BGH 6a. Zivilsenat, Urteil vom 11.06.2024, AZ VIa ZR 768/22, ECLI:DE:BGH:2024:110624UVIAZR768.22.0
Verfahrensgang
vorgehend OLG München, 9. Mai 2022, Az: 28 U 219/22
vorgehend LG Ingolstadt, 28. Dezember 2021, Az: 21 O 3484/20
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird der Beschluss des 28. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 9. Mai 2022 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als der Berufungsantrag zu 1 in Höhe von 23.433,38 € nebst Zinsen und der Berufungsantrag zu 3 zurückgewiesen worden sind.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Streitwert für die Revision wird auf bis 25.000 € festgesetzt.
Von Rechts wegen
Tatbestand
1
Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in einem Kraftfahrzeug auf Schadensersatz in Anspruch.
2
Sie erwarb im Dezember 2016 einen Gebrauchtwagen des Typs Audi A6 mit einem Dieselmotor der Baureihe EA 897 (Euro 6), den sie später veräußerte. Die Klägerin hat zuletzt im Wesentlichen die Erstattung des Kaufpreises abzüglich einer Nutzungsentschädigung und des Veräußerungserlöses (Berufungsantrag zu 1), die Zahlung von Deliktszinsen (Berufungsantrag zu 2) sowie die Freistellung von Kosten der außergerichtlichen Rechtsverfolgung (Berufungsantrag zu 3) begehrt. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der insoweit vom Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin die Berufungsanträge in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang weiter.
Entscheidungsgründe
3
Die Revision der Klägerin hat Erfolg.
I.
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Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung – soweit für das Revisionsverfahren von Interesse – im Wesentlichen wie folgt begründet:
5
Die Berufung der Klägerin sei zurückzuweisen, weil das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg habe und die übrigen Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 ZPO vorlägen. Zur Begründung werde auf den vorausgegangenen Hinweis Bezug genommen. Mit der Gegenerklärung habe die Klägerin nicht ein einziges der im Hinweis genannten Verfahren aufgegriffen, sondern bereits gehaltenen Vortrag wiederholt.
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In dem in Bezug genommenen Hinweis hatte der Vorsitzende des Berufungsgerichts insbesondere auf einige jeweils mit Aktenzeichen näher bezeichnete Verfahren beim Oberlandesgericht München verwiesen. An den genannten Verfahren seien die Prozessbevollmächtigten der Klägerin beteiligt gewesen. Das Berufungsgericht mache sich die Erwägungen der dort getroffenen Entscheidungen zu eigen, Wiederholungen seien nicht veranlasst.
II.
7
Diese Erwägungen halten der Überprüfung im Revisionsverfahren nicht in allen Punkten stand.
8
1. Die vor dem Hintergrund des § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO nicht unbedenkliche Vorgehensweise des Berufungsgerichts, seine Entscheidung unter pauschaler Bezugnahme auf Verfahren bei dem Oberlandesgericht München, an denen die Klägerin nicht beteiligt war, zu begründen, kann der Revision nicht zum Erfolg verhelfen. Denn zum einen liegt in einer Bezugnahme auf eine nicht zwischen den Parteien ergangene Entscheidung zu Begründungszwecken kein Verstoß gegen § 547 Nr. 6 ZPO, sofern die in Bezug genommene Entscheidung Gegenstand der mündlichen Verhandlung war und die Parteien deshalb Gelegenheit hatten, sich damit auseinanderzusetzen (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Dezember 1962 – I ZB 27/62, BGHZ 39, 333, 346 mwN zu § 551 Nr. 7 ZPO aF). Dies gilt entgegen der Auffassung der Revision auch im Streitfall. Die Klägerin hatte wegen der Bezugnahme im Hinweis hinreichend Gelegenheit zu einer Auseinandersetzung; sie hat in der Gegenerklärung auch keine Einwände gegen die Bezugnahme erhoben. Zum anderen zeigt die Revision eine Entscheidungserheblichkeit des gerügten Rechtsverstoßes im Sinne des § 545 Abs. 1 ZPO nicht auf (vgl. BGH, Urteil vom 23. Januar 2024 – VIa ZR 612/22, juris Rn. 9).
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2. Die Revision wendet sich jedoch mit Erfolg dagegen, dass das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nicht erwogen hat. Wie der Senat nach Erlass des Zurückweisungsbeschlusses entschieden hat, sind die Bestimmungen der § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV Schutzgesetze im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, die das Interesse des Fahrzeugkäufers gegenüber dem Fahrzeughersteller wahren, nicht durch den Kaufvertragsabschluss eine Vermögenseinbuße im Sinne der Differenzhypothese zu erleiden, weil das Fahrzeug entgegen der Übereinstimmungsbescheinigung eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 aufweist (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 29 bis 32).
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Das Berufungsgericht hat daher zwar zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf die Gewährung sogenannten „großen“ Schadensersatzes verneint (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023 – VIa ZR 335/21, BGHZ 237, 245 Rn. 22 bis 27). Es hat jedoch unberücksichtigt gelassen, dass der Klägerin nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ein Anspruch auf Ersatz eines erlittenen Differenzschadens zustehen kann (vgl. BGH, Urteil vom 26. Juni 2023, aaO, Rn. 28 bis 32; ebenso BGH, Urteile vom 20. Juli 2023 – III ZR 267/20, WM 2023, 1839 Rn. 21 ff.; – III ZR 303/20, juris Rn. 16 f.; Urteil vom 12. Oktober 2023 – VII ZR 412/21, juris Rn. 20). Demzufolge hat das Berufungsgericht – von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig – weder der Klägerin Gelegenheit zur Darlegung eines solchen Schadens gegeben, noch hat es Feststellungen zu einer deliktischen Haftung der Beklagten wegen des zumindest fahrlässigen Einbaus einer unzulässigen Abschalteinrichtung getroffen.
III.
11
Die Berufungsentscheidung ist daher im Umfang des Revisionsangriffs aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO), weil sie sich insoweit auch nicht aus anderen Gründen als richtig darstellt (§ 561 ZPO). Die Sache ist insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Das Berufungsgericht wird auf der Grundlage der mit Urteil des Senats vom 26. Juni 2023 in der Sache VIa ZR 335/21 aufgestellten Grundsätze die erforderlichen Feststellungen zu einer Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV zu treffen haben, nachdem es der Klägerin Gelegenheit gegeben hat, den Differenzschaden zu berechnen und dazu vorzutragen.
- C. Fischer
- Krüger
- Götz
- Rensen
- Katzenstein