BFH 10. Senat, Zwischenurteil vom 19.10.2022, AZ X R 14/21, ECLI:DE:BFH:2022:U.191022.XR14.21.0
§ 178 Abs 1 Nr 1 ZPO, § 178 Abs 1 Nr 2 ZPO, § 180 S 1 ZPO, § 182 Abs 1 ZPO, § 189 ZPO
Leitsatz
1. Eine wirksame Ersatzzustellung durch Einlegen in einen Briefkasten (§ 180 ZPO) setzt voraus, dass zuvor ein erfolgloser Versuch der Ersatzzustellung in der Wohnung oder den Geschäftsräumen des Adressaten (§ 178 Abs. 1 Nr. 1, 2 ZPO) unternommen wurde.
2. Allein aus den allgemeinen während der Covid-19-Pandemie geltenden Kontaktbeschränkungen kann nicht abgeleitet werden, dass in dieser Zeit eine Ersatzzustellung durch Einlegen in einen Briefkasten ohne vorherigen Versuch der Ersatzzustellung in der Wohnung oder den Geschäftsräumen als wirksam anzusehen wäre.
Verfahrensgang
vorgehend FG München, 10. Juni 2021, Az: 13 K 1825/19, Urteil
Tenor
Es wird festgestellt, dass die Revision in zulässiger Weise erhoben ist.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.
Tatbestand
I.
1
Das angefochtene Urteil des Finanzgerichts wurde am 19.06.2021, einem Samstag, im Wege der förmlichen Zustellung mittels Zustellungsurkunde in den Briefkasten der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Kläger und Revisionskläger (Kläger), einer Steuerberatungs-GmbH, eingelegt. Auf dem Briefumschlag ist als Zustellungsdatum der 19.06.2021 vermerkt. Der Zusteller hat die Zustellungsurkunde wie folgt ausgefüllt:
„Das mit umseitiger Anschrift und Aktenzeichen versehene Schriftstück (verschlossener Umschlag) habe ich in meiner Eigenschaft als
- 2 [X]
- – Postbediensteter
- …
- 9 [X]
- – zu übergeben versucht. (10.1 bis 12.3)
- Weil die Übergabe des Schriftstücks in der Wohnung/in dem Geschäftsraum nicht möglich war, habe ich das Schriftstück in den
- 10.1 [ ]
- – zur Wohnung
- 10.2 [X]
- – zum Geschäftsraum
gehörenden Briefkasten oder in eine ähnliche Vorrichtung eingelegt. - …
- 13
- Den Tag der Zustellung – ggf. mit Uhrzeit – habe ich auf dem Umschlag des Schriftstücks vermerkt.
- 13.1 Datum: 190621
- 13.3 Unterschrift des Zustellers: …
- 13.4 Postunternehmen/Behörde: Deutsche Post
- 13.5 Name, Vorname des Zustellers (in Druckbuchstaben): …“
2
Die Revision der Kläger ging am 20.07.2021 beim Bundesfinanzhof (BFH) ein. Auf einen Hinweis der Senatsgeschäftsstelle, dass die für die Einlegung der Revision geltende Monatsfrist versäumt sei, wandten die Kläger ein, die Zustellungsurkunde sei unrichtig. Während der Covid-19-Pandemie hätten die jeweiligen Postzusteller bei keiner einzigen förmlichen Zustellung eine persönliche Übergabe des Schriftstücks in den Geschäftsräumen der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten versucht. Dies sei auch am 19.06.2021 nicht der Fall gewesen. Gleichwohl sei in den Zustellungsurkunden stets –objektiv unzutreffend– angekreuzt worden, eine Übergabe des Schriftstücks in den Geschäftsräumen sei nicht möglich gewesen. Damit sei die Zustellung unter Verstoß gegen zwingende Zustellungsvorschriften erfolgt; eine Heilung nach § 189 der Zivilprozessordnung (ZPO) sei erst mit der am Montag, 21.06.2021 vorgenommenen Leerung des Kanzleibriefkastens eingetreten.
3
Die Kläger haben weiter vorgetragen, der Zusteller habe in Gesprächen mit der für den Posteingang zuständigen Mitarbeiterin und dem Geschäftsführer ihrer Prozessbevollmächtigten am 03. und 04.08.2021 erklärt, er sei aufgrund der gesetzlichen Vorgaben zur Pandemiebekämpfung gehalten, keine persönlichen Zustellungen vorzunehmen. Im Übrigen müsse er dies auch nicht, weil er die Sendungen jederzeit in den Briefkasten einlegen könne.
4
Die Kanzleiräume befänden sich im dritten Obergeschoss eines Geschäftshauses, der Kanzleibriefkasten liege im Erdgeschoss hinter der verschlossenen Hauseingangstür. Klingeln für die Kanzleiräume seien sowohl außen am Hauseingang als auch im dritten Obergeschoss vor der Eingangstür zu den Kanzleiräumen angebracht. Der Postzusteller habe einen eigenen Schlüssel für die Hauseingangstür und damit jederzeit Zutritt zum Gebäude.
5
Die Senatsvorsitzende hat die Deutsche Post AG –Großannahmestelle Brief Stadt X– um Auskunft zu der Frage gebeten, ob es in deren Bereich die generelle Anweisung gebe, während der Covid-19-Pandemie vom Versuch einer persönlichen Übergabe des zuzustellenden Schriftstücks abzusehen und statt dessen sogleich eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den zur Wohnung oder zum Geschäftsraum gehörenden Briefkasten vorzunehmen. Die Deutsche Post AG –Kundenservice– hat diese Frage mit Schreiben vom 04.05.2022 verneint und darüber hinaus –ohne hierzu befragt worden zu sein– ausgeführt, dass für den betroffenen Zustellungsauftrag am 19.06.2021 ein Zustellversuch unternommen worden sei. Der Geschäftsraum sei geschlossen gewesen, so dass eine Übergabe nicht möglich gewesen sei und der Auftrag in den Briefkasten des Adressaten eingelegt worden sei. Postzustellungsaufträge würden immer nach den Vorgaben der ZPO zugestellt.
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Der Senat hat in der mündlichen Verhandlung Beweis erhoben durch Vernehmung des Postzustellers (Z). Dieser hat erklärt, es habe in dem Zeitraum, in den die hier maßgebliche Zustellung fällt, die mündliche Anweisung seines Amtsleiters gegeben, aufgrund der Covid-19-Pandemie auch förmliche Zustellungen kontaktlos vorzunehmen. Die Zusteller hätten die Sendungen ohne Kundenkontakt und ohne Klingeln sogleich in den Briefkasten einlegen und dies durch Datum und Namenszeichen beurkunden sollen. Diese Anweisung sei erstmals ungefähr im Mai oder Juni 2021 erteilt worden und habe etwa bis März 2022 gegolten. Demgegenüber werde heute bei förmlichen Zustellungen zunächst wieder der Versuch einer persönlichen Übergabe an den Adressaten unternommen.
7
Die Kläger beantragen,
festzustellen, dass die Revision zulässig ist.
8
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt –FA–) beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
9
Er ist der Auffassung, entsprechend der zu § 130 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) allgemein vertretenen Auslegung sei die Zustellung in dem Zeitpunkt wirksam, in dem das Schriftstück in den Machtbereich des Empfängers gelangt sei. Dies sei hier bereits mit Einlegen in den Briefkasten am 19.06.2021 der Fall gewesen.
Entscheidungsgründe
II.
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Der Senat entscheidet über die Frage der Zulässigkeit der Revision durch Zwischenurteil gemäß § 121 Satz 1, § 97 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
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Nach § 97 FGO kann über die Zulässigkeit der Klage durch Zwischenurteil vorab entschieden werden. Diese Regelung ist gemäß § 121 Satz 1 FGO auch in Bezug auf die Zulässigkeit der Revision anzuwenden, sofern die Revision nicht unzulässig ist und daher gemäß § 126 Abs. 1 FGO zwingend durch Beschluss verworfen werden muss (Senatsurteil vom 05.11.2019 – X R 15/18, BFH/NV 2020, 526, Rz 14, m.w.N.).
12
Der Erlass eines Zwischenurteils ist im vorliegenden Verfahren sachgerecht. Hierdurch wird die zwischen den Beteiligten bestehende Ungewissheit über die Zulässigkeit der Revision beseitigt, so dass sich der Rechtsstreit im weiteren Verlauf auf die materiell-rechtlichen Fragen konzentrieren kann. Der Senat hat die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung auf die Möglichkeit der Entscheidung durch Zwischenurteil hingewiesen.
III.
13
Die Revision ist zulässig. Insbesondere haben die Kläger die einmonatige Frist für die Einlegung der Revision gewahrt.
14
Aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme ist der Senat davon überzeugt, dass der Zeuge Z in seiner Eigenschaft als Postzusteller am 19.06.2021 vor der Einlegung der förmlich zuzustellenden Sendung mit dem vorinstanzlichen Urteil in den Briefkasten der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Kläger keinen Versuch einer persönlichen Übergabe in den Geschäftsräumen der Kanzlei unternommen hat (dazu unten 1.). Ohne einen solchen Übergabeversuch ist die Zustellung wegen Verstoßes gegen § 180 Satz 1 ZPO unwirksam (unten 2.). Die zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie erlassenen gesetzlichen Regelungen bewirken keine Suspendierung der in § 180 ZPO für die Ersatzzustellung vorgesehenen Anordnungen (unten 3.). Der Zustellungsmangel ist erst am 21.06.2021 geheilt worden, so dass mit dem Eingang der Revisionsschrift beim BFH am 20.07.2021 die hierfür geltende einmonatige Frist gewahrt worden ist (unten 4.).
15
1. Der Zeuge Z hat nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor der Einlegung der Sendung in den Kanzleibriefkasten keinen Versuch der persönlichen Übergabe unternommen.
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a) Wenn es um das Vorliegen der Zulässigkeitsvoraussetzungen der Revision (§ 124 FGO) geht, ist auch das Revisionsgericht zu eigenen Tatsachenfeststellungen einschließlich einer Beweisaufnahme berechtigt und ggf. verpflichtet, wobei das Freibeweisverfahren ausreichen kann (BFH-Beschluss vom 22.07.2002 – V R 55/00, BFH/NV 2002, 1601, unter II.1., m.w.N.).
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b) Eine Zustellungsurkunde begründet gemäß § 182 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 418 Abs. 1 ZPO wie eine öffentliche Urkunde –weiterhin– den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen, obwohl die Postdienstleistungen mittlerweile durch private Unternehmen erbracht werden und Zustellungsurkunden lediglich aus vorgedruckten und anzukreuzenden Textbausteinen bestehen.
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Der Beweis der Unrichtigkeit der in der Urkunde bezeugten Tatsachen ist allerdings zulässig (§ 418 Abs. 2 ZPO). Dieser Gegenbeweis erfordert die volle Überzeugung des Gerichts von einem anderen als dem beurkundeten Sachverhalt (Urteil des Bundesgerichtshofs -BGH- vom 31.05.2017 – VIII ZR 224/16, Neue Juristische Wochenschrift –NJW– 2017, 2285, Rz 18, m.w.N.). Ein solcher Gegenbeweis ist hier erbracht.
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c) Der Senat ist davon überzeugt, dass der Zeuge Z am 19.06.2021 nicht versucht hat, die Sendung mit dem vorinstanzlichen Urteil vor dem Einlegen in den Kanzleibriefkasten persönlich zu übergeben, insbesondere nicht die zu den Kanzleiräumen gehörende Klingel betätigt hat.
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aa) Der Zeuge hat ausgesagt, von seinem Amtsleiter mündlich angewiesen worden zu sein, infolge der Covid-19-Pandemie kontaktlos zuzustellen und insbesondere auf ein Betätigen der zu den Räumen des Adressaten gehörenden Klingel vor dem Einlegen der Sendung in den Briefkasten des Adressaten zu verzichten. So habe er es auch an dem hier fraglichen Tag gehandhabt.
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Der Senat ist von der Glaubwürdigkeit des Zeugen ebenso wie von der Glaubhaftigkeit seiner Aussage überzeugt. Der Zeuge –ein langjähriger beamteter Zusteller– hat den Ablauf einer Zustellung vom Beginn seines Arbeitstages bis zum Einlegen in den Briefkasten im Zusammenhang geschildert und alle von der Richterbank gestellten Fragen in spontaner und natürlicher Weise beantwortet. In seiner Aussage und den Antworten auf die ihm gestellten Fragen waren keine inhaltlichen Widersprüche erkennbar. Auch die Vertreter der Beteiligten haben in der mündlichen Verhandlung über das Ergebnis der Beweisaufnahme keine Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen und die Glaubhaftigkeit seiner Aussage geäußert.
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bb) Demgegenüber misst der Senat der schriftlichen Auskunft der Deutschen Post AG vom 04.05.2022 keinen hohen Beweiswert zu.
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Die Deutsche Post AG ist nur gefragt worden, ob es generelle Anweisungen für das Absehen von persönlichen Übergabeversuchen zu Zeiten der Covid-19-Pandemie gibt. Diese Frage wurde verneint. Dies schließt allerdings nicht aus, dass der für den Zeugen Z zuständige Vorgesetzte für seinen Arbeitsbereich mündlich eine hiervon abweichende individuelle Anweisung erteilt hat, wie es der Zeuge bekundet hat.
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Soweit die Deutsche Post AG in ihrer schriftlichen Auskunft darüber hinaus erklärt, am 19.06.2021 sei ein Zustellversuch unternommen worden, aber wegen eines geschlossenen Geschäftsraums gescheitert, ist ihr diese Frage zum einen nicht gestellt worden. Zum anderen ist diese Angabe –gerade angesichts des sehr substantiierten abweichenden Sachvortrags der Kläger sowie der abweichenden und inhaltlich vollkommen klaren und eindeutigen Aussage des Zeugen– zu allgemein gehalten; insbesondere wird der Name des Zustellers nicht genannt.
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Vor allem aber wird der Inhalt der schriftlichen Auskunft der Deutschen Post AG durch den darin nachfolgenden Satz („Postzustellungsaufträge werden und wurden immer nach den Vorgaben der Zivilprozessordnung zugestellt.“) relativiert: Eine derart generelle Aussage ist unrealistisch und entspricht nicht den Tatsachen. Dem Senat sind in seiner gerichtlichen Praxis immer wieder Fälle bekannt geworden, in denen die Zusteller gerade nicht nach den Vorgaben der ZPO zugestellt haben; auch die juristischen Fachzeitschriften berichten nicht nur vereinzelt von solchen Fällen. Die schriftliche Erklärung der Deutschen Post AG wird vom Senat daher eher als Beschreibung eines Idealzustands gewertet denn als belastbare Auskunft zu einer konkreten Weisungs- und Zustellsituation im hier aufklärungsbedürftigen Einzelfall. Sie kann damit den hohen Beweiswert der individuellen und glaubhaften Aussage des Zeugen Z nicht erschüttern.
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2. Eine Ersatzzustellung gemäß § 180 Satz 1 ZPO durch Einlegen in den Briefkasten, bei der nicht zuvor der Versuch einer persönlichen Übergabe des Schriftstücks vorgenommen wird, ist unwirksam.
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a) Finanzgerichtliche Urteile werden von Amts wegen nach den Vorschriften der ZPO zugestellt (§ 53 Abs. 2 FGO). Der Gesetzgeber hat daran festgehalten, dass eine Zustellung in ihrer Grundform durch körperliche Übergabe stattfindet (Beschluss des Großen Senats des BFH vom 06.05.2014 – GrS 2/13, BFHE 244, 536, BStBl II 2014, 645, Rz 68; BGH-Beschluss vom 29.07.2022 – AnwZ (Brfg) 28/20, NJW 2022, 3081, Rz 19). Nach dem Wortlaut des § 180 Satz 1 ZPO setzt die Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten voraus, dass die Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 ZPO nicht ausführbar ist. Daher ist nach allgemeiner Meinung eine Ersatzzustellung nach § 180 ZPO erst dann zulässig, wenn eine –vorrangige– Ersatzzustellung in der Wohnung oder im Geschäftsraum (§ 178 Abs. 1 Nr. 1, 2 ZPO) nicht erfolgen konnte, insbesondere weil dort keiner der in diesen Vorschriften bezeichneten Ersatzempfänger persönlich angetroffen wurde (vgl. statt aller Zöller/Schultzky, ZPO, 34. Aufl., § 180 Rz 2).
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b) Zwar ist eine Ersatzzustellung nach § 180 ZPO auch dann zulässig, wenn der Geschäftsraum beim Zustellungsversuch nach § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO geschlossen und diese Art der Ersatzzustellung damit nicht ausführbar war (Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 02.08.2007 – 2 B 20/07, NJW 2007, 3222; vgl. –ebenfalls zu einer Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten eines an Samstagen geschlossenen Geschäftslokals– Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 09.05.2018 – 22 ZB 18.105, Deutsches Verwaltungsblatt 2019, 63, Rz 12, wo allerdings kein Zweifel an der Richtigkeit der beurkundeten Angabe des Zustellers bestand, er habe zuvor eine Übergabe in den Geschäftsräumen versucht).
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Wenn der Zusteller jedoch förmlich beurkundet, er habe zunächst den Versuch unternommen, das Schriftstück persönlich zu übergeben, obwohl diese von ihm abgegebene Erklärung nicht der Wahrheit entspricht, ist die Zustellung unwirksam. Obwohl eine Zustellungsurkunde als öffentliche Urkunde den vollen Beweis der von ihr bezeugten Tatsachen begründet (§ 182 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 418 Abs. 1 ZPO), ist der in § 418 Abs. 2 ZPO zugelassene Gegenbeweis der Unrichtigkeit der in der Urkunde bezeugten Tatsachen geführt, wenn der als Zeuge vernommene Zusteller wie im Streitfall aussagt, er habe in dem betreffenden Zeitraum grundsätzlich nicht den Versuch unternommen, zuzustellende Schriftstücke persönlich zu übergeben, sondern habe sie regelmäßig in den Briefkasten eingelegt und dies in der Urkunde entsprechend dokumentiert. Eine solche Zustellung ist unwirksam (vgl. zum Ganzen BFH-Beschluss vom 14.02.2007 – XI B 108/05, BFH/NV 2007, 1158, unter II.1.b; zu einer Beweiswürdigung jüngst auch Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 15.03.2022 – 4 A 1326/20.Z, NJW 2022, 2426, Rz 14 ff.).
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c) Hierfür kommt es auch nicht darauf an, ob am 19.06.2021 in der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Kläger tatsächlich eine Person anwesend war, die das Schriftstück persönlich hätte entgegennehmen können. Entscheidend ist nicht, ob eine persönliche Übergabe objektiv möglich gewesen wäre, sondern dass der Zusteller einen Sachverhalt (vorheriger Versuch einer persönlichen Übergabe vor dem Einlegen in den Briefkasten) beurkundet hat, der nicht dem tatsächlichen Geschehensablauf entspricht. Dem kann auch nicht entgegnet werden, es wäre eine bloße Förmelei, an einem Samstag in einem Geschäftshaus die Klingel der Kanzleiräume betätigen zu müssen. Denn gerade bei Freiberuflern ist es durchaus nicht ausgeschlossen, dass sie und/oder ihre Beschäftigten in Zeiten hoher Arbeitsbelastung auch an Samstagen arbeiten und sich zu diesem Zweck in ihren Geschäftsräumen aufhalten, also die persönliche Übergabe des Schriftstücks (§ 177 ZPO) oder eine Ersatzzustellung an einen Beschäftigten (§ 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO) durchführbar wäre.
31
d) Soweit sich das FA darauf beruft, dass die Sendung bereits mit dem Einlegen in den Briefkasten in den Machtbereich der Prozessbevollmächtigten der Kläger gelangt sei, wird diese allgemeine Regel über den Zugang von Erklärungen (§ 130 BGB) für Fälle der förmlichen Zustellung durch die hierfür geltenden differenzierten gesetzlichen Vorschriften (§§ 166 ff. ZPO) gerade verdrängt.
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3. Weder das Bundesrecht noch das –hier maßgebliche– bayerische Landesrecht hat am 19.06.2021 Regelungen enthalten, die die gesetzlichen Vorgaben des § 180 Satz 1 ZPO aus Gründen des Infektionsschutzes modifiziert hätten.
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a) Der –hierfür zuständige– Bundesgesetzgeber hat für förmliche Zustellungen keine pandemiebedingten Erleichterungen vorgesehen.
34
Zwar hat er solche Erleichterungen in zahlreichen anderen Rechtsbereichen geschaffen (vgl. z.B. das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht vom 27.03.2020, BGBl I 2020, 569; das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Pauschalreisevertragsrecht und zur Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der Kammern im Bereich der Bundesrechtsanwaltsordnung, der Bundesnotarordnung, der Wirtschaftsprüferordnung und des Steuerberatungsgesetzes während der COVID-19-Pandemie vom 10.07.2020, BGBl I 2020, 1643, und das Gesetz zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Anpassung pandemiebedingter Vorschriften im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins- und Stiftungsrecht sowie im Miet- und Pachtrecht vom 22.12.2020, BGBl I 2020, 3328). Zu §§ 178, 180 ZPO fehlt aber eine entsprechende Ausnahmeregelung.
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b) Auch die in Bayern geltenden landesrechtlichen Regelungen zum Infektionsschutz konnten am 19.06.2021 nicht bewirken, dass eine Zustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 1, 2 ZPO „nicht ausführbar“ war, wie es § 180 Satz 1 ZPO für die Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten voraussetzt.
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Abgesehen davon, dass der Bundesgesetzgeber mit der Zivilprozessordnung von seiner konkurrierenden Gesetzgebung gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 Alternative 4 des Grundgesetzes (GG) zur Regelung des gerichtlichen Verfahrens abschließend Gebrauch gemacht hat (Uhle in Dürig/Herzog/Scholz, Komm. z. GG, Art. 74 Rz 119; F. Wittreck, in H. Dreier (Hrsg.) Grundgesetz-Kommentar, Bd. II 3. Aufl., Art. 74 Rz 23), so dass nach Art. 72 Abs. 1 GG für landesrechtliche Regelungen grundsätzlich eine Sperrwirkung gegeben wäre, fehlt es an einer entsprechenden inhaltlichen bayerischen Landesregelung. Allein das Gebot zur allgemeinen Kontaktreduzierung zwecks Infektionsschutzes könnte die klare gesetzliche Rangfolge der in den § 178 und § 180 ZPO vorgesehenen Ersatzzustellungen nicht in ihr Gegenteil verkehren. Hierfür wäre vielmehr –wie in zahlreichen anderen Rechtsbereichen geschehen– eine eindeutige gesetzliche Regelung erforderlich gewesen. Im Übrigen waren berufliche Tätigkeiten von den zum Zeitpunkt des Zustellungsversuchs in Bayern geltenden Kontaktbeschränkungen ausdrücklich ausgenommen (§ 6 Abs. 3 der Dreizehnten Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung –13. BayIfSMV– vom 05.06.2021, BayMBl 2021 Nr. 384). Die allgemeine Empfehlung eines Mindestabstands von 1,5 m (§ 2 Satz 1 der 13. BayIfSMV) –bei der es sich ohnehin nicht um eine rechtlich zwingende Regelung handelt– kann auch bei einer persönlichen Übergabe des zuzustellenden Schriftstücks eingehalten werden.
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4. Verstößt eine Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten gegen zwingende Zustellungsvorschriften, tritt eine Heilung nach § 189 ZPO erst in dem Zeitpunkt ein, in dem der Empfänger das Schriftstück tatsächlich in die Hand bekommt (BFH-Beschluss in BFHE 244, 536, BStBl II 2014, 645, Rz 65 ff.). Dies war hier mit der Leerung des Briefkastens am Morgen des 21.06.2021 der Fall. Die dadurch ausgelöste einmonatige Frist für die Einlegung der Revision (§ 120 Abs. 1 Satz 1 FGO) endete am 21.07.2021. Mit dem Eingang der Revisionsschrift beim BFH am 20.07.2021 ist diese Frist gewahrt worden.
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5. Da der Senat lediglich ein Zwischenurteil erlässt, bleibt die Kostenentscheidung dem Endurteil vorbehalten.