Beschluss des BGH 4. Zivilsenat vom 05.06.2024, AZ IV ZB 30/23

BGH 4. Zivilsenat, Beschluss vom 05.06.2024, AZ IV ZB 30/23, ECLI:DE:BGH:2024:050624BIVZB30.23.0

Verfahrensgang

vorgehend OLG Hamm, 24. August 2023, Az: I-20 U 38/23
vorgehend LG Bielefeld, 2. Februar 2023, Az: 7 O 210/17

Tenor

Die Rechtsbeschwerde des Klägers gegen den Beschluss des 20. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 24. August 2023 wird auf seine Kosten als unzulässig verworfen.

Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf 123.570,34 € festgesetzt.

Gründe

1

I. Das klageabweisende Urteil des Landgerichts ist den Prozessbevollmächtigten des Klägers am 3. Februar 2023 zugestellt worden. Am 3. März 2023 hat der Kläger Berufung eingelegt. Mit einem am 6. April 2023 beim Oberlandesgericht eingegangenen Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten hat der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt.

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Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags hat der Kläger vorgetragen, im Büro seiner Prozessbevollmächtigten erfolgten Aktenführung und Fristenkontrolle ausschließlich elektronisch mittels eines eingeführten Rechtsanwaltsprogramms. Im Falle eines eingehenden Urteils erster Instanz notiere die zuständige Mitarbeiterin die Berufungs- und die Berufungsbegründungsfrist nebst entsprechenden Vorfristen im elektronischen Fristenkalender. Diese Tätigkeit führten ausschließlich geprüfte Rechtsanwaltsfachangestellte aus, deren Arbeit regelmäßig stichprobenartig kontrolliert werde. Die dem jeweiligen Rechtsanwalt zugeordnete Rechtsanwaltsfachangestellte habe zudem die Aufgabe, täglich vor Büro- beziehungsweise Dienstschluss dessen Kalender auf offene Fristen zu kontrollieren und den Rechtsanwalt gegebenenfalls auf die offene Frist hinzuweisen. Das vorliegende Verfahren sei dem sachbearbeitenden Rechtsanwalt zum Ablauf der Vorfrist vorgelegt worden, der die Eintragung der Berufungsbegründungsfrist geprüft habe. Eine Bearbeitung sei zu diesem Zeitpunkt nicht erforderlich gewesen. Am Tag des Ablaufs der Berufungsbegründungsfrist habe der Rechtsanwalt sich auf die Büroorganisation verlassen und die Fristen nicht selbst überprüft. Die Frist sei versäumt worden, weil ihn die zuständige Mitarbeiterin nicht auf die offene Berufungsbegründungsfrist hingewiesen habe.

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Das Oberlandesgericht hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Rechtsbeschwerde.

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II. Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 238 Abs. 2 Satz 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist nicht zulässig, weil die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen. Insbesondere die von der Rechtsbeschwerde allein geltend gemachte Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung gemäß § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO erfordert keine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts.

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1. Nach Auffassung des Berufungsgerichts hat der Kläger nicht dargelegt, dass er ohne ein ihm nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechenbares Verschulden seiner Prozessbevollmächtigten daran gehindert gewesen sei, die Berufungsbegründungsfrist einzuhalten. Obwohl dem Prozessbevollmächtigten des Klägers der Fristablauf durch eine rote Markierung der Frist im elektronischen Fristenkalender zur Kenntnis gebracht worden sei, habe er fristwahrende Handlungen unterlassen. Gründe für die Fristversäumnis habe der Kläger nicht dargelegt, so dass von einem schuldhaften Verhalten seines Prozessbevollmächtigten ausgegangen werden müsse.

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Das Verschulden sei ursächlich für die Fristversäumung. Die allgemeine Anweisung, wonach die dem sachbearbeitenden Rechtsanwalt zugeordnete Rechtsanwaltsfachangestellte täglich vor Büroschluss den Kalender zu kontrollieren und gegebenenfalls den Rechtsanwalt auf die offene Frist hinzuweisen habe, entlaste den Kläger nicht. Ein Verschulden eines Beteiligten oder eines Prozessbevollmächtigten schließe die Wiedereinsetzung nur dann nicht aus, wenn dessen rechtliche Erheblichkeit durch ein späteres, dem Beteiligten oder seinem Bevollmächtigten nicht zuzurechnendes Ereignis entfalle. Nach dem Vortrag des Klägers müsse dagegen davon ausgegangen werden, dass das Verschulden seines Prozessbevollmächtigten erst erfolgt sei, nachdem die Kanzleiangestellte den Tageskalender auf offene Fristen habe kontrollieren müssen. Es sei nicht dargelegt, dass der Prozessbevollmächtigte seine anwaltliche Tätigkeit ebenfalls mit Büroschluss eingestellt habe. Sei er noch nach Büroschluss mit seiner Arbeit beschäftigt gewesen, habe er die Fristversäumung zeitlich nach der unterlassenen Kontrolle durch die Kanzleiangestellte verschuldet. Den Prozessbevollmächtigten entlaste nicht, dass er sich auf die Büroorganisation verlasse habe. Ihm sei auch nach Büroschluss die noch offene Frist in seinem Kalender als rot markiert angezeigt worden. Bei gehöriger Sorgfalt hätte er erkennen müssen, dass die Sache noch zur Bearbeitung offen und die tägliche Fristenkontrolle durch seine Kanzleiangestellte ausnahmsweise nicht durchgeführt worden sei.

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2. Die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand durch das Berufungsgericht erfordert keine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung.

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a) Das Verfahrensgrundrecht des Klägers auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes ist nicht verletzt.

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aa) Gemäß § 233 ZPO ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn eine Partei ohne ihr Verschulden verhindert gewesen ist, die Berufungsbegründungsfrist einzuhalten. Nach § 85 Abs. 2 ZPO ist der Partei ein Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten zuzurechnen. Wiedereinsetzung kann nicht gewährt werden, wenn nach den seitens der Partei gemäß § 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO glaubhaft gemachten Tatsachen zumindest die Möglichkeit besteht, dass die Fristversäumnis von der Partei oder ihrem Prozessbevollmächtigten verschuldet gewesen ist (Senatsbeschlüsse vom 6. September 2023 – IV ZB 4/23, NJW 2023, 3432 Rn. 11; vom 11. Januar 2023 – IV ZB 23/21, NJW-RR 2023, 425 Rn. 12).

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bb) So liegt es hier. Nach den zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags vorgetragenen Umständen ist nicht ausgeschlossen, dass das Fristversäumnis auf einem Verschulden des klägerischen Prozessbevollmächtigten beruht. Der Kläger hat nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass die Kanzlei seiner Prozessbevollmächtigten über eine den Anforderungen genügende Ausgangskontrolle verfügt.

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(1) Ein Rechtsanwalt hat durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb laufender Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Hierzu hat er grundsätzlich sein Möglichstes zu tun, um Fehlerquellen bei der Behandlung von Rechtsmittelfristen auszuschließen (Senatsbeschlüsse vom 6. September 2023 – IV ZB 4/23, NJW 2023, 3432 Rn. 13; vom 11. Januar 2023 – IV ZB 23/21, NJW-RR 2023, 425 Rn. 14; vom 23. Februar 2022 – IV ZB 1/21, juris Rn. 9; vom 16. Dezember 2015 – IV ZB 23/15, juris Rn. 9). Zu diesem Zweck hat der Rechtsanwalt seine Ausgangskontrolle so zu organisieren, dass sie einen gestuften Schutz gegen Fristversäumungen bietet (BGH, Beschlüsse vom 22. November 2022 – XI ZB 13/22, NJW 2023, 1224 Rn. 10; vom 9. Januar 2020 – I ZB 41/19, juris Rn. 9; vom 29. Oktober 2019 – VIII ZB 103/18 u.w., NJW-RR 2020, 52 Rn. 12).

12

Im Rahmen dieser gestuften Ausgangskontrolle hat der Rechtsanwalt anzuordnen, dass die Erledigung von Sachen, bei denen eine Frist zu wahren ist, am Abend eines jeden Arbeitstages anhand des Fristenkalenders durch eine dazu beauftragte Bürokraft überprüft wird. Diese nochmalige, selbständige und abschließende Ausgangskontrolle muss gewährleisten, dass geprüft wird, welche fristwahrenden Schriftsätze hergestellt, abgesandt oder zumindest versandfertig gemacht worden sind und ob insoweit eine Übereinstimmung mit den im Fristenkalender vermerkten Sachen besteht. Der Abgleich mit dem Fristenkalender dient unter anderem der Überprüfung, ob sich aus den Eintragungen noch unerledigt gebliebene Fristsachen ergeben (BGH, Beschlüsse vom 22. November 2022 – XI ZB 13/22, NJW 2023, 1224 Rn. 12; vom 9. Januar 2020 – I ZB 41/19, juris Rn. 11; vom 29. Oktober 2019 – VIII ZB 103/18 u.w., NJW-RR 2020, 52 Rn. 13).

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(2) Gemessen daran hat der Kläger nicht dargelegt und glaubhaft gemacht, dass im Büro seiner Prozessbevollmächtigten hinreichende organisatorische Vorkehrungen getroffen worden sind, um eine effektive Ausgangskontrolle zu gewährleisten. Nach seinem Vorbringen hatte die Kanzleimitarbeiterin im Rahmen der Fristenkontrolle täglich vor Büroschluss allein den Fristenkalender zu kontrollieren und den Rechtsanwalt gegebenenfalls auf offene Fristen hinzuweisen. Das genügt für eine ordnungsgemäße abendliche Ausgangskontrolle nicht. Die Kanzleiangestellte hätte auch bei ordnungsgemäßem Befolgen der Anordnung nicht nochmals, selbständig und abschließend kontrolliert, ob die fristgebundene Sache tatsächlich bearbeitet und ein fristwahrender Schriftsatz abgesandt oder zumindest versandfertig gemacht worden ist. Die Anordnung einer solchen abendlichen Ausgangskontrolle zusätzlich zur Fristenkontrolle ist den Darlegungen des Klägers nicht zu entnehmen.

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(3) Da die Anforderungen, die die Rechtsprechung an eine wirksame Ausgangskontrolle stellt, einem Rechtsanwalt bekannt sein müssen, erlaubt der Umstand, dass sich der Kläger zur Organisation der Ausgangskontrolle in der Kanzlei seiner Prozessbevollmächtigten nicht verhält, ohne weiteres den Schluss darauf, dass entsprechende organisatorische Maßnahmen gefehlt haben (BGH, Beschlüsse vom 26. Mai 2021 – VIII ZB 55/19, juris Rn. 15; vom 25. Februar 2016 – III ZB 42/15, NJW 2016, 1742 Rn. 11; vom 3. Dezember 2015 – V ZB 72/15, NJW 2016, 874 Rn. 16). Insoweit handelt es sich nicht um erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben im Wiedereinsetzungsantrag, die – nach einem gebotenen Hinweis des Gerichts – auch noch im Rechtsbeschwerdeverfahren vervollständigt werden können (BGH, Beschlüsse vom 26. Mai 2021 aaO Rn. 17 f.; vom 3. Dezember 2015 aaO; vgl. auch Senatsbeschluss vom 11. Januar 2023 – IV ZB 23/21, NJW-RR 2023, 425 Rn. 22).

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b) Die fehlende Anordnung einer Ausgangskontrolle war für die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auch ursächlich. Im Rahmen einer nochmaligen, selbständigen und abschließenden Ausgangskontrolle zusätzlich zur Fristenkontrolle wäre die offene Berufungsbegründungsfrist im Terminkalender des sachbearbeitenden Prozessbevollmächtigten aufgefallen. Darüber hinaus hätte die Ausgangskontrolle ergeben, dass die Sache noch nicht bearbeitet und die Berufungsbegründung oder ein Fristverlängerungsantrag weder abgesandt noch versandfertig gemacht worden war. Nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge bei ansonsten pflichtgemäßem Verhalten der Beteiligten (Senatsbeschlüsse vom 6. September 2023 – IV ZB 4/23, NJW 2023, 3432 Rn. 18; vom 11. Januar 2023 – IV ZB 23/21, NJW-RR 2023, 425 Rn. 20) hätte in diesem Fall jedenfalls rechtzeitig ein Fristverlängerungsantrag an das Berufungsgericht übersandt werden können.

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c) Danach sind die von der Rechtsbeschwerde gerügten Verletzungen des rechtlichen Gehörs des Klägers und des Willkürverbots nicht entscheidungserheblich.

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3. Die Rechtsbeschwerde ist nach alledem auch nicht zulässig, soweit sie sich gegen die Verwerfung der Berufung richtet.

  • Prof. Dr. Karczewski
  • Harsdorf-Gebhardt
  • Dr. Bußmann
  • Dr. Bommel
  • Rust
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