGE 24, 260 <263 f.>; 91, 262 <267 f.>). Parteien haben daher das Recht, Wahlvorschläge zu machen und mit diesen an Wahlen teilzunehmen (vgl. BVerfGE 156, 224 <262 Rn. 105> – Wahlprüfungsbeschwerde 19/VI – Parität; 161, 136 <150 f. Rn. 48>).
46
Das Recht der Parteien auf Chancengleichheit steht in engem Zusammenhang mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl, die ihre Prägung durch das Demokratieprinzip erfahren (vgl. BVerfGE 120, 82 <105>; 140, 1 <23 Rn. 63>; 146, 327 <350 Rn. 60>; 157, 300 <314 Rn. 36>; 159, 40 <72 Rn. 89> – Normenkontrolle Wahlrechtsreform 2020 – eA). Deshalb wird es, ebenso wie die durch die genannten Grundsätze verbürgte Gleichbehandlung der Wählerinnen und Wähler, in einem strikten und formalen Sinn verstanden. Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG garantiert den politischen Parteien somit nicht nur die Freiheit ihrer Gründung und die Mitwirkung an der politischen Willensbildung, sondern auch, dass diese Mitwirkung auf der Grundlage gleicher Rechte und gleicher Chancen erfolgt (vgl. BVerfGE 135, 259 <285 Rn. 48>; 146, 327 <350 Rn. 60>; 157, 300 <314 f. Rn. 36>). Der verfassungsrechtliche Schutz des Wahlvorschlagsrechts der Parteien entspricht daher den Maßgaben des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG für das Wahlvorschlagsrecht der Wahlberechtigten.
47
3. Beschränkungen des Wahlvorschlagsrechts können nur gerechtfertigt sein, wenn sie dem Schutz von Verfassungsgütern dienen, die der Parteienfreiheit und Chancengleichheit die Waage halten können (vgl. BVerfGE 157, 300 <315 Rn. 38>; 161, 136 <152 Rn. 52>). Einen solchen Rang hat das Ziel, den Charakter der Wahl als einen Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes zu sichern (vgl. BVerfGE 157, 300 <316 Rn. 40>). Es umfasst gleichermaßen die Sicherstellung, dass gewichtige Anliegen im Volk nicht von der Volksvertretung ausgeschlossen bleiben, und das Hervorbringen eines funktionsfähigen Parlaments (vgl. BVerfGE 6, 84 <92 f.>; 95, 408 <419>; 146, 327 <355 Rn. 71>; BVerfG, Urteil des Zweitens Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 143). Mit dieser doppelten Funktion legitimieren Wahlen die Träger der staatlichen Macht.
48
Hierfür zielt das Verhältniswahlrecht darauf, die Entscheidungen der Wahlberechtigten für eine parteipolitische Richtung in einem möglichst den Stimmenzahlen angenäherten Verhältnis im Parlament als Spiegelbild der wesentlichen parteipolitischen Gruppierungen abzubilden (vgl. BVerfGE 95, 335 <352, 370>; 95, 408 <419>; 146, 327 <350 Rn. 59>). Politische Anliegen werden bei der Wahl nicht als Sachfragen zur Abstimmung gestellt, sondern durch Parteien mediatisiert (vgl. BVerfGE 20, 56 <101>; 44, 125 <145 f.>; 73, 40 <85>; 91, 276 <284 f.>). Die Konzentrationswirkung der Wahl, die durch eine Sperrklausel noch verstärkt werden kann (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 233 ff.), verlangt daher von den Wahlberechtigten eine Entscheidung zwischen den Wahlvorschlägen der Parteien. Diese Konzentrationswirkung hat noch erheblich größere Bedeutung für die Wahlkreiswahl, die nach dem Mehrheitsprinzip für den jeweiligen Wahlkreis das Ergebnis auf einen Sieger, in der Praxis auf den Vertreter einer Partei, reduziert.
II.
49
Die Unterschriftenerfordernisse des § 20 Abs. 2 Satz 3 BWahlG für Kreiswahlvorschläge und des § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG für Landeslisten beschränken die Rechte der Antragstellerin aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG (1.). Dies ist jedoch gerechtfertigt (2.). Auch die Änderungen durch das Wahlrechtsänderungsgesetz 2023 haben zu keinem verfassungsrechtlich gebotenen Änderungsbedarf geführt (3.).
50
1. Die Bestimmungen über Unterstützungsunterschriften beschränken das Wahlvorschlagsrecht (a) und damit die Rechte der Antragstellerin aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG (b).
51
a) Unterschriftenerfordernisse schränken das Wahlvorschlagsrecht der Parteien ein, das für die Vielfalt der Wahlmöglichkeiten wesentliche Bedeutung hat.
52
Grundsätzlich können Parteien ebenso wie einzelne Wahlberechtigte Wahlvorschläge nicht alleine einreichen. Sie bedürfen vielmehr der Unterstützung einer gesetzlich bestimmten Anzahl von Wahlberechtigten des jeweiligen Wahlkreises beziehungsweise Landes. Wahlberechtigte sind teils rechtlich, teils faktisch darauf beschränkt, den Wahlvorschlag einer Partei zu unterstützen. Denn der Vorschlag von Landeslisten ist nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BWahlG Parteien vorbehalten. Obwohl Kreiswahlvorschläge nach § 18 Abs. 1 BWahlG auch unabhängig von einer Partei möglich sind (vgl. hierzu BVerfGE 41, 399 <417 f.>), werden in der Praxis die meisten Vorschläge von Parteien eingereicht.
53
Vom Unterstützungserfordernis ausgenommen sind zum einen Parteien nationaler Minderheiten (vgl. § 20 Abs. 2 Satz 4 BWahlG beziehungsweise § 27 Abs. 1 Satz 4 BWahlG), zum anderen – praktisch wesentlich bedeutsamer – Parteien, die bereits im Bundestag oder einem Landtag mit einem bestimmten Gewicht, nämlich mit mindestens fünf Abgeordneten, vertreten sind. Die zuletzt genannten Parteien müssen gemäß § 18 Abs. 2 BWahlG weder ihre Beteiligung an der Wahl anzeigen noch ihre Parteieigenschaft durch den Bundeswahlausschuss feststellen lassen. Wahlvorschläge können sie ohne die Unterstützung durch Wahlberechtigte einreichen. In der Praxis sind Unterschriftenerfordernisse also lediglich für „kleine“ Parteien relevant.
54
b) Die Antragstellerin ist weder im Deutschen Bundestag noch in einem Landtag vertreten und daher unmittelbar von den Beschränkungen der § 20 Abs. 2 Satz 3 und § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG betroffen. Die Unterstützungserfordernisse beeinträchtigen ihre von der Parteienfreiheit umfasste Möglichkeit, an Bundestagswahlen mit eigenen Wahlvorschlägen teilzunehmen. Im Verhältnis zu Parteien, die nicht verpflichtet sind, Unterstützungsunterschriften vorzulegen, ist auch ihr Recht auf Chancengleichheit verkürzt.
55
2. Diese Beschränkungen der Rechte der Antragstellerin sind jedoch gerechtfertigt. Sie dienen dem Ziel, den Charakter der Wahl als einen Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes zu sichern (a). Hierfür ist das Erfordernis von Unterstützungsunterschriften geeignet und erforderlich (b). Die jeweilige Höhe der Unterschriftenquoren wahrt die Parteienfreiheit (c). Die Begrenzung der Unterschriftenerfordernisse auf Parteien, die ihre Wahlbeteiligung nach § 18 Abs. 2 BWahlG anzeigen müssen und keine Parteien nationaler Minderheiten sind, verletzt die Chancengleichheit der Parteien nicht (d).
56
a) Unterschriftenerfordernisse haben wie andere Beschränkungen des Wahlvorschlagsrechts den Zweck, die Anzahl der zugelassenen Wahlvorschläge zu reduzieren. Bei der Wahl ist damit lediglich eine Auswahl zwischen diesen Vorschlägen möglich. Diese Reduktion sichert den Charakter der Wahl als Integrationsvorgang. Darin liegt ihr legitimer Zweck. Das gewählte Parlament soll durch die Fraktionen, die seine Abgeordneten entsprechend ihrer Parteizugehörigkeit und ihrer gemeinsam verfolgten Ziele bilden, die parteipolitischen Präferenzen der Wahlberechtigten widerspiegeln (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 237 m.w.N.). Die Wahl bündelt diese Präferenzen notwendigerweise in verallgemeinernder Weise unter Inkaufnahme unterschiedlicher Auffassungen im Einzelnen. Damit zielen Beschränkungen des Wahlvorschlagsrechts darauf ab, die Stimmen der Wählerinnen und Wähler zu einem Wahlergebnis zu integrieren (vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluss vom 17. September 2021 – 22/21 -, juris, Rn. 55) und stabile Mehrheits- und Regierungsverhältnisse zu ermöglichen (vgl. BVerfGE 3, 19 <27>; ferner BVerfGE 3, 383 <393>; 6, 84 <98>; 157, 300 <316 Rn. 40>).
57
Unterstützungsunterschriften dienen damit letztlich demselben Ziel, das auch Sperrklauseln rechtfertigt. Jedoch wird die Sicherung des Charakters der Wahl als Integrationsvorgang auf zwei unterschiedlichen Stufen verwirklicht. Sperrklauseln hindern Parteien am Einzug ins Parlament und wollen damit eine parteipolitische Zersplitterung des Parlaments in viele kleine Gruppen verhindern (vgl. auch BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 233 ff.). Zulassungsbeschränkungen wirken demgegenüber schon der Stimmenzersplitterung bei der Wahl selbst entgegen (vgl. BVerfGE 3, 19 <27>; 3, 383 <392 f. und 398 f.>; 6, 84 <98>; 12, 132 <133 f.>; 24, 300 <341>; 41, 399 <421>; 157, 300 <316 Rn. 40>; Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 28. Januar 2021 – VGH O 82/20 u.a. -, Leitsatz 2, juris; Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluss vom 17. September 2021 – 22/21 -, juris, Rn. 54) und reduzieren dadurch das Risiko, dass die auf die einzelnen Wahlvorschläge entfallenden Stimmenzahlen durchgehend niedrig sind.
58
Bei der Wahlkreiswahl, die als relative Mehrheitswahl ohne Stichwahl durchgeführt wird, begrenzt das Unterschriftenerfordernis die Gefahr, dass die erfolgreichen Wahlvorschläge durch eine zunehmende Zahl an Wahlvorschlägen und dadurch sinkende – „zersplitterte“ – Stimmenzahlen pro Wahlvorschlag an Legitimation verlieren (vgl. BTDrucks 20/5370, S. 10; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 186, 282). Auch bei der Verhältniswahl kann die Integrationsfunktion der Wahl gefährdet sein, wenn ein großer Teil der Wahlstimmen bei der Sitzzuteilung, etwa aufgrund einer Sperrklausel, nicht berücksichtigt wird (vgl. BVerfGE 146, 327 <355 Rn. 71>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 248). Eine Beschränkung der Wahlvorschläge fördert in beiden Fällen Ergebnisse mit starken Gewinnern. Sie ermöglicht ein größeres Gewicht der erfolgreichen Wahlvorschläge und stärkt damit deren demokratische Legitimation.
59
b) Die Bestimmungen über Unterstützungsunterschriften des Bundeswahlgesetzes sind geeignet (aa) und erforderlich (bb), um das Ziel einer Begrenzung der Wahlvorschläge in einer Weise zu erreichen, die den Charakter der Wahl als Integrationsvorgang sichert.
60
aa) Die Unterschriftenerfordernisse des Bundeswahlgesetzes sind geeignet, einer Stimmenzersplitterung bei der Wahl entgegenzuwirken, indem sie den Wahlakt auf ernst zu nehmende Wahlvorschläge beschränken und hierfür Vorschläge ausschließen, für die eine Erfolgschance nicht erkennbar ist.
61
Bezugspunkt der Unterstützungsunterschriften ist dabei der Vorschlag, der zur Wahl steht, nicht die hinter dem Vorschlag stehende Partei. Zwar können Wahlberechtigte einen Wahlvorschlag deshalb unterstützen, weil sie die Ziele und das Programm der Partei befürworten, der die oder der Vorgeschlagene angehört. Dennoch bezieht sich der Vorschlag sowohl in Bezug auf den Wahlkreis als auch in Bezug auf die Landeslisten auf konkrete Personen (vgl. BVerfGE 7, 63 <69>; 95, 335 <349 f.>).
62
Unterstützungsunterschriften rechtfertigen die Annahme, dass ein Wahlvorschlag überhaupt eine Erfolgschance hat. Sie bringen den Wunsch einer bestimmten Anzahl Wahlberechtigter zum Ausdruck, dass dem Vorschlag eine Chance eingeräumt werden soll (vgl. BVerfGE 82, 353 <364>). Darin liegt keine Aussage, dass diese Wahlberechtigten selbst beabsichtigen, den oder die vorgeschlagenen Bewerber zu wählen. Unterstützungsunterschriften belegen lediglich das Anliegen, dass der Vorschlag ernst genommen werden, also der oder die Bewerber des Wahlvorschlags als „ernsthaft“ gelten sollen (vgl. BVerfGE 157, 300 <316 Rn. 39>; vgl. auch Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 28. Januar 2021 – VGH O 82/20 u.a. -, Leitsatz 2, juris; Verfassungsgericht des Landes Brandenburg, Beschluss vom 17. September 2021 – 22/21 -, juris, Rn. 54; Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21. Juni 2022 – 89/20 -, juris, Rn. 51 mit Verweis auf seinen Beschluss vom 7. Oktober 2003 – 11/02 -, juris, Rn. 37).
63
Die Unterschriftenerfordernisse der § 20 Abs. 2 Satz 3 und § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG sind zur Begrenzung der Wahlvorschläge auch erforderlich. Zur Erreichung des Ziels, den Charakter der Wahl als Integrationsvorgang zu sichern, sind andere Möglichkeiten nicht in gleicher Weise geeignet (1). Auch ist der Gesetzgeber nicht zu einer anderen Ausgestaltung des Wahlrechts verpflichtet (2).
64
(1) Ein Verzicht auf jede über den Nachweis der Parteieigenschaft hinausgehende Anforderung trüge dem Ziel, die Wahl auf ernst zu nehmende Wahlvorschläge zu begrenzen, nicht in gleicher Weise Rechnung. Seit Einführung des Parteianerkennungsverfahrens gemäß § 18 Abs. 2 bis 4 BWahlG ist das Unterschriftenerfordernis kein Indiz mehr für die Parteieigenschaft (vgl. bereits BVerfGE 4, 375 <383>). Die Anforderungen an die Parteieigenschaft gemäß § 2 PartG hat der Gesetzgeber dabei jedoch so niederschwellig ausgestaltet, dass sich aus ihr allein noch nicht ergibt, dass ein Wahlvorschlag zur Bundestagswahl ernst zu nehmen ist.
65
Zwar setzt § 2 Abs. 1 PartG voraus, dass eine Vereinigung unter anderem nach der Zahl ihrer Mitglieder eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit ihrer Zielsetzung bietet, an der politischen Willensbildung durch Wahlen im Bund oder einem Land mitzuwirken. Eine konkrete Mitgliederzahl wird jedoch nicht verlangt. Bei neuen politischen Vereinigungen dürfen auch nur reduzierte Anforderungen an den Nachweis der Ernsthaftigkeit im Sinne des § 2 Abs. 1 PartG gestellt werden, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Aufbau einer entsprechenden Organisation eine gewisse Zeit erfordert. Die Anforderungen verdichten sich erst mit wachsendem zeitlichen Abstand zum Gründungsdatum (vgl. BVerfGE 91, 262 <269 ff.>; 91, 276 <287 ff.>; 134, 131 <133 Rn. 8 f.>; 146, 319 <323 Rn. 15 f.>; Bechler, in: Barczak, BVerfGG, 2018, § 96a Rn. 15).
66
Zudem verlangt die Parteieigenschaft gemäß § 2 Abs. 1 PartG nicht, dass eine Partei für den Bereich des Bundes auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen und an der Vertretung des Volkes im Deutschen Bundestag mitwirken will. Es genügt, dass sie dies für den Bereich eines Landes anstrebt. Ebenso verliert eine Vereinigung ihre Rechtsstellung als Partei nach § 2 Abs. 2 Satz 1 PartG nicht schon dann, wenn sie sechs Jahre lang an keiner Bundestagswahl mit eigenen Wahlvorschlägen teilgenommen hat. Auch insoweit genügt die Teilnahme an einer Landtagswahl. Nach § 6 Abs. 4 PartG sind Landesparteien, deren Organisation sich auf das Gebiet eines Landes beschränkt, ausdrücklich vorgesehen. Eine Pflicht, das gesamte Wahlgebiet abzudecken, besteht nicht (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 252, 257).
67
Vor diesem Hintergrund ist es ohne weiteres möglich, dass eine Partei in einem konkreten Wahlkreis oder Listenwahlgebiet völlig unbekannt ist oder ihr Wahlvorschlag dort aus anderen Gründen keinerlei Erfolgschancen hat. Wahlvorschläge in einem solchen Fall nicht zuzulassen, ist gerade der Sinn des Unterschriftenerfordernisses (vgl. BVerfGE 82, 353 <364 f.>).
68
Eine Anknüpfung an andere Anhaltspunkte als das Erfordernis bloßer Unterstützungsunterschriften, wie etwa die von der Antragstellerin angeführte Hinterlegung einer Kaution, griffe stärker in die Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl und damit auch in die Rechte der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 GG ein. Unterstützungsunterschriften können alle Wahlberechtigten in gleicher Weise leisten, so dass Parteien bei der Einreichung ihrer Wahlvorschläge – vom Ausnahmefall für Parteien nationaler Minderheiten (§ 20 Abs. 2 Satz 4 BWahlG) abgesehen – keinen qualitativen und damit potentiell selektiven Anforderungen unterliegen.
69
(2) Der Gesetzgeber ist auch nicht zu einer alternativen Ausgestaltung des Wahlrechts verpflichtet. Art. 38 Abs. 3 GG weist ihm einen weiten Spielraum zu, innerhalb dessen er in seiner Entscheidung für ein Wahlsystem und dessen Modifikationen grundsätzlich frei ist (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 138 m.w.N.).
70
Deshalb ist der Gesetzgeber – anders als die Antragstellerin meint – nicht verpflichtet, eine absolute Mehrheitswahl mit Stichwahl oder eine Verhältniswahl mit Ersatzstimmen einzuführen, um das von ihm verfolgte Ziel einer Konzentration der Stimmen und damit Ergebnisse mit legitimierender Kraft zu erreichen. Auch solche Alternativen verwirklichen das Ziel, den Charakter der Wahl als Integrationsvorgang zu sichern, im Übrigen nicht vollständig. Für eine Eventualstimme hat der Senat dies bereits entschieden (vgl. BVerfGE 146, 327 <359 ff. Rn. 80 ff.>). Ähnliches gilt für Stichwahlen, bei denen regelmäßig ein Absinken der Wahlbeteiligung zu beobachten ist (vgl. OVGE NRW 52, 280 <281 f.>; Mehde, KommJur 2013, S. 446 <447 ff.>).
71
c) Die Anforderungen, die die Parteienfreiheit an die Höhe der Unterschriftenquoren stellt (aa), sind sowohl für Kreiswahlvorschläge (bb) als auch für Landeslisten (cc) gewahrt.
72
aa) Der mit den Unterschriftenerfordernissen verfolgte Zweck verlangt einerseits eine gewisse Mindestzahl von Unterschriften. Unterstützungsunterschriften als Zulassungsvoraussetzung sind nur sinnvoll, wenn die Anzahl der Unterschriften den Schluss rechtfertigt, der Vorschlag sei nicht völlig aussichtslos. Das ist jedenfalls dann nicht mehr der Fall, wenn „jedermann“ unschwer imstande wäre, für einen Wahlvorschlag die vom Gesetzgeber verlangte Zahl von Unterschriften beizubringen (vgl. BVerfGE 4, 375 <384>). Die legitimationsstiftende Integrationsfunktion, die der Wahl bei der politischen Willensbildung zukommt, könnte damit nicht gefördert werden.
73
Andererseits müssen die Unterschriftenerfordernisse in einem engen Rahmen bleiben, um der Wählerentscheidung möglichst wenig vorzugreifen (vgl. BVerfGE 60, 162 <168>; 157, 300 <318 Rn. 42>). Die Anzahl der Unterschriften darf nur so hoch festgesetzt werden, wie es für die Erreichung dieses Zweckes erforderlich ist. Sie darf nicht so hoch sein, dass einer neuen Partei die Teilnahme an einer Wahl praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird (vgl. BVerfGE 4, 375 <384>; 60, 162 <168 f.>; 71, 81 <97>; 111, 289 <303>; 157, 300 <318 Rn. 42>). Die Teilnahme „neuer“ und ebenso seit vielen Jahren aktiver „kleiner“ Parteien an Bundestagswahlen hat für die politische Willensbildung auch dann eine Funktion, wenn der Einzug in den Bundestag unwahrscheinlich ist. Wahlberechtigte können mit ihrer Stimme zum Ausdruck bringen, dass sie bestimmte, von einer solchen Partei womöglich fokussiert vertretene Anliegen von anderen Parteien nur unzureichend repräsentiert sehen.
74
bb) Die Anzahl der für Kreiswahlvorschläge nach § 20 Abs. 2 Satz 3 BWahlG erforderlichen 200 Unterstützungsunterschriften ist danach nicht zu beanstanden. Angesichts einer durchschnittlichen Wahlkreisgröße von 215 000 Wahlberechtigten (vgl. Bericht der Wahlkreiskommission für die 20. Wahlperiode des Deutschen Bundestages, BTDrucks 20/5200, S. 14) entsprechen 200 Unterschriften grob 1 vom Tausend der Wahlberechtigten eines durchschnittlichen Wahlkreises. Dies liegt deutlich unterhalb der Quote von rund 0,25 Prozent der Wahlberechtigten, die das Bundesverfassungsgericht bisher als verfassungskonform angesehen hat (vgl. BVerfGE 4, 375 <386>; 12, 132 <134>; 157, 300 <319 Rn. 45, 59>).
75
Die Realbedingungen einer Wahl, die die Rechtsprechung berücksichtigt (vgl. BVerfGE 157, 300 <319 Rn. 47>), führen auch weiterhin zu keiner anderen Bewertung.
76
Entgegen der Annahme der Antragstellerin stellt der Vorschlag des ehemaligen Bundeswahlleiters, bei vorgezogenen Bundestagswahlen die Zahl der erforderlichen Unterschriften zu verringern (vgl. Thiel, Wahlrechtliche Anpassungsbedarfe aus Erfahrungen der Bundestagswahl 2021, WISTA 6/2022, S. 79 <87>), kein Indiz für die Verfassungswidrigkeit der Unterschriftenquoren dar. Er verweist lediglich auf eine rechtspolitische Möglichkeit, die der Gesetzgeber – vorliegend im Wahlrechtsänderungsgesetz 2023 – nicht aufgegriffen hat (vgl. BVerfGE 114, 107 <119 f.>).
77
cc) Entsprechendes gilt für die Unterstützung von Landeslisten. Hierfür sieht § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG einerseits eine Höchstzahl von 2 000 und andererseits eine relative Anzahl von 1 vom Tausend der Wahlberechtigten vor. Die prozentuale Anforderung entspricht im Wesentlichen dem Anteil an Unterstützern, der auch für die Wahlkreiswahl erforderlich ist (vgl. oben Rn. 74; auch BVerfGE 157, 300 <324 Rn. 59>). Im Übrigen kann die Sammlung der Unterstützungsunterschriften für die jeweilige Landesliste und die Wahlkreisvorschläge im Wesentlichen parallel erfolgen, zumal Parteien in der Praxis auch regelmäßig die Personen auf ihrer Landesliste als Wahlkreisbewerber vorschlagen. Das Unterstützungserfordernis für Landeslisten stellt damit keine substantiell höheren Anforderungen an einen Wahlvorschlag als § 20 Abs. 2 Satz 3 BWahlG für Kreiswahlvorschläge.
78
d) Die Erfordernisse der § 20 Abs. 2 Satz 3 und § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG verletzen die Antragstellerin auch nicht in ihrem Recht auf Chancengleichheit gegenüber anderen Parteien. Zwar sind zum einen Parteien nationaler Minderheiten und zum anderen Parteien, die nicht von der Anzeigepflicht gemäß § 18 Abs. 2 BWahlG erfasst sind, hiervon ausgenommen. Dies bedarf vor dem Gebot der Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG der Rechtfertigung (aa). Die gesetzliche Differenzierung genügt jedoch diesen Anforderungen (bb).
79
aa) Die Ausgestaltung der Unterschriftenerfordernisse darf die Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG nicht verletzen. Allein der Umstand, dass ein Unterschriftenerfordernis für sich genommen gerechtfertigt ist, macht die Rechtfertigung einer Regelung, die bestimmte Parteien hiervon ausnimmt oder Alternativen einräumt, nicht entbehrlich. Allerdings muss diese Privilegierung nicht notwendigerweise mit den gleichen Erwägungen gerechtfertigt werden, die die Rechtfertigung des Unterschriftenquorums an sich begründen.
80
Vergleichbar zur Sperrklausel und zur Grundmandatsklausel (beziehungsweise Wahlkreisklausel) kommt es auf eine je eigenständige Rechtfertigung der Differenzierung gegenüber den Parteien an, die benachteiligt sind (vgl. BVerfGE 6, 84 <94 ff.>; 95, 408 <419 f.>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 276). Der gewählte Differenzierungsgrund muss dabei nicht zwingend sein. Der Gesetzgeber darf unterhalb einer für sich genommen gerechtfertigten Zugangshürde auch alternative Zugangswege eröffnen (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 275).
81
bb) Danach darf der Gesetzgeber Parteien nationaler Minderheiten (1) und Parteien, die der Anzeigepflicht nach § 18 Abs. 2 BWahlG nicht unterliegen (2), von den Unterschriftenerfordernissen befreien, ohne dass dies die Chancengleichheit der Parteien verletzt.
82
(1) Parteien nationaler Minderheiten fördert der Gesetzgeber in besonderer Weise. Er hat sie auch von den Anforderungen der Sperrklausel befreit, weil er sie als bedeutsam für die parlamentarische Vertretung der Wahlberechtigten angesehen hat. Dies ist verfassungsrechtlich zulässig (vgl. BVerfGE 5, 77 <83>; 6, 84 <97 f.>).
83
(2) Die Vertretung einer Partei in einem Parlament stellt ebenfalls einen zulässigen Differenzierungsgrund dar (a). Dem trägt die Befreiung der nicht nach § 18 Abs. 2 Satz 1 BWahlG anzeigepflichtigen Parteien Rechnung (b).
84
(a) Die parlamentarische Vertretung einer Partei bietet unabhängig vom Unterschriftenerfordernis einen eigenen Anhaltspunkt dafür, dass ein Wahlvorschlag dieser Partei ernst zu nehmen ist (vgl. BVerfGE 3, 19 <27>; 12, 10 <28>; 157, 300 <317 Rn. 41>). Der Gesetzgeber darf im Hinblick auf die parlamentarische Vertretung berücksichtigen, dass eine Partei bei der letzten Wahl tatsächlich eine Zustimmung erfahren hat, die um ein Vielfaches über den geforderten Unterschriften liegt. Weiter darf er annehmen, dass die politischen Rückwirkungen der parlamentarischen Tätigkeit einer Partei deren Wählerstamm stabilisieren (vgl. BVerfGE 82, 353 <375>). Die bereits im Deutschen Bundestag oder einem Landtag vertretenen Parteien üben durch ihre parlamentarische Tätigkeit eine Mittlerposition zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und den staatlichen Institutionen aus (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 189).
85
Zudem hat die Befreiung der parlamentarisch vertretenen Parteien für die dem Unterstützungserfordernis unterliegenden Parteien eine ambivalente Wirkung. Einerseits stellen die notwendigen Bemühungen um Unterstützungsunterschriften und die Möglichkeit, dass ein Wahlvorschlag an unzureichender Unterstützung scheitert, eine Benachteiligung der „kleinen“ Parteien dar. Andererseits erscheint die Gewinnung von Unterstützung gerade dadurch leichter, dass diese lediglich untereinander und mit unabhängigen Bewerbern, nicht jedoch mit den parlamentarisch vertretenen Parteien um die Unterstützung durch Wahlberechtigte, die gemäß § 34 Abs. 4 Nr. 4, § 39 Abs. 3 Satz 5 BWO jeweils nur einen Wahlvorschlag unterstützen dürfen, konkurrieren.
86
(b) Die Befreiung von Parteien, die seit der letzten Wahl aufgrund eigener Wahlvorschläge ununterbrochen mit mindestens fünf Abgeordneten im Bundestag vertreten sind, ist hiernach ohne weiteres gerechtfertigt.
87
Auch die Privilegierung einer Partei, die lediglich in einem Landtag aufgrund eigener Wahlvorschläge mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten ist, ist nicht zu beanstanden. Sie soll diesen Parteien die gleichen Chancen einräumen, die den im Bundestag vertretenen Parteien zustehen. Bei dieser Grenzziehung darf der Gesetzgeber im Interesse der Verfahrensvereinfachung und Praktikabilität typisieren (vgl. BVerfGE 3, 383 <393>; BayVerfGHE 48, 61 <74>). Daher darf er auch bereits die parlamentarische Vertretung in nur einem Land als Anhaltspunkt dafür genügen lassen, dass die Wahlvorschläge dieser Partei nicht von vornherein aussichtslos sind. Zudem darf der Gesetzgeber auch der föderalen Struktur der Parteienlandschaft Rechnung tragen und damit Parteien fördern, die aus einer regionalen Stärke in einem Land heraus (vgl. zu einer solchen Empfehlung Köhler, Parteien im Wettbewerb, 2006, S. 154; ähnlich Valentiner, AöR 147 <2022>, S. 229 <247>) an der politischen Willensbildung im Bund teilnehmen wollen.
88
Dass sich die Privilegierung nicht ebenso auf Parteien erstreckt, die im Europäischen Parlament vertreten sind, verletzt die Rechte der Antragstellerin nicht. Zwar ist sie im Europäischen Parlament vertreten, jedoch lediglich mit einer Abgeordneten (vgl. Die Bundeswahlleiterin, Europawahl 2024, Heft 3, Endgültige Ergebnisse nach kreisfreien Städten und Landkreisen, S. 227; https://www.oedp.de/politik/eu-parlament, Abruf 29. November 2024). Eine Gleichstellungspflicht des Gesetzgebers kommt aber mangels Vergleichbarkeit der Sachverhalte nicht schon bei nur einem Mandat im Europäischen Parlament in Betracht.
89
3. Auch unter den veränderten Bedingungen des Bundeswahlgesetzes 2023 gilt nichts anderes. Der Bundestag war weder zur Änderung des § 20 Abs. 2 Satz 3 BWahlG (a) noch zur Änderung des § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG (b) verpflichtet.
90
a) Das Unterschriftenquorum für Kreiswahlvorschläge gemäß § 20 Abs. 2 Satz 3 BWahlG ist weiterhin mit dem Grundgesetz vereinbar.
91
Entgegen der Ansicht der Antragstellerin ist der Gesetzgeber nicht verpflichtet, wegen der Neuregelung des § 20 Abs. 2 Satz 2 BWahlG bereits die Zulassung eines Listenvorschlags als ausreichenden Anhaltspunkt dafür anzusehen, dass ein Kreiswahlvorschlag ernst zu nehmen ist. Dem Gesetzgeber steht es frei, aus der Listenzulassung darauf zu schließen, dass die Kreiswahlvorschläge ebenfalls nicht völlig aussichtslos sind. Damit könnte er zudem die Kreiswahlausschüsse von der Überprüfung dieser Unterstützungsunterschriften entlasten. Das Bundesverfassungsgericht überprüft jedoch nicht, ob der Gesetzgeber zwischen verschiedenen Alternativen, die jeweils mit Art. 38 Abs. 1 und – hier maßgeblich – Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar sind, die zweckmäßigste Lösung gewählt hat (vgl. zuletzt BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 165).
92
Für die Beibehaltung des Unterschriftenerfordernisses spricht auch weiterhin seine Funktion, die Auswahl der Kreiswahlvorschläge zu begrenzen. Denn die Wahlkreiswahl wird als Mehrheitswahl durchgeführt. Sie vermittelt unter dem Zweitstimmendeckungsverfahren gerade die demokratische Legitimation, die zur vorrangigen Berücksichtigung der erfolgreichen Wahlkreisbewerber bei der Sitzzuteilung führt (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 186, 282). Der Gesetzgeber darf diese Funktion nach wie vor durch das die Auswahl reduzierende Unterschriftenerfordernis absichern.
93
b) Das Unterschriftenquorum für Landeslisten nach § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG ist ebenfalls weiterhin verfassungsgemäß. Sein Zweck besteht unverändert fort (aa). Auch seine Höhe bedarf keiner Modifikation (bb). Ein Handlungsbedarf zur Gleichstellung mit unabhängigen Bewerbern besteht nicht (cc).
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aa) Der Gesetzgeber darf Landeslisten weiterhin unter den Vorbehalt von Unterstützungsunterschriften stellen. Die Rahmenbedingungen für ihren Zweck haben sich nicht verändert. Die mit dem Unterschriftenerfordernis verbundene Reduktion der Auswahlmöglichkeiten bei der Wahl dient der Integrationsfunktion der Wahl.
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Denn das Bundeswahlrecht hält an den Grundsätzen der Verhältniswahl fest und hat auch die Sperrklausel in Höhe von fünf Prozent der bundesweit gültigen Zweitstimmen beibehalten. Die Rahmenbedingungen des Landeslistenquorums haben sich auch nicht durch die Anordnung des Bundesverfassungsgerichts geändert, dass Parteien ungeachtet ihres Zweitstimmenergebnisses auch im Fall von drei erfolgreichen Wahlkreisbewerbern bei der Sitzverteilung zu berücksichtigen sind (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 288 ff.).
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Wie die Antragstellerin selbst zutreffend darlegt, kann sich durch eine geringere Auswahl bei der Wahl der Anteil der Zweitstimmen, die auf Parteien mit weniger als fünf Prozent der gültigen Stimmen entfallen, tendenziell verringern. Sie irrt jedoch in der Annahme, dass die damit etwas leichtere Überwindung der Sperrklausel unerwünscht sei. Im Gegenteil könnte die fehlende Repräsentation der Wahlstimmen für Parteien, die aufgrund der Sperrklausel nicht in das Parlament einziehen, wenn sie einen erheblichen Umfang erreicht, die Integrationsfunktion der Wahl beeinträchtigen (vgl. BVerfGE 146, 327 <355 Rn. 71>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 248).
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bb) Auch die Höhe des Unterschriftenquorums bedarf keiner Absenkung. Zwar scheidet aufgrund von § 20 Abs. 2 Satz 2, § 26 Abs. 1 Satz 3 BWahlG die Teilnahme an der Bundestagswahl lediglich mit Kreiswahlvorschlägen aus. Die damit verbundene Einschränkung der Parteienfreiheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG ist jedoch durch die Bedingungen des Zweitstimmendeckungsverfahrens gerechtfertigt (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 215 ff.). „Kleinen“ und neuen Parteien wird die Teilnahme an der Bundestagswahl dadurch weder unmöglich gemacht noch unzumutbar erschwert. Schon in der Vergangenheit haben deutlich mehr „kleine“ und neue Parteien mit – häufig nur einzelnen – Landeslisten als solche lediglich mit Wahlkreisvorschlägen an der Bundestagswahl teilgenommen (vgl. Der Bundeswahlleiter, Ergebnisse früherer Bundestagswahlen, 2022, S. 32 ff.). Vor diesem Hintergrund ist auch unter Aufrechterhaltung des – nunmehr für alle „kleinen“ Parteien geltenden – Unterschriftenquorums für Landeslisten kein erheblicher Rückgang der an Bundestagswahlen teilnehmenden Parteien zu erwarten. Dies gilt umso mehr, als die Gesamtzahl der zugelassenen Parteien gestiegen ist.
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Soweit die Antragstellerin anführt, die Versagung der Teilnahme an der Bundestagswahl könne die Existenz einer Partei gefährden, handelt es sich nicht um einen Gesichtspunkt, der die Höhe des – ansonsten gerechtfertigten – Unterschriftenerfordernisses beeinflussen kann. Die Antragstellerin übergeht dabei bereits, dass nach § 2 Abs. 2 Satz 1 PartG alternativ die Teilnahme an nur einer Landtagswahl für die Erhaltung der Parteieigenschaft genügt. Ebenso wenig kommt es auf das Anliegen einer Partei an, durch die Wahlbeteiligung sichtbar zu werden. Zwar hat die Teilnahme und damit auch die Sichtbarkeit „kleiner“ Parteien Bedeutung für die politische Willensbildung, die sich nicht auf den parlamentarischen Raum beschränkt. Dies ändert jedoch nichts daran, dass sich zusätzlich zur Partei auch die geforderte Zahl von Unterstützern für diese Form der Sichtbarkeit aussprechen muss. Der Sinn der Begrenzung von Wahlvorschlägen liegt gerade darin, nur solche Vorschläge zuzulassen, die ernst zu nehmen und nicht völlig aussichtslos sind (vgl. BVerfGE 82, 353 <364 f.>).
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cc) Schließlich ist die Verschärfung der Wahlvorschlagsvoraussetzungen „kleiner“ Parteien gegenüber Einzelbewerbern dadurch gerechtfertigt, dass sie gerade als Parteien an Wahlen teilnehmen. Auch bei sehr kleinen Parteien bestreiten ihre Wahlkreisbewerber den Wahlkampf nicht lediglich für sich selbst (vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 204). Das Vorschlagsrecht für unabhängige Wahlkreisbewerber trägt dem freien Wahlrecht aller Wahlberechtigten Rechnung und dient gerade dazu, eine Monopolisierung der Wahl bei den Parteien zu verhindern (vgl. BVerfGE 41, 399 <417>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2024 – 2 BvF 1/23 u.a. -, Rn. 202). Daher können sich Parteien nicht darauf berufen, dass auch ihnen die gleiche Rechtsstellung zustehen müsse.
D.
100
Mit der Ablehnung der Anträge zu 1. a) und 1. b) im Organstreitverfahren wird der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt nicht mehr in Betracht, wenn das Bundesverfassungsgericht im Hauptsacheverfahren bereits festgestellt hat, dass die Anträge entweder unzulässig oder – wie hier – unbegründet sind.
E.
101
Der Antrag auf Erstattung der notwendigen Auslagen ist abzulehnen. Die Auslagenerstattung richtet sich im Organstreitverfahren nach § 34a Abs. 3 BVerfGG und kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn besondere Billigkeitsgründe vorliegen (vgl. BVerfGE 20, 119 <133 f.>; 162, 207 <269 Rn. 186> – Äußerungsbefugnisse der Bundeskanzlerin; stRspr). Solche Gründe sind hier weder vorgetragen noch ersichtlich.
F.
102
Die Entscheidung ist einstimmig ergangen.