BVerwG 1. Senat, Beschluss vom 26.10.2022, AZ 1 B 63/22, ECLI:DE:BVerwG:2022:261022B1B63.22.0
Verfahrensgang
vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 13. Juni 2022, Az: 11 A 1318/19, Urteil
vorgehend VG Köln, 12. Februar 2019, Az: 7 K 1007/18, Urteil
Tenor
Der Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten wird abgelehnt.
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. Juni 2022 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
Gründe
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A. Der Prozesskostenhilfeantrag der Klägerin wird abgelehnt, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung aus den nachfolgenden Gründen keine Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 VwGO i. V. m. §§ 114, 121 Abs. 1 ZPO).
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B. Die auf einen Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) und die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg.
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I. Die Revision ist nicht wegen eines Verfahrensmangels (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen. Ohne Erfolg rügt die Beschwerde, das Berufungsgericht habe den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, indem es über ihren Antrag auf Erteilung eines Aufnahmebescheids nicht entschieden und die mit dem Wiederaufgreifensantrag vorgelegten neuen Beweismittel zur deutschen Abstammung der Klägerin nicht zur Kenntnis genommen habe.
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1. Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei ihrer Entscheidung in Erwägung zu ziehen. Als Prozessgrundrecht soll es sicherstellen, dass die gerichtliche Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, die ihren Grund in unterlassener Kenntnisnahme oder Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Oktober 2012 – 1 C 13.11 – BVerwGE 144, 230 Rn. 10). Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Gerichte das Vorbringen der Beteiligten, wie es Art. 103 Abs. 1 GG vorschreibt, zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ist daher nur dann anzunehmen, wenn besondere Umstände deutlich ergeben, dass das Gericht bestimmtes Vorbringen nicht berücksichtigt hat (stRspr, vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 – 1 BvR 986/91 – BVerfGE 86, 133 <145 f.>).
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2. Solche besonderen Umstände legt die Beschwerde nicht dar.
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a) Zutreffend geht das Oberverwaltungsgericht davon aus, dass die Klägerin mit ihrem beim Bundesverwaltungsamt am 9. September 2016 eingegangenen Schreiben (ausdrücklich nur) einen Antrag auf Wiederaufgreifen des (durch den Ablehnungsbescheid vom 18. Juli 2006 bestandskräftig abgeschlossenen) Aufnahmeverfahrens beantragt hat (UA S. 3). Soweit die Beschwerde meint, der Antrag der Klägerin auf Erteilung eines Aufnahmebescheides sei (wegen veränderter Umstände zum Zeitpunkt der Aussiedlung) unabhängig von dem bestandskräftigen Ablehnungsbescheid vom 18. Juli 2006 und vom Vorliegen von Wiederaufnahmegründen zu prüfen gewesen, berücksichtigt sie nicht, dass nach einem bestandskräftig abgeschlossenen Aufnahmeverfahren das (neuerliche) Begehren auf Erteilung eines Aufnahmebescheides nur Erfolg haben kann, wenn Wiederaufgreifensgründe im Sinne von § 51 VwVfG vorliegen (BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 2018 – 1 C 26.17 – Buchholz 412.3 § 27 BVFG Nr. 25 Rn. 16).
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Die Beklagte hat den Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens im Bescheid vom 7. Dezember 2016 und im Widerspruchsbescheid vom 2. Januar 2018 abgelehnt, ohne in eine Sachprüfung unter Berücksichtigung der mit dem Wiederaufnahmeantrag vom 9. September 2016 dargelegten Gründe für eine deutsche Abstammung der Klägerin einzutreten. Damit liegt kein – eine gerichtliche Überprüfung in der Sache eröffnender – „Zweitbescheid“ vor (vgl. hierzu BVerwG, Beschluss vom 13. April 2021 – 1 B 10.21 – juris Rn. 6 f.), sodass das Oberverwaltungsgericht aus Rechtsgründen nicht gehalten war, einen vom Vorliegen von Wiederaufgreifensgründen unabhängigen Anspruch auf Erteilung eines Aufnahmebescheides in Erwägung zu ziehen. Im Übrigen hat das Oberverwaltungsgericht die abweichende Rechtsauffassung der Klägerin im Tatbestand seines Urteils erwähnt (UA S. 4 f.) und damit auch berücksichtigt.
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b) Das Oberverwaltungsgericht hat entgegen der Behauptung der Beschwerde die mit dem Wiederaufgreifensantrag vorgelegten neuen Beweismittel zur deutschen Abstammung der Mutter bzw. der Großeltern der Klägerin ebenfalls berücksichtigt. Es hat diesbezüglich die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG als nicht erfüllt angesehen, weil es insoweit auf die Rechtsauffassung ankomme, die der bestandskräftigen Erstentscheidung zugrunde gelegen habe, die (allein) auf die Abstammung von den Eltern abgestellt habe. Die neu vorgelegten Unterlagen bezögen sich jedoch allein auf die Großmutter der Klägerin, während die Mutter der Klägerin nicht deutscher Volkszugehörigkeit sei (UA S. 7 ff.). Eine solche von der Rechtsauffassung der Beschwerde abweichende Bewertung begründet indes keinen Gehörsverstoß.
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II. Die Revision ist auch nicht wegen der weiter geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
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1. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisionsentscheidung entscheidungserhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwiefern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage des revisiblen Rechts führen kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 – 7 B 261.97 – Buchholz 310 § 133 <n. F.> VwGO Nr. 26 S. 14). Die Begründungspflicht verlangt, dass sich die Beschwerde mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substantiiert auseinandersetzt und im Einzelnen aufzeigt, aus welchen Gründen der Rechtsauffassung, die der Frage zugrunde liegt, zu folgen ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 8. Juni 2006 – 6 B 22.06 – NVwZ 2006, 1073 Rn. 4 f. und vom 10. August 2015 – 5 B 48.15 – juris Rn. 3 m. w. N.).
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2. Die Frage,
ob einem neu gestellten Antrag auf Erteilung eines Aufnahmebescheides nach § 27 BVFG unter Berufung auf geänderte Rechtsprechung bzw. auf neu aufgefundene Beweismittel, die nach der Rechtslage im Zeitpunkt der Stellung des Zweitantrages eine Anerkennung als Spätaussiedler, nach dem Verlassen des Aussiedlungsgebietes im Wege des Aufnahmeverfahrens und Wohnsitznahme im Bundesgebiet, zulassen, ein früher bestandskräftig gewordener Bescheid, der die Erteilung des Aufnahmebescheides nach de(n) damalig geltenden Regelungen abgelehnt hat, entgegengehalten werden kann,
rechtfertigt danach nicht die Zulassung der Revision.
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Die Voraussetzungen für die Durchbrechung der Bestands- und Rechtskraft der Ablehnung eines Erstantrages für ein (neuerliches) Begehren auf Erteilung eines Aufnahmebescheides sind in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dahingehend geklärt, dass zuvor ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 VwVfG (Anspruch auf Wiederaufgreifen) oder nach § 51 Abs. 5 i. V. m. §§ 48, 49 VwVfG (Wiederaufgreifen nach Ermessen) erreicht werden muss (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Oktober 2018 – 1 C 26.17 – Buchholz 412.3 § 27 BVFG Nr. 25 Rn. 16).
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Die Behörde darf einen bestandskräftigen Verwaltungsakt nach § 51 Abs. 1 VwVfG nicht beliebig aufheben oder ändern. Die Befugnis zu einer neuen Sachentscheidung reicht bei § 51 Abs. 1 VwVfG vielmehr nur so weit, wie der festgestellte Wiederaufgreifensgrund dies rechtfertigt. Für den Fall mehrerer selbstständig tragender Ablehnungsgründe folgt hieraus, dass es für einen erfolgreichen Wiederaufgreifensantrag nach § 51 Abs. 1 VwVfG nicht ausreicht, wenn nur hinsichtlich eines Ablehnungsgrundes ein durchgreifender Wiederaufgreifensgrund geltend gemacht wird.
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann die Behörde – auch wenn die in § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG normierten Voraussetzungen nicht vorliegen – ein abgeschlossenes Verwaltungsverfahren wiederaufgreifen und eine neue, der gerichtlichen Überprüfung zugängliche Sachentscheidung treffen. Hinsichtlich der in § 51 Abs. 5 i. V. m. §§ 48, 49 VwVfG zu sehenden Ermächtigung zum Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiteren Sinne, welche die Korrektur inhaltlich unrichtiger Entscheidungen ermöglicht, besteht für den Betroffenen allerdings nur ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung. Der Gesetzgeber räumt bei der Aufhebung bestandskräftiger belastender Verwaltungsakte in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise weder dem Vorrang des Gesetzes noch der Rechtssicherheit als Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips einen generellen Vorrang ein. Die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Bestandskraft von Verwaltungsakten stehen vielmehr gleichberechtigt nebeneinander. Mit Blick auf das Gebot der materiellen Gerechtigkeit besteht jedoch ausnahmsweise dann ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsakts, wenn dessen Aufrechterhaltung „schlechthin unerträglich“ ist, was von den Umständen des Einzelfalles und einer Gewichtung der einschlägigen Gesichtspunkte abhängt. Das Festhalten an dem Verwaltungsakt ist insbesondere dann „schlechthin unerträglich“, wenn die Behörde durch unterschiedliche Ausübung der Rücknahmebefugnis in gleichen oder ähnlich gelagerten Fällen gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstößt oder wenn Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Die offensichtliche Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, dessen Rücknahme begehrt wird, kann ebenfalls die Annahme rechtfertigen, seine Aufrechterhaltung sei schlechthin unerträglich (BVerwG, Urteil vom 20. November 2018 – 1 C 23.17 – BVerwGE 163, 370 Rn. 19 und 25 f. m. w. N.). Einen darüber hinausgehenden Klärungsbedarf oder eine Abweichung von dem genannten Urteil im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO hat die Beschwerde nicht dargelegt.
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III. Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).
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IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf § 47 Abs. 1 und 3 i. V. m. § 52 Abs. 2 GKG.