BVerwG 1. Senat, Beschluss vom 19.10.2022, AZ 1 B 65/22, ECLI:DE:BVerwG:2022:191022B1B65.22.0
§ 58 Abs 6 AufenthG 2004, § 58 Abs 8 AufenthG 2004, § 58 Abs 10 AufenthG 2004, § 40 Abs 1 S 1 VwGO, § 17a Abs 4 GVG
Leitsatz
Für den Antrag auf die Anordnung der Durchsuchung einer Wohnung nach § 58 Abs. 6 AufenthG ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet (im Anschluss an BGH, Beschluss vom 12. Juli 2022 – 3 ZB 6/21 – juris).
Verfahrensgang
vorgehend OVG Lüneburg, 1. September 2022, Az: 13 OB 222/22, Beschluss
vorgehend VG Oldenburg (Oldenburg), 31. August 2022, Az: 11 B 2913/22, Beschluss
Tenor
Die Beschlüsse des Verwaltungsgerichts Oldenburg vom 31. August 2022 und des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 1. September 2022, letzterer in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 2. September 2022, werden aufgehoben.
Der Verwaltungsrechtsweg ist zulässig.
Gründe
1
Der Antragsteller stellte beim Verwaltungsgericht Oldenburg einen auf § 58 Abs. 8 AufenthG gestützten Antrag auf Anordnung der Durchsuchung der Wohnung einschließlich aller Nebenräume und des sonstigen befriedeten Besitztums zum Zwecke der Durchsetzung der Ausreisepflicht des Betroffenen. Das Verwaltungsgericht hat hierfür den Verwaltungsrechtsweg für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Amtsgericht Wildeshausen verwiesen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Beschwerde zurückgewiesen und die weitere Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen.
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1. Die nach § 17a Abs. 4 Satz 5 GVG zugelassene Beschwerde ist auch im Übrigen zulässig. Dem Antragsteller fehlt insbesondere nicht das Rechtsschutzinteresse. Es ist nicht ersichtlich, dass der Antrag im Hauptsacheverfahren zurückgenommen oder für erledigt erklärt worden wäre. Ob das Verstreichen des vorgesehenen Termins für die Abschiebung Auswirkungen auf das Rechtsschutzinteresse hat, wird das Verwaltungsgericht im Hauptsacheverfahren zu klären haben. Der Rechtsstreit ist nur wegen des Verweisungsbeschlusses, nicht aber insgesamt beim Bundesverwaltungsgericht anhängig (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juli 2022 – 3 ZB 6/21 – juris Rn. 8).
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2. Die Beschwerde ist begründet. Für den vorliegenden Rechtsstreit ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Das Verwaltungsgericht hätte den Rechtsstreit daher nicht an das Amtsgericht verweisen dürfen; das Oberverwaltungsgericht hat die Beschwerde des Antragstellers zu Unrecht zurückgewiesen.
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a) Nach § 40 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 VwGO ist der Verwaltungsrechtsweg in allen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nicht verfassungsrechtlicher Art gegeben. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
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Ob eine Streitigkeit öffentlich-rechtlicher Art ist, richtet sich nach der Rechtsnatur der Rechtsnormen, die das Rechtsverhältnis prägen, aus dem der geltend gemachte Anspruch hergeleitet wird (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 26. Mai 2020 – 10 B 1.20 – Buchholz 404 IFG Nr. 39 Rn. 6). Die – nicht verfassungsrechtliche – Streitigkeit um den Erlass der von dem Antragsteller begehrten Durchsuchungsanordnung beurteilt sich nach § 58 Abs. 6 und 8 AufenthG und ist daher öffentlich-rechtlich.
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b) Die Streitigkeit ist nicht im Sinne von § 40 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO durch Bundesgesetz einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen.
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Die beantragte Durchsuchung stellt keine Freiheitsentziehung im Sinne des § 106 Abs. 2 Satz 1 AufenthG dar, für die die ordentlichen Gerichte zuständig sind (BGH, Beschluss vom 12. Juli 2022 – 3 ZB 6/21 – juris Rn. 13; OVG Lüneburg, Beschluss vom 10. März 2021 – 13 OB 102/21 – juris Rn. 5).
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Auch aus § 58 Abs. 10 AufenthG ergibt sich keine abdrängende Zuweisung zur ordentlichen Gerichtsbarkeit. Für eine solche verlangt § 40 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO eine ausdrückliche anderweitige Zuweisung der Streitigkeit an ein anderes Gericht, um Zweifel über das im jeweiligen Fall zuständige Gericht im Interesse der Rechtssuchenden auszuschließen (BVerwG, Urteil vom 24. Mai 1972 – 1 C 33.70 – BVerwGE 40, 112 <114>). Nach § 58 Abs. 10 AufenthG bleiben weitergehende Regelungen der Länder, die den Regelungsgehalt des § 58 Abs. 5 bis 9 AufenthG betreffen, unberührt. Diese Vorschrift stellt keine als solche bezeichnete und erkennbare Sonderregelung des Rechtswegs dar, die allein die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit bei öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten ausschließen könnte.
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c) Die Streitigkeit ist nicht durch Landesrecht der ordentlichen Gerichtsbarkeit zugewiesen (§ 40 Abs. 1 Satz 2 VwGO). Dies kommt nur bei einer Streitigkeit auf dem Gebiet des Landesrechts in Betracht. Die beantragte Durchsuchung ist indessen in § 58 Abs. 6 AufenthG bundesrechtlich geregelt. Aus der Kompetenz der Länder zur Regelung des Verwaltungsverfahrens (Art. 84 Abs. 1 Satz 1 GG) lässt sich nicht ihre Zuständigkeit für die Bestimmung des hinsichtlich der Anordnung einer Durchsuchung nach § 58 Abs. 6 AufenthG eröffneten Rechtswegs ableiten (BGH, Beschluss vom 12. Juli 2022 – 3 ZB 6/21 – juris Rn. 18 f.; a. A. OVG Schleswig, Beschluss vom 22. Juli 2020 – 4 O 25/20 – NVwZ-RR 2020, 900).
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d) § 58 Abs. 10 AufenthG stellt schließlich entgegen der Auffassung der Vorinstanzen keine neben die allgemeine Regelung des § 40 Abs. 1 VwGO tretende, gleichrangige eigenständige Zuständigkeitsregelung dar, mit der es im Sinne einer Öffnungsklausel den Ländern ermöglicht wird, bereits bestehende Rechtswegregelungen für Wohnungsdurchsuchungen auf die Durchsuchung nach § 58 Abs. 6 bis 9 AufenthG zu erstrecken. Ein derartiger Regelungsgehalt ist § 58 Abs. 10 AufenthG nicht beizumessen. Für Streitigkeiten, die eine solche Durchsuchung zum Gegenstand haben, bleibt es vielmehr beim Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten (§ 40 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 VwGO); das gilt auch, soweit das Landesrecht inhaltlich deckungsgleiche oder hinter die bundesrechtlichen Regelungen zurücktretende Vorschriften enthält (ebenso BGH, Beschluss vom 12. Juli 2022 – 3 ZB 6/21 – juris Rn. 24).
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Dem von den Vorinstanzen für richtig gehaltenen abweichenden Verständnis des § 58 Abs. 10 AufenthG steht bereits der Wortlaut der Norm entgegen, der keinen Anhaltspunkt für eine umfassende Regelungskompetenz der Länder hinsichtlich der Rechtswegzuweisung enthält, sondern lediglich weitergehende landesrechtliche Regelungen unberührt lässt. Landesrechtliche Vorschriften finden daher nur dann Anwendung, wenn sie über die in § 58 Abs. 5 bis 9 AufenthG geregelten Befugnisse und sonstigen Vorgaben hinausgehen. Das gilt sowohl für die landesrechtlichen Normen materieller und verfahrensrechtlicher Art als auch für die darauf bezogenen Rechtswegzuweisungen. Entgegen der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts steht dem nicht entgegen, dass in § 58 Abs. 10 AufenthG nicht von weitergehenden Befugnissen, sondern von weitergehenden Regelungen die Rede ist. Denn die vom Oberverwaltungsgericht für anwendbar gehaltenen bestehenden landesrechtlichen Rechtswegzuweisungen für Streitigkeiten über Maßnahmen, die nicht über die bundesrechtlich geregelten Eingriffsmaßnahmen hinausgehen, sind keine gegenüber dem Bundesrecht weitergehenden Regelungen.
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Die Systematik des Aufenthaltsgesetzes führt zu keinem anderen Ergebnis. Während § 56a Abs. 9 Satz 1 AufenthG die Zuständigkeit für Anordnungen nach § 56a Abs. 1 AufenthG ausdrücklich den Amtsgerichten zuweist, fehlt eine vergleichbare Vorschrift im Rahmen des § 58 AufenthG. Mangels einer solchen Sonderregelung findet die allgemeine Rechtswegzuweisung des § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO Anwendung.
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Diese Begrenzung des Anwendungsbereichs von § 58 Abs. 10 AufenthG wird durch seine Entstehungsgeschichte bestätigt. Mit der Norm wird geregelt, dass durch § 58 Abs. 5 bis 9 AufenthG bundeseinheitlich ein Mindestmaß für Betretensrechte bei Abschiebungen vorgegeben wird; bestehende Regelungen der Länder, die weitergehende Befugnisse geben, sollen fortgelten, ohne dass hierzu ein Rechtsakt der Länder notwendig wäre (vgl. BT-Drs. 19/10706, S. 14). Dem lässt sich nicht entnehmen, dass den Ländern eine umfassende Befugnis zur Regelung des jeweils zu beschreitenden Rechtswegs verbleiben oder eröffnet werden sollte. Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, der Bundesgesetzgeber habe sich mit § 58 Abs. 10 AufenthG auf die Regelung materiellrechtlicher Mindeststandards beschränken und die Länder ermächtigen wollen, eine von § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO abweichende Rechtswegzuweisung beizubehalten, findet daher in der Entstehungsgeschichte des Gesetzes keine Stütze. Die von § 58 Abs. 10 AufenthG getroffene Anordnung des unveränderten Fortgeltens bezieht sich nach dem Willen des Gesetzgebers lediglich auf bestehende, über § 58 Abs. 5 bis 9 AufenthG hinausgehende Regelungen der Länder. Die nunmehr von § 58 Abs. 5 bis 9 AufenthG erfassten Sachverhalte hingegen unterfallen der speziellen bundesgesetzlichen Regelung und sind daher auch einer landesrechtlichen Rechtswegzuweisung entzogen.
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Der aus dieser Genese folgende Zweck der Norm deutet in dieselbe Richtung. Die Einfügung von § 58 Abs. 5 bis 10 AufenthG beruhte darauf, dass in der Praxis einiger Länder keine Rechtsgrundlage für das Betreten und Durchsuchen von Wohnungen zum Zwecke des Auffindens einer abzuschiebenden Person bestand und dafür eine spezialgesetzliche Ermächtigungsgrundlage im Aufenthaltsgesetz geschaffen werden sollte. Sie gibt ein Mindestmaß für Betretensrechte bei Abschiebungen vor (vgl. BT-Drs. 19/10706 S. 14). Im Anwendungsbereich dieser bundesrechtlichen Regelung sollen indessen keine landesrechtlichen Vorschriften zur Anwendung kommen, auch nicht hinsichtlich des Rechtswegs.
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Dieses Verständnis der Norm entspricht dem zu § 40 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO entwickelten Gebot einer klaren und ohne Weiteres erkennbaren Rechtswegzuweisung (vgl. dazu oben b)). Mit der dargelegten Abgrenzung wird die im Interesse der Rechtsschutzsuchenden gebotene eindeutige Bestimmung des Rechtswegs für Streitigkeiten über Anordnungen nach § 58 Abs. 6 AufenthG erreicht. Die vom Oberverwaltungsgericht erwähnten Gesichtspunkte der Praktikabilität bleiben dem Gesetzgeber vorbehalten. Es ist zudem nicht erkennbar, dass die Verwaltungsgerichte unter dem geltenden Prozessrecht zur Bewältigung von Anträgen nach § 58 Abs. 6 AufenthG nicht in der Lage sein könnten.
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Für die Entscheidung über das Begehren des Antragstellers ist mithin der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet. Der Antrag ist ausdrücklich auf § 58 Abs. 8 AufenthG gestützt und damit auf den Erlass einer Anordnung nach § 58 Abs. 6 AufenthG gerichtet. Seiner Begründung ist zu entnehmen, dass die Durchsuchung ausschließlich zum Zweck der Durchführung der Abschiebung im Sinne des § 58 Abs. 6 AufenthG erfolgen soll und anderweitige Ziele hiermit nicht verfolgt werden. Weitergehende Regelungen für die Wohnungsdurchsuchung im Sinne des § 58 Abs. 10 AufenthG lassen sich dem niedersächsischen Landesrecht nicht entnehmen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juli 2022 – 3 ZB 6/21 – juris Rn. 24).
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3. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Das folgt im Beschwerdeverfahren allerdings nicht aus § 17b Abs. 2 GVG (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Mai 2014 – 9 B 3.14 – Buchholz 310 § 40 VwGO Nr. 310 Rn. 11). Jedoch fallen Gerichtskosten nicht an, da die Beschwerde Erfolg hat (vgl. Nr. 5502 der Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG). Eine Erstattung außergerichtlicher Kosten kommt nicht in Betracht, da dies eine – hier nicht vorhandene – Gegenpartei voraussetzt, der Kosten auferlegt werden können (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 8. April 2002 – 5 S 378/02 – NVwZ-RR 2003, 159; VGH München, Beschluss vom 8. Dezember 2015 – 4 C 15.2471 – NVwZ-RR 2016, 399 <400>). Der Festsetzung eines Streitwerts bedarf es daher ebenfalls nicht.