BGH 6. Zivilsenat, Urteil vom 08.10.2024, AZ VI ZR 250/22, ECLI:DE:BGH:2024:081024UVIZR250.22.0
Leitsatz
Der Geschädigte kann einen adäquat kausal unfallbedingten und nach § 842 BGB, § 11 StVG zu ersetzenden Verdienstausfallschaden erleiden, wenn er berechtigterweise auf die ihm ärztlicherseits bescheinigte Arbeitsunfähigkeit vertraut und deshalb nicht zur Arbeit geht.
Verfahrensgang
vorgehend OLG Dresden, 13. Juli 2022, Az: 1 U 2039/21, Urteil
vorgehend LG Chemnitz, 12. August 2021, Az: 5 O 1438/20
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 13. Juli 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als hinsichtlich des Ersatzes von Verdienstausfall und darauf bezogener vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten zu seinem Nachteil entschieden worden ist. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
1
Der Kläger nimmt die Beklagten – soweit im Rahmen des Revisionsverfahrens relevant – auf Ersatz von Verdienstausfall in Anspruch.
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Der Kläger arbeitete am 8. Mai 2019 in einer Waschstraße. Dabei wurde er durch das Fahrzeug der Beklagten zu 1, das bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversichert war, erfasst und eingeklemmt. Dadurch erlitt der Kläger eine tiefe, klaffende Riss- und Quetschwunde am linken Unterschenkel. Die volle Haftung der Beklagten dem Grunde nach ist unstreitig. Der Kläger befand sich aufgrund des Unfalls vom 8. bis zum 22. Mai 2019 und vom 26. bis zum 27. August 2019 in stationärer Behandlung. Laut einer fachärztlichen Bescheinigung vom 17. August 2020 war er wegen einer offenen Wunde des Unterschenkels vom 8. Mai 2019 bis voraussichtlich zum 14. September 2020 arbeitsunfähig.
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Mit seiner Klage macht der Kläger die Differenz zwischen seinem letzten monatlichen Gehalt und dem Krankengeld in Höhe von 2.257,44 € (16 Monate zu je 141,09 €) nebst anteiliger vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten und Zinsen geltend. Der Kläger meint, er habe sich auf die Krankschreibung seines Arztes verlassen und sein Verhalten danach ausrichten dürfen. Es handele sich um einen Fehler des Arztes, welchen er nicht zu vertreten habe und welcher im Risikobereich des Schädigers liege.
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Das Landgericht hat die Beklagten zur Zahlung von Verdienstausfall in Höhe von 352,73 € nebst Zinsen und anteiligen vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten für den Zeitraum nach Ende der Lohnfortzahlung bis zum 5. September 2019 (zweieinhalb Monate) verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Die gegen die Klageabweisung gerichtete Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Berufungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe
I.
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Das Berufungsgericht (ZfS 2022, 499) hat ausgeführt, aufgrund der Verletzungen sei eine Krankschreibung von nur vier Monaten gerechtfertigt. Unter Berücksichtigung von sechs Wochen Entgeltfortzahlung sei lediglich Verdienstausfall für weitere zweieinhalb Monate zuzusprechen. Ein Anspruch auf Verdienstausfall für den weiteren Zeitraum der Krankschreibung bis einschließlich 14. September 2020 bestehe nicht. Denn auch bei berechtigtem Vertrauen auf die objektiv falsche Krankschreibung bestehe kein Schadensersatzanspruch. Trotz der weiter bestehenden neuropathischen Schmerzen sei der Kläger ab dem 6. September 2019 arbeitsfähig gewesen. Der Kläger könne sich für seine Behauptung, er sei über den 5. September 2019 hinaus bis einschließlich 14. September 2020 wegen seiner neuropathischen Schmerzen arbeitsunfähig gewesen, nicht auf die Krankschreibung seines behandelnden Arztes berufen. Abgesehen davon, dass es sich bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit nicht um eine Wahrnehmungs-, sondern um eine Wertungsfrage handele, betrachte der Arzt, der einen Unfallgeschädigten untersuche und behandele, diesen nicht aus der Sicht eines Gutachters, sondern behandele ihn als Therapeut. Für ihn stehe die Notwendigkeit einer Therapie im Vordergrund. Daher sei Beweis erhoben worden zur Frage, ob aufgrund der anhaltenden neuropathischen Schmerzen eine Krankschreibung bis zum 14. September 2020 gerechtfertigt gewesen sei. Der Sachverständige habe dies verneint.
II.
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Die Erwägungen des Berufungsgerichts halten revisionsrechtlicher Prüfung nicht stand. Mit dessen Begründung kann der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Ersatz des Verdienstausfalls im Zeitraum vom 6. September 2019 bis zum 14. September 2020 nicht abgelehnt werden.
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1. Die (gesamtschuldnerische) Haftung der Beklagten ist dem Grunde nach nicht im Streit. Der Kläger kann insoweit grundsätzlich einen unfallbedingten Schaden in Form entgangenen Verdienstes aus abhängiger Arbeit geltend machen (§§ 249 f., § 842 BGB, § 11 StVG). Gem. § 842 BGB, § 11 StVG erstreckt sich die Verpflichtung zum Schadensersatz auf die Vermögensnachteile, die der Verletzte durch die Aufhebung oder Minderung seiner Erwerbsfähigkeit erleidet. Der Erwerbsschaden umfasst alle wirtschaftlichen Beeinträchtigungen, die der Geschädigte erleidet, weil er seine Arbeitskraft verletzungs- bzw. unfallbedingt nicht verwerten kann, die also der Mangel der vollen Einsatzfähigkeit seiner Person mit sich bringt (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur Senat, Urteile vom 25. Juni 2013 – VI ZR 128/12, BGHZ 197, 316 Rn. 12 und vom 27. Oktober 2015 – VI ZR 183/15, NJW 2016, 1386 Rn. 10, jeweils mwN; siehe auch Senat, Urteil vom 18. Oktober 2022 – VI ZR 1177/20, VersR 2023, 129 Rn. 11).
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2. Das Berufungsgericht hat festgestellt, dass der Kläger ab dem 6. September 2019 wieder arbeitsfähig war. Diese Feststellung wird von der Revision nicht angegriffen. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann ein Anspruch des Klägers auf Ersatz des Verdienstausfalls aber nicht nur bestehen, wenn dieser objektiv arbeitsunfähig war, sondern auch dann, wenn er sich als arbeitsunfähig ansehen musste, weil er berechtigterweise auf die ihm ärztlicherseits bescheinigte Arbeitsunfähigkeit vertraute.
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a) Arbeitsunfähigkeit im Sinne einer nach den oben genannten Grundsätzen schadensrechtlich erforderlichen verletzungsbedingten Beeinträchtigung der Arbeitskraft liegt nicht nur dann vor, wenn es dem Arbeitnehmer infolge Krankheit aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist, seine vertraglich geschuldete Tätigkeit auszuüben, etwa weil er ein für die Ausübung seiner Tätigkeit notwendiges Körperteil nicht bewegen kann oder für ihn aufgrund der Erkrankung ein (gesetzliches oder behördliches) Beschäftigungsverbot besteht bzw. weil ihm gegenüber aufgrund einer ansteckenden Infektionskrankheit behördlich die Isolierung (Quarantäne) oder Absonderung verfügt wurde (vgl. zum arbeitsrechtlichen Begriff der Arbeitsunfähigkeit BAG, Urteil vom 20. März 2024 – 5 AZR 235/23, NZA 2024, 977 Rn. 12 f. mwN). Sie besteht vielmehr auch dann, wenn die Ausübung der geschuldeten Tätigkeit aus medizinischer Sicht nicht vertretbar ist, etwa weil die Heilung nach ärztlicher Prognose hierdurch verhindert oder verzögert würde (vgl. BAG aaO), oder die gesundheitliche Belastung bei Ausübung der geschuldeten Tätigkeit aus medizinischer Sicht unzumutbar erscheint.
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b) Bei der Beurteilung, ob eine solche verletzungsbedingte Beeinträchtigung der Arbeitskraft vorliegt, ist – in Anlehnung an die ständige Senatsrechtsprechung zur subjektbezogenen Schadensbetrachtung im Rahmen des § 249 BGB (vgl. nur Senat, Urteile vom 13. Dezember 2022 – VI ZR 324/21, NJW 2023, 1057 Rn. 11; vom 26. Mai 2020 – VI ZR 321/19, VersR 2020, 987 Rn. 11; vom 11. November 1969 – VI ZR 91/68, VersR 1970, 129, 130, vom 23. September 1969 – VI ZR 69/68, VersR 1969, 1040, 1041, juris Rn. 22) – Rücksicht auf die spezielle Situation des Geschädigten, insbesondere auf seine Erkenntnis- und Einflussmöglichkeiten zu nehmen. Der geschädigte Arbeitnehmer ist bei seiner Entscheidung, ob er trotz seiner ihm vom Schädiger zugefügten Verletzung seine (verbliebene) Arbeitskraft dem Arbeitgeber anbieten oder hiervon im Interesse seiner Gesundheit absehen soll, in vielen Fällen auf die Einschätzung des ihn behandelnden Arztes angewiesen, insbesondere wenn es um die Frage geht, ob durch die Aufnahme der Arbeitstätigkeit die Heilung nach ärztlicher Prognose verhindert oder verzögert würde. In diese Situation ist er durch die vom Schädiger verursachte Gesundheitsverletzung geraten. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Geschädigte arbeitsrechtlich verpflichtet ist, alles zu unterlassen, was seine Genesung verzögert, und er pflichtwidrig handelt, wenn er den Heilungserfolg durch gesundheitswidriges Verhalten gefährdet (vgl. nur BAG Urteil vom 2. März 2006 – 2 AZR 53/05, NZA-RR 2006, 636 Rn. 23 f.). Auch schadensersatzrechtlich obliegt es dem Geschädigten im Rahmen des § 254 BGB regelmäßig, alles zu unterlassen, was seine Gesundung gefährdet bzw. den Heilungserfolg verzögert. Folgte der Geschädigte der Empfehlung des behandelnden Arztes nicht und verschlimmerte sich deshalb seine Verletzung oder dauerte die Heilung länger, könnte er deshalb gegen seine Schadensminderungsobliegenheit verstoßen.
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c) Vor diesem Hintergrund ist es für einen Anspruch auf Ersatz des Verdienstausfalles nach § 842 BGB, § 11 StVG nicht zwingend erforderlich, dass objektiv eine verletzungsbedingte Einschränkung der Arbeitsfähigkeit vorgelegen hat, was vorliegend nach den unangefochtenen Feststellungen des Berufungsgerichts nicht der Fall war. Ein Anspruch kommt auch dann in Betracht, wenn der Geschädigte aufgrund der ärztlichen Beratung von einer solchen Einschränkung ausgehen musste (vgl. Senat, Urteil vom 30. April 1963 – VI ZR 125/62, VersR 1963, 872, 873). Der Geschädigte kann einen adäquat kausal unfallbedingten und nach § 842 BGB, § 11 StVG zu ersetzenden Verdienstausfallschaden erleiden, wenn er berechtigterweise auf die ihm ärztlicherseits bescheinigte Arbeitsunfähigkeit vertraut und deshalb nicht zur Arbeit geht (vgl. auch Senat, Urteile vom 16. Oktober 2001 – VI ZR 408/00, BGHZ 149, 63, 67, juris Rn. 12, und vom 23. Juni 2020 – VI ZR 435/19, NJW 2020, 3176 Rn. 21).
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d) Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung führt dies nicht zu einer nahezu uferlosen Ausdehnung von Schadensersatzpflichten. Allein aus der Tatsache, dass eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt wurde, folgt ein Anspruch nach den dargelegten Grundsätzen nicht. Zum einen muss der medizinische Grund, auf dem die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des ausstellenden Arztes beruht, unfallbedingt sein, was der Geschädigte darzulegen und zu beweisen hat. Das berechtigte Vertrauen kann insoweit nur die Arbeitsunfähigkeit als solche betreffen, nicht deren Ursache, für deren Feststellung der Arzt auch nicht zuständig ist. Zum anderen sind an die Feststellung eines berechtigten Vertrauens, für das der Geschädigte darlegungs- und beweispflichtig ist, nicht zu geringe Anforderungen zu stellen. Voraussetzung ist, dass der Geschädigte den Arzt vollständig und zutreffend informiert hat, insbesondere über die von ihm empfundenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die der Arzt zur Grundlage seiner Beurteilung und Empfehlung gemacht hat (z.B. Schmerzen). Auch muss das ärztliche Verfahren (siehe hierzu auch die sog. Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie i.d.F. v. 14. November 2013, BAnz AT 27.01.2014 B 4, zuletzt geändert am 7. Dezember 2023 BAnz AT 20.02.2024 B 1) zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit so gestaltet sein, dass der Geschädigte zu Recht annehmen darf, dass die Feststellung inhaltlich zutreffend ist und auch einer späteren Überprüfung standhalten würde. Ob ein solches berechtigtes Vertrauen vorliegt, hat dabei der Tatrichter unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen.
III.
13
Das Berufungsgericht hat – von seinem Rechtsstandpunkt ausgehend konsequent – keine näheren Feststellungen dazu getroffen, ob der Kläger – ausgehend von dem o.a. Maßstab – berechtigterweise auf die ihm ärztlicherseits bescheinigte Arbeitsunfähigkeit vertrauen durfte. Daher ist das Berufungsurteil insoweit aufzuheben (§ 561 Abs. 1 ZPO) sowie zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Seiters von Pentz Allgayer
Böhm Linder