BGH 6a. Zivilsenat, Urteil vom 17.09.2024, AZ VIa ZR 1034/22, ECLI:DE:BGH:2024:170924UVIAZR1034.22.0
Verfahrensgang
vorgehend Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 29. Juni 2022, Az: 8 U 33/22
vorgehend LG Magdeburg, 3. März 2022, Az: 10 O 436/21
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird der Beschluss des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Naumburg vom 29. Juni 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Berufungsanträge zu 1 und zu 4 zurückgewiesen worden sind.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf bis 30.000 € festgesetzt.
Von Rechts wegen
Tatbestand
1
Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch. Sie erwarb im Juni 2011 von einem Händler einen von der Beklagten hergestellten Neuwagen BMW X1, der mit einem Dieselmotor der Baureihe N47 (Schadstoffklasse Euro 5) ausgerüstet ist.
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Die Klägerin hat zuletzt beantragt, die Beklagte zur Zahlung von 28.037,10 € nebst Verzugszinsen (Berufungsantrag zu 1) und zur Zahlung von Deliktszinsen (Berufungsantrag zu 2), jeweils Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs, zu verurteilen. Ferner hat sie die Feststellung des Annahmeverzugs der Beklagten (Berufungsantrag zu 3) und die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten (Berufungsantrag zu 4) begehrt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Mit der insoweit vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Schlussanträge aus der Berufungsinstanz zu 1 und zu 4 weiter.
Entscheidungsgründe
3
Die Revision hat Erfolg.
I.
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Das Berufungsgericht hat vor Erlass des angefochtenen Beschlusses auf seine Absicht hingewiesen, die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen. Zur Begründung hat es auf einen Hinweis und einen Zurückweisungsbeschluss in einem anderen Verfahren Bezug genommen, an dem die Klägerin nicht beteiligt gewesen ist. Nachdem die Klägerin in der Sache Stellung genommen hat, ohne diese Vorgehensweise zu rügen, hat das Berufungsgericht die Berufung zurückgewiesen und dies im Wesentlichen wie folgt begründet:
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Die Berufung sei aus den Gründen des Hinweises zurückzuweisen. Die Ausführungen der Klägerin in ihrer Stellungnahme rechtfertigten keine andere Beurteilung der Sach- und Rechtslage. Der klägerische Vortrag zur unterschiedlichen AdBlue-Dosierung gehe ins Leere, weil im Fahrzeug unstreitig kein SCR-Katalysator verbaut sei. Beim OBD-System handele es sich um ein Fahrzeugdiagnosesystem und mithin um keine Abschalteinrichtung. Der Vortrag der Klägerin, wonach es für die Bordelektronik ein Leichtes sei, anhand des Einschlagwinkels des Lenkrads zu erkennen, ob das Fahrzeug für elf km ohne wesentliche Lenkradbewegung geradeaus gefahren werde und es bei fehlendem Lenkradeinschlag zu deutlich niedrigeren Emissionswerten komme, sei schon von der Diktion her ersichtlich ins Blaue hinein aufgestellt. Der Vortrag zur angeblichen Verknüpfung der ordnungsgemäßen Abgasreinigung an die auf dem Prüfstand vorgenommene Abschaltung von Nebenverbrauchern sowie zur Verminderung der Abgasreinigung nach Ablauf des Prüfungszeitraums von 1.180 Sekunden sei ohne Substanz. Ebenso sei die Behauptung, die Beklagte schalte die Abgasrückführung nach einer Gesamtleistung des Fahrzeugs von 60.000 km schlicht aus, aus der Luft gegriffen.
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Die übrigen von der Klägerin vorgetragenen Abschalteinrichtungen einschließlich Thermofenster und Kaltstartheizen knüpften von vornherein an Parameter an, welche auch außerhalb des Prüfstands vorkommen könnten. Hier fehle es an aussagekräftigen Umständen, die geeignet wären, den Einsatz der Steuerungssoftware als von Unrechtsbewusstsein bzw. Vorsatz der Beklagten getragen erscheinen zu lassen.
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Der Senat bleibe vor allem mit Blick auf die amtlichen Auskünfte des Kraftfahrt-Bundesamtes zu dem gegenständlichen Motor und die Betriebsdauer des Fahrzeugs von mittlerweile elf Jahren bei seiner Einschätzung, dass weder beim Erwerb des Fahrzeugs aus maßgeblicher ex ante-Sicht der Klägerin noch danach eine „nachvollziehbare Gefahr“ gedroht habe, es könne auf Grund behördlichen Einschreitens zu Nutzungsbeeinträchtigungen für das Fahrzeug kommen. Ein Schaden scheide deshalb aus.
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Dem von der Klägerin in Bezug genommenen Schlussvortrag des Generalanwalts vom 2. Juni 2022 (EuGH C-100/21) messe der Senat für das vorliegende Verfahren keine Relevanz zu, weil er sich mit seinen Rechtsansichten in Übereinstimmung mit der maßgeblichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs befinde.
II.
9
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
10
1. Die Revision rügt allerdings vergeblich, der Zurückweisungsbeschluss sei gemäß § 547 Nr. 6 ZPO nicht mit Gründen versehen.
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a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dem in § 547 Nr. 6, § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO niedergelegten Begründungserfordernis bereits dann Genüge getan, wenn die Gründe erkennen lassen, welche tatsächlichen Feststellungen und welche rechtlichen Erwägungen für die getroffene Entscheidung maßgeblich waren. Ist die Berufungsentscheidung zwar knapp, lässt sie aber die Auffassung des Berufungsgerichts genügend deutlich erkennen, liegt ein Mangel im Sinne des § 547 Nr. 6 ZPO nicht vor (BGH, Urteil vom 12. Juli 2023 – VIII ZR 60/22, NZM 2023, 677 Rn. 18 f. mwN; Urteil vom 4. Dezember 2023 – VIa ZR 1099/22, juris Rn. 10).
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b) Danach wahrt die angefochtene Entscheidung das Begründungserfordernis. Der Zurückweisungsbeschluss lässt erkennen, dass das Berufungsgericht einen Anspruch der Klägerin aus §§ 826, 31 BGB verneint hat, weil es das Klägervorbringen zur Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen entweder für prozessual unbeachtlich angesehen oder – wie in Bezug auf das Thermofenster sowie die Kaltstartheizen-Funktion – keine Anhaltspunkte dafür gesehen hat, dass der Einsatz der Motorsteuerungssoftware von einem Unrechtsbewusstsein der Beklagten getragen worden ist. Zudem geht aus dem Zurückweisungsbeschluss hervor, dass das Berufungsgericht sämtliche in Betracht kommenden Ansprüche aus unerlaubter Handlung jedenfalls am Fehlen eines Schadens hat scheitern lassen. Ob diese Erwägung des Berufungsgerichts zutraf, ist keine Frage des § 547 Nr. 6 ZPO (vgl. BGH, Urteil vom 4. Dezember 2023 – VIa ZR 1099/22, juris Rn. 11).
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c) Soweit die Revision mit Blick auf die prozessuale Vorgehensweise des Berufungsgerichts weitere Verfahrensrügen erhebt, hat der Senat die Rügen geprüft und für nicht durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird insoweit nach § 564 Satz 1 ZPO abgesehen.
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2. Es begegnet weiter keinen revisionsrechtlichen Bedenken, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus §§ 826, 31 BGB verneint hat. Die Revision erhebt insoweit auch keine Einwände.
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3. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV aus Rechtsgründen abgelehnt hat.
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a) Wie der Senat nach Erlass des angefochtenen Beschlusses entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 29 bis 32). Danach besteht aus dieser Anspruchsgrundlage zwar kein Anspruch der Klägerin auf die Gewährung sogenannten „großen“ Schadensersatzes (vgl. BGH, aaO, Rn. 22 bis 27). Doch kann ihr nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen (vgl. BGH, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 – III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; – III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom 12. Oktober 2023 – VII ZR 412/21, juris Rn. 20).
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b) Die Haftung der Beklagten aus § 823 Abs. 2 BGB kann auch nicht mit der Begründung abgelehnt werden, die Klägerin habe keinen ersatzfähigen Schaden erlitten, weil mit Blick auf amtliche Auskünfte des Kraftfahrt-Bundesamtes und die Betriebsdauer des Fahrzeugs keine „nachvollziehbare Gefahr“ bestanden habe, dass es zu Nutzungsbeeinträchtigungen für das Fahrzeug kommen könne. Mit Rücksicht auf den geldwerten Vorteil der jederzeitigen Verfügbarkeit eines Kraftfahrzeugs genügt schon die rechtliche Möglichkeit einer Nutzungsbeschränkung, die mit der – hier zugunsten der Klägerin revisionsrechtlich zu unterstellenden – Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung gegeben ist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 41 f. mwN).
III.
18
Der angefochtene Beschluss ist in dem tenorierten Umfang aufzuheben, § 562 Abs. 1 ZPO, weil er sich insoweit auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt, § 561 ZPO. Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, weil sie nicht zur Endentscheidung reif ist, § 563 Abs. 3 ZPO. Sie ist daher zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, § 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
19
Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird die Klägerin Gelegenheit haben, einen Differenzschaden darzulegen. Das Berufungsgericht wird sodann nach den näheren Maßgaben des Urteils des Senats vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21) die erforderlichen Feststellungen zu der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung sowie gegebenenfalls zu den weiteren Voraussetzungen und zum Umfang einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben.
- C. Fischer
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