BGH 1. Zivilsenat, EuGH-Vorlage vom 26.09.2024, AZ I ZR 130/23, ECLI:DE:BGH:2024:260924BIZR130.23.0
Art 10 Abs 2 EGV 1924/2006, EUV 1047/2012
Leitsatz
gesund Gewicht verlieren
Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden zur Auslegung von Art. 10 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel (ABl. L 404 vom 30. Dezember 2006, S. 9) in der zuletzt durch die Verordnung (EU) Nr. 1047/2012 der Kommission vom 8. November 2012 (ABl. L 310 vom 9. November 2012, S. 36) geänderten Fassung folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art. 10 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 so auszulegen, dass der Begriff „Kennzeichnung“ eines Lebensmittels auch eine schriftliche Werbung für das Lebensmittel umfasst, so dass die Verwendung einer gesundheitsbezogenen Angabe in der schriftlichen Werbung dazu führt, dass die in dieser Vorschrift vorgesehenen Informationspflichten in der Werbung zu erfüllen sind?
2. Ist Art. 10 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 so auszulegen, dass die bei Verwendung gesundheitsbezogener Angaben in einer Lebensmittelwerbung nach dieser Vorschrift bestehenden Informationspflichten auch dann in der Lebensmittelwerbung zu erfüllen sind, wenn die Kennzeichnung des Lebensmittels die erforderlichen Informationen enthält?
Verfahrensgang
vorgehend OLG München, 20. Juli 2023, Az: 29 U 680/22, Urteil
vorgehend LG München I, 19. Januar 2022, Az: 3 HK O 4222/21
Tenor
I. Das Verfahren wird ausgesetzt.
II. Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden zur Auslegung des Art. 10 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel (ABl. L 404 vom 30. Dezember 2006, S. 9) in der zuletzt durch die Verordnung (EU) Nr. 1047/2012 der Kommission vom 8. November 2012 (ABl. L 310 vom 9. November 2012, S. 36) geänderten Fassung folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art. 10 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 so auszulegen, dass der Begriff „Kennzeichnung“ eines Lebensmittels auch eine schriftliche Werbung für das Lebensmittel umfasst, so dass die Verwendung einer gesundheitsbezogenen Angabe in der schriftlichen Werbung dazu führt, dass die in dieser Vorschrift vorgesehenen Informationspflichten in der Werbung zu erfüllen sind?
2. Ist Art. 10 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 so auszulegen, dass die bei Verwendung gesundheitsbezogener Angaben in einer Lebensmittelwerbung nach dieser Vorschrift bestehenden Informationspflichten auch dann in der Lebensmittelwerbung zu erfüllen sind, wenn die Kennzeichnung des Lebensmittels die erforderlichen Informationen enthält?
Gründe
1
A. Der Kläger ist ein Wirtschaftsverband. Nach seiner Satzung verfolgt er den Zweck, den unlauteren Wettbewerb in allen Erscheinungsformen im Zusammenwirken mit Behörden und Gerichten zu bekämpfen.
2
Die Beklagte vertreibt das Nahrungsergänzungsmittel “ Kapseln“, das aus Konjak-Glucomannan, Hydroxypropylmethylcellulose (Kapselhülle), dem Farbstoff E 171 sowie aus Reisextrakt besteht. Sie bewarb dieses Produkt in der nachfolgend eingeblendeten Anzeige (Anlage A zur Klageschrift), die im Heft 29/2020 der Zeitschrift “ “ erschien und unter anderem die Angaben „GESUND GEWICHT VERLIEREN“ und „Glucomannan trägt im Rahmen einer kalorienarmen Ernährung zu Gewichtsverlust bei“ enthält:
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3
Der Kläger ist – soweit für das Vorlageverfahren relevant – der Auffassung, die Beklagte müsse aufgrund der gesundheitsbezogenen Angaben in ihrer Werbeanzeige nicht nur auf der Verpackung des Produkts, sondern auch in der Werbung für das Produkt die Informationen nach Art. 10 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel (nachfolgend Health-Claims-Verordnung, HCVO) erteilen. Er hat die Beklagte in Anspruch genommen, es unter Androhung näher bezeichneter Ordnungsmittel zu unterlassen,
im geschäftlichen Verkehr zu Wettbewerbszwecken das Nahrungsergänzungsmittel “ Kapseln“ wie folgt zu bewerben und/oder bewerben zu lassen
1. mit gesundheitsbezogenen Angaben ohne einen Hinweis auf die Bedeutung einer abwechslungsreichen und ausgewogenen Ernährung und einer gesunden Lebensweise
(…)
wenn dies jeweils geschieht wie in Anlage A wiedergegeben.
4
Die beiden Hinweise sind auf der Verpackung des Produkts enthalten, nicht jedoch in der oben eingeblendeten Anzeige.
5
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Die Berufung der Beklagten ist ohne Erfolg geblieben. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision, deren Zurückweisung der Kläger beantragt, verfolgt die Beklagte ihren auf Klageabweisung gerichteten Antrag weiter.
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B. Der Erfolg der Revision hängt von der Auslegung des Art. 10 Abs. 2 HCVO ab. Vor einer Entscheidung ist deshalb das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 3 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen.
7
I. Das Berufungsgericht hat – soweit für das Vorlageverfahren relevant – angenommen, der Kläger sei klagebefugt und ihm stünden die geltend gemachten Unterlassungsansprüche aus § 8 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 2, §§ 3, 3a UWG, Art. 10 Abs. 1 und 2 Buchst. a und c HCVO zu.
8
Die Beklagte habe ihr Nahrungsergänzungsmittel “ Kapseln“ in einer Werbeanzeige mit den gesundheitsbezogenen Angaben „GESUND GEWICHT VERLIEREN“ und „Glucomannan trägt im Rahmen einer kalorienarmen Ernährung zu Gewichtsverlust bei“ beworben.
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Sie habe gegen die Informationspflicht des Art. 10 Abs. 2 Buchst. a HCVO verstoßen, nach der sie einen Hinweis auf die Bedeutung einer abwechslungsreichen und ausgewogenen Ernährung und einer gesunden Lebensweise in die Anzeige aufnehmen müsse. Die Informationspflicht gelte auch dann, wenn auf der Produktverpackung ein solcher Hinweis angebracht sei. Dies folge bereits daraus, dass es sich bei der Werbeanzeige um eine Kennzeichnung im Sinn von Art. 10 Abs. 2 Buchst. a HCVO handele. Eine solche Auslegung entspreche dem Zweck des Art. 1 Abs. 1 HCVO, ein hohes Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten, und dem Erwägungsgrund 4, wonach die Health-Claims-Verordnung für alle nährwert- und gesundheitsbezogenen Angaben in kommerziellen Mitteilungen gelten solle. Die genannte Auslegung sei mit der deutschen und der englischen Sprachfassung des Art. 10 Abs. 2 Buchst. a HCVO vereinbar; die abweichende französische Sprachfassung stehe ihr nicht entgegen. Die Beklagte könne sich nicht überzeugend auf Nr. 2.1 Abs. 2 des Anhangs des Durchführungsbeschlusses der Kommission Nr. 2013/63/EU vom 24. Januar 2013 zur Annahme von Leitlinien zur Umsetzung der in Art. 10 der HCVO dargelegten speziellen Bedingungen für gesundheitsbezogene Angaben berufen, da dieser wegen divergierender Sprachfassungen und Abweichungen vom Wortlaut des Art. 10 Abs. 2 HCVO als Auslegungshilfe nicht dienlich sei.
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II. Der Erfolg der Revision hängt davon ab, ob Art. 10 Abs. 2 HCVO so auszulegen ist, dass die bei Verwendung gesundheitsbezogener Angaben in einer Lebensmittelwerbung nach dieser Vorschrift bestehenden Informationspflichten auch dann in der Lebensmittelwerbung selbst zu erfüllen sind, wenn die Kennzeichnung des Lebensmittels – im Streitfall die Produktverpackung – die erforderlichen Informationen enthält.
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1. Das Berufungsgericht hat die Revision lediglich beschränkt auf den Klageantrag 1 zugelassen.
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2. Der Klageantrag 1 kann nach § 8 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 2, §§ 3, 5a UWG in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 HCVO begründet sein.
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a) Die Beklagte hat über ihr Lebensmittel “ Kapseln“ gesundheitsbezogene Angaben gemacht, so dass die Informationspflichten nach Art. 10 Abs. 2 HCVO gelten.
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aa) Gemäß Art. 10 Abs. 2 HCVO dürfen gesundheitsbezogene Angaben nur gemacht werden, wenn die Kennzeichnung oder, falls diese Kennzeichnung fehlt, die Aufmachung der Lebensmittel und die Lebensmittelwerbung die nachfolgend genannten Informationen tragen; hierzu gehört (Buchst. a) ein Hinweis auf die Bedeutung einer abwechslungsreichen und ausgewogenen Ernährung und einer gesunden Lebensweise.
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Für den Begriff des Lebensmittels verweist Art. 2 Abs. 1 Buchst. a HCVO auf die Definition in Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit, nach der Lebensmittel unter anderem Stoffe oder Erzeugnisse sind, die dazu bestimmt sind, vom Menschen aufgenommen zu werden, soweit nicht eine der – hier nicht einschlägigen – Ausnahmen des Unterabsatzes 3 vorliegt.
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Für den Begriff des Nahrungsergänzungsmittels verweist Art. 2 Abs. 1 Buchst. b HCVO auf die Definition in Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2002/46/EG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Nahrungsergänzungsmittel, aus der hervorgeht, dass Nahrungsergänzungsmittel (wie das von der Beklagten beworbene) zu den Lebensmitteln rechnen.
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Eine Angabe ist nach Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 HCVO jede Aussage oder Darstellung, die nach dem Gemeinschaftsrecht oder den nationalen Vorschriften nicht obligatorisch ist, einschließlich Darstellungen durch Bilder, grafische Elemente oder Symbole in jeder Form, und mit der erklärt, suggeriert oder auch nur mittelbar zum Ausdruck gebracht wird, dass ein Lebensmittel besondere Eigenschaften besitzt.
18
Eine gesundheitsbezogene Angabe ist nach Art. 2 Abs. 2 Nr. 5 HCVO jede Angabe, mit der erklärt, suggeriert oder auch nur mittelbar zum Ausdruck gebracht wird, dass ein Zusammenhang zwischen einer Lebensmittelkategorie, einem Lebensmittel oder einem seiner Bestandteile einerseits und der Gesundheit andererseits besteht.
19
bb) Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerfrei und von der Revision unangegriffen angenommen, dass die Beklagte in einer Lebensmittelwerbung eine gesundheitsbezogene Angabe gemacht hat, indem sie in der vom Kläger beanstandeten Werbeanzeige für das Nahrungsergänzungsmittel “ Kapseln“ etwa die Aussage „GESUND GEWICHT VERLIEREN“ verwendet hat. Bei dem Produkt handelt es sich um ein Lebensmittel in der Form eines Nahrungsergänzungsmittels. Die Beklagte hat eine nicht obligatorische Aussage über das Produkt getroffen, mit der sie suggeriert hat, dass ein Zusammenhang zwischen einem seiner Bestandteile einerseits und der Gesundheit andererseits besteht.
20
cc) Die Beklagte hat den gemäß Art. 10 Abs. 2 Buchst. a HCVO erforderlichen Hinweis auf die Bedeutung einer abwechslungsreichen und ausgewogenen Ernährung und einer gesunden Lebensweise auf der Verpackung des Produkts “ Kapseln“ erteilt. Die vom Kläger beanstandete Werbeanzeige der Beklagten enthält diesen Hinweis nicht. Dies stellt die Revision nicht in Abrede.
21
b) Es ist zweifelhaft, ob die Beklagte die sie infolge der Verwendung gesundheitsbezogener Angaben in der Werbung für ihr Produkt nach Art. 10 Abs. 2 Buchst. a HCVO treffende Informationspflicht mit der Anbringung des danach vorgesehenen Hinweises auf der Verpackung des Produkts erfüllt hat oder ob sie diesen Hinweis zusätzlich auch in der (schriftlichen) Werbung für dieses Produkt erteilen hätte müssen.
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aa) Die Informationspflichten des Art. 10 Abs. 2 HCVO im Fall der Verwendung gesundheitsbezogener Angaben sind zunächst in der Kennzeichnung des Lebensmittels zu erfüllen, soweit eine solche nicht fehlt. Es ist zweifelhaft, ob der Begriff „Kennzeichnung“ eines Lebensmittels auch eine schriftliche Werbung für das Lebensmittel umfasst, so dass die Verwendung einer gesundheitsbezogenen Angabe in der schriftlichen Werbung dazu führt, dass die in dieser Vorschrift vorgesehenen Informationspflichten in dieser Werbung zu erfüllen sind. Dies soll mit der Vorlagefrage 1 geklärt werden.
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(1) Begriffe einer Vorschrift des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, müssen in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten, die unter Berücksichtigung nicht nur des Wortlauts der Vorschrift, sondern auch ihres Kontexts und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (vgl. EuGH, Urteil vom 20. April 2023 – C-580/21, ZNER 2023, 235 [juris Rn. 23] – EEW Energy from Waste, mwN). Hierbei kann die in einer der Sprachfassungen einer Vorschrift verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Vorschrift herangezogen werden oder Vorrang vor den übrigen Sprachfassungen beanspruchen (vgl. EuGH, Urteil vom 11. Juni 2020 – C-786/18, GRUR 2020, 764 [juris Rn. 30] = WRP 2020, 1004 –; ratiopharm, mwN).
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(2) Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. d HCVO gilt für den Begriff der Kennzeichnung die Begriffsbestimmung in Art. 1 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2000/13/EG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür, an deren Stelle mit der Aufhebung dieser Richtlinie durch Art. 53 Abs. 1 und Abs. 2 der Verordnung (EU) 1169/2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel (nachfolgend: Lebensmittel-Informationsverordnung, LMIV) die Begriffsbestimmung in Art. 2 Abs. 2 Buchst. j LMIV getreten ist. Danach sind „Kennzeichnung“ alle Wörter, Angaben, Hersteller- oder Handelsmarken, Abbildungen oder Zeichen, die sich auf ein Lebensmittel beziehen und auf Verpackungen, Schriftstücken, Tafeln, Etiketten, Ringen oder Verschlüssen jeglicher Art angebracht sind und dieses Lebensmittel begleiten oder sich auf dieses Lebensmittel beziehen.
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(3) Das Berufungsgericht hat unter Verweis auf eine Literaturstimme (Rathke/Hahn in Sosnitza/Meisterernst, Lebensmittelrecht, Stand: November 2023, Art. 2 VO (EG) 1924/2006 Rn. 21; vgl. auch Art. 2 LMIV Rn. 88) angenommen, eine Kennzeichnung verlange keine räumliche Nähe zum Produkt. Damit unterscheide sich der Begriff der Kennzeichnung von dem des Etiketts nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. i LMIV.
26
(4) Es ist allerdings zweifelhaft, ob diese Auffassung zutrifft.
27
(a) Zwar kommen als Kennzeichnung nach dem Wortlaut der Begriffsbestimmung auch Angaben in Betracht, die sich auf ein Lebensmittel beziehen und auf Schriftstücken angebracht sind, die sich auf dieses Lebensmittel beziehen.
28
(b) Allerdings ist damit noch nicht festgelegt, welche Gestalt der Bezug des Schriftstücks zu dem Lebensmittel aufweisen muss. Der Tatbestand des Art. 2 Abs. 2 Buchst. j LMIV erfasst zunächst „Schriftstücke, die das Lebensmittel begleiten“. Aus der Vorschrift selbst erschließt sich nicht, welche Fälle mit der hier möglicherweise einschlägigen Tatbestandsvariante „Schriftstücke, die sich auf das Lebensmittel beziehen“ zusätzlich erfasst werden sollen. Insbesondere bleibt offen, ob danach auch (schriftliche) Werbung für ein Lebensmittel als Kennzeichnung gelten soll. Der allgemeinsprachliche Bedeutungsgehalt des Begriffs „Kennzeichnung“ spricht eher dagegen (ähnlich bei englisch „labelling“ und französisch „étiquetage“).
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(c) Die Europäische Kommission geht ausweislich der Nr. 2.1 Abs. 3 Satz 2 im Anhang ihres Durchführungsbeschlusses Nr. 2013/63/EU davon aus, dass sich die Begriffe „Kennzeichnung“ und „Werbung“ unterscheiden. Der Unterschied soll darin bestehen, dass sich die Kennzeichnung auf die Abgabe des Lebensmittels an den Endverbraucher bezieht, die Werbung dagegen auf die Förderung des Absatzes von Lebensmitteln durch den Lebensmittelunternehmer.
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(d) Die vom Berufungsgericht zitierte Definition des Begriffs „Etikett“ in Art. 2 Abs. 2 Buchst. i LMIV wird von der Health-Claims-Verordnung nicht in Bezug genommen. Wollte man sie ergänzend heranziehen, müsste auch berücksichtigt werden, dass Art. 2 Abs. 1 Buchst. g LMIV – ebenfalls von der Health-Claims-Verordnung nicht in Bezug genommen – auf den Begriff „Werbung“ gemäß Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2006/114/EG über irreführende und vergleichende Werbung verweist. Unter Berücksichtigung dessen liegt nahe, dass nicht nur die Begriffe „Kennzeichnung“ und „Etikett“, sondern auch die Begriffe „Kennzeichnung“ und „Werbung“ unterschiedliche Bedeutungen haben.
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(5) Darüber hinaus folgt aus der vom Berufungsgericht vertretenen Auffassung, nach der die schriftliche Werbung zur Kennzeichnung des Produkts gehört, nicht eindeutig, dass die bei Verwendung einer gesundheitsbezogenen Angabe entstehende Informationspflicht nicht auf der ebenfalls zur Kennzeichnung rechnenden Produktverpackung erfüllt werden kann, sondern in der schriftlichen Werbung zu erfüllen ist. Dafür könnte der in Erwägungsgrund 1 Satz 2 HCVO zum Ausdruck kommende Zweck der Verordnung sprechen, dem Verbraucher ein hohes Schutzniveau zu gewährleisten (vgl. insoweit auch Art. 1 Abs. 1 HCVO) und ihm die Wahl (beim Kauf von Lebensmitteln) zu erleichtern.
32
bb) Auch dann, wenn eine schriftliche Werbeanzeige keine Kennzeichnung des Lebensmittels im Sinn von Art. 10 Abs. 2 HCVO darstellt oder die durch einen Teil der Kennzeichnung ausgelösten Informationspflichten in einem anderen Teil der Kennzeichnung erfüllt werden können, kommt in Betracht, dass die nach dieser Vorschrift bestehenden Informationspflichten auch dann in der Lebensmittelwerbung zu erfüllen sind, wenn die Kennzeichnung des Lebensmittels die erforderlichen Informationen enthält. Dies soll mit der Vorlagefrage 2 geklärt werden.
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(1) Dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 2 HCVO ist nicht eindeutig zu entnehmen, ob in jedem Fall der Verwendung gesundheitsbezogener Angaben in der Lebensmittelwerbung eine dort selbst zu erfüllende Informationspflicht besteht (vgl. hierzu Rathke/Hahn in Sosnitza/Meisterernst aaO Art. 2 VO (EG) 1924/2006 Rn. 21).
34
(a) Dafür sprechen die deutsche und die englische Fassung der Vorschrift, in denen das Wort „Lebensmittelwerbung“ beziehungsweise „advertising“ durch das Wort „und“ beziehungsweise „and“ mit dem vorherigen Satzteil verbunden ist, was darauf hindeutet, dass die Informationspflichten kumulativ in der Kennzeichnung (oder Aufmachung) und der Lebensmittelwerbung zu erfüllen sind.
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(b) Allerdings ist aufgrund des vorherigen, durch Kommata abgetrennten Einschubs „falls diese Kennzeichnung fehlt“ beziehungsweise „if no such labelling exists“ unklar, ob – wie die Revision geltend macht – die nachfolgenden Alternativen „die Aufmachung der Lebensmittel und die Lebensmittelwerbung“ beziehungsweise „in the presentation and advertising“ überhaupt nur dann gelten sollen, wenn keine Kennzeichnung des Lebensmittels vorhanden ist. Dann wären bei Vorhandensein einer Kennzeichnung die Informationspflichten stets dort zu erfüllen. Soweit die Revision ergänzend darauf hinweist, dass der Einschub in der konsolidierten dänischen Sprachfassung durch Gedankenstriche statt durch Kommata abgetrennt ist, folgt daraus nichts Abweichendes.
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(c) Für eine Wahlfreiheit, die Informationspflichten in der Kennzeichnung oder der Lebensmittelwerbung zu erfüllen, könnte die französische Sprachfassung sprechen, in der das Wort „publicité“ („Werbung“) mit dem Wort „ou“ („oder“) an den vorherigen Satzteil angeschlossen ist. Die genannte Abweichung des französischsprachigen Verordnungswortlauts spiegelt sich in der französischen Sprachfassung von Nr. 2.1 des Anhangs des Durchführungsbeschlusses allerdings nicht wider, wo die Verknüpfung jeweils „et“ („und“) lautet. Demgegenüber wird in der deutschen Sprachfassung dieses Durchführungsbeschlusses an einer Stelle die Konjunktion „oder“ verwendet (vgl. Nr. 2.1 Buchst. b Abs. 1).
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(2) Weder dem Regelungszusammenhang noch der Entstehungsgeschichte des Art. 10 Abs. 2 HCVO lassen sich weitere Hinweise für die Auslegung entnehmen. Soweit die Revision auf den ursprünglichen Verordnungsvorschlag der Kommission verweist, der ausschließlich Informationspflichten im Rahmen der Kennzeichnung von Lebensmitteln vorsah (vgl. COM/2003/424/FINAL, S. 20), ergibt sich daraus nicht, mit welcher Intention im weiteren Verlauf des Verordnungsgebungsverfahrens der Begriff „Lebensmittelwerbung“ hinzugefügt worden ist.
38
(3) Für eine Verpflichtung, die im Fall der Verwendung gesundheitsbezogener Angaben in der Lebensmittelwerbung zu gebenden Informationen dort selbst zu erteilen, könnte der bereits angesprochene Zweck der Health-Claims-Verordnung sprechen (vgl. Rn. 31). Im Online-Handel, dessen Bedeutung in den vergangenen Jahren stark gewachsen ist, spielt die Verpackung des Lebensmittels für die Kaufentscheidung des Verbrauchers eine nur untergeordnete Rolle (vgl. hierzu auch Nr. 2.1 Buchst. b Abs. 2 des Anhangs des Durchführungsbeschlusses Nr. 2013/63/EU). Es ist auch zweifelhaft, ob die Verbraucher sich nach dem Online-Erwerb eines Produkts noch mit der Produktverpackung befassen. Nach Auffassung des Senats kann das mit der Verordnung angestrebte hohe Verbraucherschutzniveau daher nur dann erreicht werden, wenn die Pflichtinformationen aufgrund der Verwendung gesundheitsbezogener Angaben in der Lebensmittelwerbung dort selbst erteilt werden (ähnlich zuvor schon OLG Koblenz, LMuR 2012, 195 [juris Rn. 43 f.]; OLG Schleswig, LMuR 2012, 204 [juris Rn. 50]; KG, MD 2015, 1086 [juris Rn. 50]; OLG Düsseldorf, MD 2015, 1094 [juris Rn. 100]; OLG Hamburg, LMuR 2022, 321 [juris Rn. 41]; Rathke/Hahn in Sosnitza/Meisterernst, aaO Rn. 21 mwN; aA Hüttebräuker in Holle/Hüttebräuker, HCVO, 1. Aufl., Art. 10 Rn. 45 f.; Meyer in Fezer/Büscher/Obergfell, UWG, 3. Aufl., Zweiter Teil S 4 Rn. 341 [zu Art. 10 Abs. 2 HCVO]; offen Voit/Grube, LMIV, 2. Aufl., Art. 7 Rn. 355). Auch der Erwägungsgrund 4, nach dem die Health-Claims-Verordnung für alle nährwert- und gesundheitsbezogenen Angaben gelten sollte, die in kommerziellen Mitteilungen gemacht werden, spricht für ein solches Verständnis der Verordnung. Aus den von der Revision ergänzend herangezogenen Erwägungsgründen 10 und 18 dürfte sich indes kein weiterer Aufschluss für eine abweichende Auslegung ergeben.
39
(4) Auch der von der Revision angeführte Vergleich mit der Richtlinie 2002/46/EG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Nahrungsergänzungsmittel führt nicht weiter, weil die Health-Claims-Verordnung nach ihrem Art. 1 Abs. 5 Buchst. d unbeschadet der genannten Richtlinie gilt.
40
c) Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich. Fällt die Werbeanzeige unter den Begriff der Kennzeichnung im Sinn von Art. 10 Abs. 2 HCVO oder ist die Beklagte verpflichtet, die Informationspflichten des Art. 10 Abs. 2 HCVO in der Kennzeichnung des Produkts und der Werbung für das Produkt zu erfüllen, stehen dem Kläger die von ihm geltend gemachten Unterlassungsansprüche gegen die Beklagte aus § 8 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 2, §§ 3, 5a UWG in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 HCVO zu.
41
aa) Der Kläger ist klagebefugt. Entgegen der Auffassung der Revision gehört ihm eine erhebliche Zahl von Unternehmern an, die Waren oder Dienstleistungen gleicher oder verwandter Art auf demselben Markt vertreiben, und ist er hinreichend finanziell ausgestattet.
42
bb) Die weiteren Voraussetzungen für einen Unterlassungsanspruch des Klägers sind erfüllt.
- Feddersen
- Löffler
- Pohl
- Schmaltz
- Odörfer