Urteil des BGH 6. Strafsenat vom 07.08.2024, AZ 6 StR 552/23

BGH 6. Strafsenat, Urteil vom 07.08.2024, AZ 6 StR 552/23, ECLI:DE:BGH:2024:070824U6STR552.23.0

Verfahrensgang

vorgehend LG Magdeburg, 24. Mai 2023, Az: 25 KLs 9/22

Tenor

Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 24. Mai 2023,

a)    soweit es die Angeklagten R.         und Ri.        betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben,

b)    soweit es den Angeklagten Hi.       betrifft, im Strafausspruch aufgehoben; die zugehörigen Feststellungen bleiben jedoch aufrechterhalten.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision betreffend den Angeklagten Hi.       wird verworfen.

– Von Rechts wegen –

Gründe

1

Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen versuchter besonders schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt, den Angeklagten R.         unter Einbeziehung früherer Strafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten, den Angeklagten Ri.      zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten und den Angeklagten Hi.        unter Einbeziehung früherer Strafen zu einer Gesamtstrafe von zwei Jahren. Die Vollstreckung der Strafen hat es zur Bewährung ausgesetzt. Die zu Ungunsten der Angeklagten eingelegten, auf die Sachrüge gestützten Revisionen der Staatsanwaltschaft richten sich dagegen, dass die Angeklagten nicht jeweils auch des (tateinheitlichen) erpresserischen Menschenraubs schuldig gesprochen worden sind; außerdem beanstandet die Staatsanwaltschaft die Strafzumessung. Die insoweit vom Generalbundesanwalt vertretenen Rechtsmittel haben in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang Erfolg; die weitergehende Revision betreffend den Angeklagten Hi.       ist unbegründet.

2

1. Nach den Feststellungen wusste der Angeklagte Ri.       , dass der ihm seit langem bekannte Nebenkläger leicht einzuschüchtern und aufgrund seiner Ängstlichkeit kaum in der Lage war, sich gegen Übergriffe zur Wehr zu setzen. Ri.     hatte dies zur Befriedigung seiner sadomasochistischen Neigung gelegentlich dazu ausgenutzt, den Nebenkläger erniedrigend zu behandeln.

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Am Tattag hatte Ri.      beschlossen, von dem Nebenkläger 400 Euro zu verlangen und ihn zur Durchsetzung der unberechtigten Forderung einzuschüchtern, zu erniedrigen und zu quälen. Zu diesem Zweck verabredete er sich mit dem Angeklagten R.         , und beide fuhren mit dessen Pkw nach Burg, nachdem der Nebenkläger auf Nachfrage Ri.     s über „WhatsApp“ mitgeteilt hatte, sich dort aufzuhalten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt weihte Ri.      R.        in seine Pläne ein, und beide beabsichtigten, gemeinschaftlich von dem Nebenkläger Geld zu fordern und dieses dann für sich zu verwenden. Der Nebenkläger stieg zu ihnen in das Fahrzeug, weil er annahm, mit beiden etwas zu unternehmen. Ri.      und R.         gaben vor, zu McDonalds fahren zu wollen, um dort etwas zu essen, womit sich der Nebenkläger einverstanden erklärte. Während der Fahrt hielt R.         „vereinbarungsgemäß unter dem Vorwand, dass sie beide ‚austreten‘ wollten“, abseits der Straße an. Ri.      und R.        stiegen aus und veranlassten den überraschten Nebenkläger dazu, das Auto ebenfalls zu verlassen. Dann forderten sie ihn auf, sein Mobiltelefon, seine Zigaretten, seinen Ausweis und sein Portemonnaie auf die Motorhaube zu legen, und Ri.       verlangte die Zahlung von 400 Euro von ihm. Ri.       durchsuchte das Portemonnaie und entdeckte eine EC-Karte, deren Gültigkeit – was Ri.      und R.         zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten – abgelaufen war. R.         veranlasste den eingeschüchterten Nebenkläger zur Preisgabe der PIN-Nummer für die EC-Karte und fuhr zu einer Bankfiliale, wo er vergeblich versuchte, mit der EC-Karte an einem Geldautomaten Bargeld abzuheben. R.         war darüber erbost. Er fuhr zurück zu Ri.      , der mit dem Nebenkläger auf ihn gewartet hatte, und schlug dem Nebenkläger unvermittelt mit der Faust ins Gesicht. Dann holte er ein Spray aus dem Fahrzeug und sprühte es ihm ins Gesicht. Ri.      , der den Nebenkläger zur Durchsetzung der Zahlungsforderung seinerseits weiter einschüchtern wollte, sagte dabei, dass es sich um Pfefferspray handele, was das Landgericht indes nicht festzustellen vermochte. Jedenfalls führte der Einsatz des Sprays dazu, dass die Augen des Nebenklägers brannten und stark tränten, so dass seine Sicht eingeschränkt war. Er ließ auch dies aus Angst über sich ergehen, ohne sich zur Wehr zu setzen, weil er seine Situation als ausweglos empfand und nicht daran dachte zu flüchten. R.           und Ri.        erkannten dies und beschlossen, den Nebenkläger weiter zu malträtieren und einzuschüchtern, um jedenfalls zu einem späteren Zeitpunkt unter dem fortwirkenden Eindruck ihrer Drohungen und Gewaltanwendungen Geld von ihm einzutreiben.

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Zu diesem Zweck drängten sie den Nebenkläger in den Pkw, fuhren mit ihm zu der Wohnung des Angeklagten Hi.       und weihten diesen in ihr Vorhaben ein. Zu dritt gingen sie mit dem durch die vorangegangenen Gewalteinwirkungen eingeschüchterten und verängstigten Nebenkläger in die Wohnung und schlugen und traten dort auf ihn ein. Hi.      , der an der erpressten Geldsumme beteiligt werden wollte, erhöhte die Geldforderung nunmehr auf 600 Euro. Um den Nebenkläger weiter zu demütigen, musste dieser sich auf Geheiß der Angeklagten zumindest weitgehend entkleiden. Dann drückten die Angeklagten Zigaretten auf seinem nackten Oberkörper aus. Ri.       ritzte ihm mit einem Pizzaschneider außerdem ein unvollständiges Hakenkreuz auf den Rücken. Dann gab er den Pizzaschneider Hi.     , der dem Nebenkläger damit ein Andreaskreuz auf die Brust ritzte. Schließlich traten die Angeklagten mit ihren Turnschuhen gegen den Kopf und ins Gesicht des Nebenklägers. Als sie bemerkten, dass der Nebenkläger stark blutete und zeitweilig benommen war, hörten sie mit den Misshandlungen auf. Sie setzten ihm eine Frist von zwei Tagen, um die geforderten 600 Euro zu beschaffen, und ließen ihn gehen.

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Zwei Tage später fuhren die Angeklagten zu der Wohnung, in der sich der Nebenkläger seinerzeit aufhielt. Er öffnete ihnen jedoch nicht, weil er sie bereits vor dem Haus hatte stehen sehen, und verständigte aus Angst vor weiteren Misshandlungen die Polizei. Als die Angeklagten das sich nähernde Polizeifahrzeug bemerkten, wurde ihnen bewusst, dass ihr Plan, den Nebenkläger durch Drohungen und fortwirkende Gewaltanwendung zur Geldzahlung zu veranlassen, gescheitert war, weshalb sie davonfuhren.

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2. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft sind in vollem Umfang begründet, soweit sie die Angeklagten Ri.       und R.          betreffen; das den Angeklagten Hi.       betreffende Rechtsmittel führt dagegen nur zur Aufhebung des Strafausspruchs.

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a) Im Hinblick auf die Angeklagten Ri.      und R.         hat das Landgericht seine Kognitionspflicht verletzt, indem es den festgestellten Sachverhalt entgegen § 264 StPO nicht auch unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des erpresserischen Menschenraubs (§ 239a Abs. 1 Variante 1 StGB) beurteilt hat (vgl. BGH, Urteile vom 19. April 2023 – 6 StR 497/22, Rn. 7; vom 25. Mai 2023 – 4 StR 479/22, Rn. 11, jeweils mwN). Dafür hätte – wie der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift zutreffend ausgeführt hat – Anlass bestanden, weil die Feststellungen zum ersten Teil des Tatgeschehens nahelegen, dass die Angeklagten Ri.      und R.        den Nebenkläger in Erpressungsabsicht entführten.

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Das Merkmal des Entführens im Sinne des § 239a Abs. 1 Variante 1 StGB ist – wie im Fall des § 239b Abs. 1 Variante 1 StGB – erfüllt, wenn der Täter das Opfer ohne dessen Willen an einen anderen Ort bringt und dessen Schutz- und Verteidigungsmöglichkeiten dadurch in einem Maß einschränkt, dass es seinem ungehemmten Einfluss ausgesetzt ist (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Novem-ber 1994 – GSSt 1/94, BGHSt 40, 350, 359 mwN). Die Ortsveränderung braucht nicht gewaltsam bewirkt zu werden. Der Täter kann sich auch anderer Mittel bedienen (vgl. BGH, Urteil vom 9. Juni 1999 – 3 StR 78/99, NStZ 1999, 509), etwa einer List. Darunter ist ein Verhalten zu verstehen, das darauf abzielt, unter geflissentlichem und geschicktem Verbergen der wahren Zwecke oder Mittel die Ziele des Täters durchzusetzen, indem dieser beim Opfer zunächst falsche Vorstellungen über den Sinn der Ortsveränderung weckt (vgl. BGH, Urteil vom 23. Januar 1996 – 1 StR 687/95, NStZ 1996, 276, 277 mwN).

9

Das war hier jedenfalls den äußeren Umständen nach der Fall. Ri.       und R.           hatten beschlossen, den Nebenkläger „einzuschüchtern“, um ihn dadurch zur Zahlung von 400 Euro zu veranlassen. Sie gaben sodann vor, mit dem Pkw zu McDonalds fahren zu wollen, R.          verließ aber entsprechend einer mit Ri.        getroffenen „Vereinbarung“ die Bundesstraße unter dem „Vorwand“, das beide „austreten müssten“. In Anbetracht dessen liegt es nahe, dass Ri.     und R.         durch eine mittels List bewirkte Ortsveränderung eine den Anforderungen des § 239a Abs. 1 StGB entsprechende stabile Bemächtigungslage geschaffen hatten und dies auch wollten, um die Sorge des Nebenklägers um sein Wohl während der andauernden Zwangslage zu einer Erpressung auszunutzen. Abschließend beurteilen lässt sich dies aufgrund der bislang getroffenen Feststellungen nicht, weil ihnen nicht zu entnehmen ist, welchen konkreten Inhalt die von den Angeklagten Ri.      und R.         getroffene „Vereinbarung“ hatte. Ob diese Angeklagten tateinheitlich auch des erpresserischen Menschenraubs schuldig sind, bedarf deshalb neuer Verhandlung und Entscheidung.

10

b) Den Angeklagten Hi.      , der an dem ersten Teil des Tatgeschehens nicht beteiligt war, hat das Landgericht demgegenüber rechtsfehlerfrei nur der versuchten besonders schweren räuberischen Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung schuldig gesprochen. Der ihn betreffende Strafausspruch hält rechtlicher Überprüfung indes nicht stand.

11

aa) Die Staatsanwaltschaft moniert allerdings zu Unrecht, dass das Landgericht das Vorliegen eines minder schweren Falles im Sinne des § 250 Abs. 3 StGB „allein“ unter Heranziehung des vertypten Strafmilderungsgrundes des Versuchs (§ 23 Abs. 2, § 49 Abs. 1 StGB) bejaht habe.

12

Sieht das Gesetz den Sonderstrafrahmen eines minder schweren Falles vor und ist – wie hier – auch ein gesetzlich vertypter Milderungsgrund gegeben, so muss bei der Strafrahmenwahl zunächst geprüft werden, ob der mildere Sonderstrafrahmen zur Anwendung kommt. Dabei ist im Rahmen einer Gesamtwürdigung vorab auf die allgemeinen Strafzumessungsgründe abzustellen. Vermögen diese bereits die Annahme eines minder schweren Falles zu tragen, stehen die den gesetzlich vertypten Milderungsgrund verwirklichenden Umstände noch für eine weitere Strafrahmenmilderung nach § 49 StGB zur Verfügung. Ist jedoch nach Abwägung aller allgemeinen Strafzumessungsumstände das Vorliegen eines minder schweren Falles abzulehnen, so ist zusätzlich der gesetzlich vertypte Strafmilderungsgrund in die gebotene Gesamtabwägung einzubeziehen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Beschluss vom 22. März 2018 – 3 StR 625/17 Rn. 4 mwN).

13

Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe noch gerecht. Es stößt zwar auf rechtliche Bedenken, dass das Landgericht vorab zusammenfassend im Hinblick auf alle drei Angeklagten das Vorliegen eines minder schweren Falles im Sinne des § 250 Abs. 3 StGB bejaht hat. Als durchgreifend rechtsfehlerhaft erweisen sich die Ausführungen aber nicht. Ihnen lässt sich entnehmen, dass das Landgericht die erforderliche Gesamtwürdigung vorgenommen und zunächst geprüft hat, ob allgemeine Strafzumessungsgründe für sich genommen die Anwendung des Sonderstrafrahmens geboten erscheinen lassen. Dies hat es mit Rücksicht auf „das Gesamtgepräge der Tat, insbesondere des erheblichen Quälens“ des Nebenklägers verneint. Einen minder schweren Fall hat es sodann ausdrücklich nur „unter weiterer Heranziehung des vertypten Strafmilderungsgrundes“ angenommen. Wenngleich das Landgericht die aus seiner Sicht maßgeblichen allgemeinen Strafzumessungsgründe erst im Rahmen der die jeweiligen Angeklagten betreffenden konkreten Strafzumessung im Einzelnen benannt hat, lässt dies hier nicht besorgen, dass es diese Umstände bei der Gesamtwürdigung nicht im Blick hatte, zumal die Ausführungen zur konkreten Strafzumessung unmittelbar an diejenigen zur Frage eines minder schweren Falls anschließen.

14

bb) Zu Recht beanstandet die Staatsanwaltschaft demgegenüber die strafmildernde Bewertung des Umstands, dass der Angeklagte Hi.      im Falle einer Verbüßung der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe „Erstverbüßer“ wäre. Das begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

15

Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den es in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Angeklagten gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und hierbei gegeneinander abzuwägen. Ein Eingriff des Revisionsgerichts ist nur möglich, wenn die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind oder von unzutreffenden Tatsachen ausgehen, das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstößt oder wenn sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung, gerechter Schuldausgleich zu sein, so weit löst, dass sie nicht mehr innerhalb des eingeräumten Spielraums liegt. Dagegen ist eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ausgeschlossen (vgl. BGH, Beschluss vom 10. April 1987 – GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349).

16

Diesen Anforderungen werden die Ausführungen des Landgerichts nicht gerecht. Sie lassen besorgen, dass es in der Eigenschaft des Angeklagten Hi.      als „Erstverbüßer“ als solcher einen bestimmenden Strafmilderungsgrund im Sinne des § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO gesehen hat. Das ist rechtsfehlerhaft. Die Tatsache der erstmaligen Verbüßung einer Freiheitsstrafe bekommt vielmehr regelmäßig erst dann das Gewicht eines bestimmenden Strafzumessungsgrundes, wenn besondere Gründe wie Alter oder Krankheit hinzukommen (vgl. BGH, Beschluss vom 23. November 2000 – 3 StR 225/00, Rn. 13 mwN). Dies lässt sich den Urteilsgründen nicht entnehmen.

17

Der ohnehin milde Strafausspruch beruht auf dem Rechtsfehler, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Landgericht ohne ihn auf eine höhere Strafe erkannt hätte. Insbesondere hat es den Umstand, dass der Angeklagte Hi.       im Fall einer Strafvollstreckung „Erstverbüßer“ wäre, als ersten Strafmilderungsgrund genannt und dadurch besonders hervorgehoben.

18

Die dem Strafausspruch zugrundeliegenden Feststellungen können bestehen bleiben, weil sie von dem Rechtsfehler nicht berührt sind (§ 353 Abs. 2 StPO).

Tiemann                  Fritsche                von Schmettau

                Werner                Arnoldi

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