Verletzung der Sachaufklärungspflicht (Beschluss des BFH 5. Senat)

BFH 5. Senat, Beschluss vom 29.08.2024, AZ V B 35/23, ECLI:DE:BFH:2024:B.290824.VB35.23.0

§ 76 Abs 1 S 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 15 Abs 2 S 1 Nr 1 UStG 2005, § 15 Abs 4 UStG 2005, § 155 FGO

Leitsatz

NV: Verneint das Finanzgericht die Anwendung einer Steuerbefreiung, die gemäß § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UStG zum Ausschluss des Vorsteuerabzugs führt, muss es zur Vermeidung eines Verstoßes gegen die gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO bestehende Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung der Frage einer weitergehenden Gewährung des Vorsteuerabzugs nachgehen.

Verfahrensgang

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 11. Mai 2023, Az: 1 K 2446/22, Urteil

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 11.05.2023 – 1 K 2446/22 aufgehoben.

Die Sache wird an das Finanzgericht Baden-Württemberg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

1

Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) betrieb in den Jahren 2009 bis 2014 und 2016 bis 2019 (Streitjahre) eine Klinik für ästhetische Chirurgie. Sie erbrachte unter anderem Operationsleistungen durch bei ihr angestellte Ärzte und erklärte für die Streitjahre steuerpflichtige Umsätze, wobei sie davon ausging, dass durchschnittlich 76 % ihrer gesamten Umsätze gemäß § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) steuerfrei seien. Aufgrund von Umsatzsteuer-Sonderprüfungen für Zeiträume bis 2012 erließ der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt –FA–) geänderte Umsatzsteuerbescheide für 2009 bis 2013, in denen er 10 % der Umsätze als steuerfrei und 90 % als steuerpflichtig berücksichtigte. Im Rahmen einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung für 2014 und 2015 reichte die Klägerin für das zweite Kalendervierteljahr 2015 als „Referenzzeitraum“ Unterlagen ein. Der Betriebsprüfer gelangte daraufhin zu der Auffassung, 10,5 % der Umsätze seien steuerfrei, 89,5 % der Umsätze hingegen steuerpflichtig. Das FA erließ dementsprechend geänderte Umsatzsteuerbescheide für 2014 bis 2019.

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Die Klägerin erhob gegen den geänderten Umsatzsteuerbescheid 2015 mit Zustimmung des FA Sprungklage, die das Finanzgericht (FG) abwies. Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision wies der Bundesfinanzhof (BFH) mit Beschluss vom 27.02.2023 – V B 54/22 (nicht veröffentlicht) zurück. Daraufhin wies das FA auch die gegen die Umsatzsteuerbescheide der Streitjahre gerichteten Einsprüche mit Einspruchsentscheidungen zurück. Die hiergegen erhobene Klage wies das FG mit Urteil vom 11.05.2023 – 1 K 2446/22 ebenfalls ab. Die Klägerin habe nicht nachgewiesen, dass es sich bei den streitigen Leistungen um medizinisch indizierte und damit steuerfreie Heilbehandlungen gehandelt habe. Es sei kein Sachverständigengutachten zu erstellen, da eine Dokumentation der Anamnese und Befunde der erbrachten ärztlichen Leistungen, die Voraussetzung für die Erstellung eines Sachverständigengutachtens sei, fehle. Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer vorliegenden Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision.

Entscheidungsgründe

II.

3

Die Beschwerde ist begründet. Ein von der Klägerin geltend gemachter Verfahrensmangel im Sinne von § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) liegt vor.

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1. Das FG hat dadurch gegen die ihm nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO obliegende Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung verstoßen, dass es nicht von Amts wegen ermittelt hat, ob und –bejahendenfalls– in welcher Höhe etwaige Vorsteuerbeträge auf die von ihm angenommenen steuerpflichtigen Umsätze zu berücksichtigen sind. Verneint das FG die Anwendung einer Steuerbefreiung, die gemäß § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 UStG zum Ausschluss des Vorsteuerabzugs führt, muss es zur Vermeidung eines Verstoßes gegen die gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO bestehende Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung der Frage einer weitergehenden Gewährung des Vorsteuerabzugs nachgehen.

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a) Gemäß § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Danach ist es grundsätzlich Aufgabe des Gerichts, die tatsächlichen Grundlagen der zu treffenden Entscheidung zu ermitteln. Unbeschadet der Mitwirkungspflichten der Beteiligten hat das FG dem Amtsermittlungsgrundsatz besondere Bedeutung zuzumessen, soweit es sich um Feststellungen handelt, denen zum Beispiel bezogen auf den Vorsteuerabzug bei der Versagung einer Steuerbefreiung unmittelbar entscheidungserhebliche Bedeutung zukommt. In diesen Fällen hat das FG jedenfalls solchen tatsächlichen Zweifeln nachzugehen, die sich ihm nach Lage der Akten und dem Vortrag der Beteiligten aufdrängen müssen (BFH-Beschluss vom 22.06.2020 – VI B 117/19, BFH/NV 2020, 1270, Rz 11). Das FG muss die sich im Einzelfall aufdrängenden Überlegungen dann auch ohne entsprechenden Hinweis der Beteiligten anstellen und entsprechende Aufklärungsmaßnahmen treffen (BFH-Beschluss vom 12.01.2023 – IX B 81/21, BFH/NV 2023, 380, Rz 13).

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b) Wird ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht mit der Begründung gerügt, das FG habe auch ohne entsprechenden Beweisantritt von Amts wegen den Sachverhalt weiter aufklären müssen, so ist genau anzugeben, welchen vorgetragenen Tatsachen das FG auch ohne Beweisantritt hätte nachgehen müssen, welche Beweismittel sich dem FG hätten aufdrängen müssen, welche entscheidungserheblichen Tatsachen sich aus diesen Beweismitteln für den festgestellten Sachverhalt ergeben hätten und inwiefern das angefochtene Urteil auf der unterlassenen Sachaufklärung beruhen kann (vgl. BFH-Urteil vom 25.07.2019 – III R 34/18, BFHE 265, 487, BStBl II 2021, 20, Rz 34).

7

c) Die Klägerin rügt, das FG habe seine Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) dadurch verletzt, dass es zwar in seinem Urteil den vom FA für die Streitjahre zugrunde gelegten Aufteilungsschlüssel zwischen den steuerfreien und den steuerpflichtigen Umsätzen bestätigt, aber –wie schon das FA bei der Festsetzung der Umsatzsteuer– nicht im Umfang der als steuerpflichtig erachteten Behandlungen einen entsprechenden Vorsteuerabzug berücksichtigt habe. Unter Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung hätte das FG jedoch auch die abziehbaren Vorsteuerbeträge anpassen müssen, was zu einer erheblichen Reduzierung der jeweils festzusetzenden Umsatzsteuer geführt hätte. Die Höhe der zu berücksichtigenden Vorsteuerbeträge ergebe sich aus den Jahresabschlüssen, wie ihre Übersichten unter Berücksichtigung der entsprechenden Konten ihrer Buchführung zeigten.

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d) Danach liegt ein hinreichend geltend gemachter Verfahrensfehler vor. Aus dem FG-Urteil ist nicht ersichtlich, dass sich das FG überhaupt mit der Frage beschäftigt hat, ob und in welchem Umfang abziehbare Vorsteuerbeträge nach § 15 UStG im Hinblick auf die vom FG vorgenommene, von den Erklärungen der Klägerin abweichende Aufteilung der Umsätze zu berücksichtigen sind. Eine Befassung hiermit hätte sich dem FG aber aufgrund von § 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 4 UStG aufdrängen müssen. Die Klägerin hat insoweit zudem hinreichend dargelegt, in welcher Höhe –ihrer Auffassung nach– das FG bei Zugrundelegung dessen materiell-rechtlicher Auffassung noch Vorsteuerbeträge hätte berücksichtigen müssen.

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2. Die Klägerin hat ihr Rügerecht auch nicht verloren. Zwar kann auf die Rüge des Verfahrensmangels der unzureichenden Sachaufklärung verzichtet werden (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung). Dabei geht das Rügerecht nicht nur durch eine ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung gegenüber dem FG, sondern bereits durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge verloren. Ein Verlust des Rügerechts tritt aber nicht ein, wenn das FG –wie hier– eine konkrete Möglichkeit, den von seinem Rechtsstandpunkt aus entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären, nicht genutzt hat, obwohl sich ihm die Notwendigkeit der weiteren Aufklärung auch ohne Antrag nach Lage der Akten und dem Ergebnis der Verhandlung hätte aufdrängen müssen (BFH-Beschluss vom 28.02.2018 – V B 145/16, BFH/NV 2018, 636, Rz 12 und 14). Zudem ergibt sich der gerügte Verfahrensverstoß, dass das FG die sich aufdrängende Aufklärung im Hinblick auf einen –sich aus der vom FG angenommenen Steuerpflicht ergebenden– Vorsteuerabzug unterlassen hat, im Streitfall erst aus den Entscheidungsgründen (BFH-Beschluss vom 17.09.2003 – I B 18/03, BFH/NV 2004, 207, unter II.4.), denen hierzu nichts zu entnehmen ist.

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3. Der Senat hält es für sachgerecht, die Vorentscheidung gemäß § 116 Abs. 6 FGO aufzuheben und den Streitfall an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Auf die weitere von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensrüge kommt es danach nicht an.

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4. Dem Antrag auf Aussetzung des Verfahrens (§ 74 FGO) im Hinblick auf außergerichtliche Verhandlungen zwischen den Beteiligten in Bezug auf die Frage des Vorsteuerabzugs war nicht stattzugeben, da es sich hierbei weder um den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits handelt noch hierzu eine anderweitige Feststellung zu treffen ist.

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5. Von einer weitergehenden Begründung sieht der Senat nach § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab.

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6. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

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