Beschluss des BVerwG 9. Senat vom 18.10.2022, AZ 9 VR 2/22

BVerwG 9. Senat, Beschluss vom 18.10.2022, AZ 9 VR 2/22, ECLI:DE:BVerwG:2022:181022B9VR2.22.0

Tenor

Der Antrag, unter Abänderung des Beschlusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Januar 2022 (Az.: 9 VR 1.22) die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Planänderungsbeschluss des Antragsgegners vom 1. September 2021 anzuordnen, wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Antragsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1. Die Beigeladene zu 2 trägt ihre außergerichtlichen Kosten selbst.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Antragsverfahren auf 15 000 € festgesetzt.

Gründe

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Der Antrag, den auf der Grundlage von § 80 Abs. 5 VwGO ergangenen Beschluss des Senats vom 27. Januar 2022 nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO zu ändern, hat keinen Erfolg. Es besteht auch kein Anlass, den Beschluss nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO von Amts wegen zu ändern.

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Gemäß § 80 Abs. 7 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit ändern oder aufheben (Satz 1) und kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen (Satz 2). Das Änderungsverfahren ist indes in beiden Fällen kein Rechtsmittelverfahren zur Kontrolle der formellen und materiellen Richtigkeit der vorangegangenen Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO, sondern ein eigenständiges Verfahren, in dem geprüft wird, ob nach der jetzigen Sach- und Rechtslage die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage geboten ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. März 2019 – 6 VR 1.19 – Buchholz 310 § 80 VwGO Nr. 94 Rn. 5).

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1. Wenngleich es danach für die vorliegende Entscheidung nicht darauf ankommt, ist die Kritik des Antragstellers unbegründet, der Beschluss vom 27. Januar 2022 sei ihm gegenüber eine Überraschungsentscheidung gewesen.

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Die dem Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO immanente Eilbedürftigkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung zur Wahrung effektiven Rechtsschutzes und damit deren zeitlicher Rahmen bestimmen sich nicht allein anhand des Vorbringens oder aus der Perspektive des Antragstellers. Das Gericht hat vielmehr zugleich die objektiven Gegebenheiten sowie berechtigte Interessen des Antragsgegners und der Beigeladenen zu berücksichtigen. Daher war vorliegend auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass zur Wahrung umweltschutzrechtlicher Vorgaben die Sedimentfreisetzung und damit die Bauarbeiten in dem Zeitraum von März bis September in einzelnen Abschnitten des Tunnelgrabens unzulässig bzw. erheblich eingeschränkt sind. Insoweit hatte die Beigeladene zu 1 im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO substantiiert und plausibel dargelegt, dass, sofern nicht der Grabenaushub, der nach Eingang des Eilantrags auf Bitte des Gerichts ausgesetzt wurde, spätestens zum 1. Februar wiederaufgenommen wird, aufgrund dann verbleibender Öffnungen im Umschließungsdamm ein Sedimentaustritt in dem Zeitraum droht, in dem dieser durch den Planfeststellungsbeschluss ausgeschlossen ist, und dass sich die Bauarbeiten nicht nur um die Dauer des gerichtlichen Eilverfahrens, sondern zusätzlich um den Zeitraum verzögern, währenddessen die Sedimentfreisetzung eingeschränkt bzw. ausgeschlossen ist. Die Angaben hat der Senat seinem Beschluss vom 27. Januar 2022 nicht unbesehen zugrunde gelegt, sondern anhand der Unterlagen des Planfeststellungsverfahrens geprüft.

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Zur Wahrung der prozessualen Waffengleichheit und des rechtlichen Gehörs ist vor einer stattgebenden Entscheidung auch im Eilverfahren grundsätzlich die Gegenseite zu beteiligen und ihr damit zu ermöglichen, auf eine bevorstehende gerichtliche Entscheidung Einfluss zu nehmen (BVerfG, Kammerbeschluss vom 1. Dezember 2021 – 1 BvR 2708/19 – NJW 2022, 1083 Rn. 26). Inwiefern hingegen dem Antragsteller Gelegenheit zu geben ist, auf eine Stellungnahme des Antragsgegners oder Beigeladenen zu erwidern, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Die Frage bedarf vorliegend keiner Entscheidung, weil dem Antragsteller die Schriftsätze des Antragsgegners und der Beigeladenen zu 1 vom 18. Januar 2022, in welchen der seinerzeitige Stand der Bauarbeiten einschließlich der dauerhaften Verluste der Riffflächen dargelegt wurde, am 19. Januar 2022 und damit vor Erlass des Beschlusses am 27. Januar 2022 übersandt wurden. Da der Rechtsstreit im letztgenannten Zeitpunkt bereits unter Zugrundelegung der Antragsbegründung, der Stellungnahmen des Antragsgegners und der Beigeladenen zu 1, der Unterlagen des Planfeststellungsverfahrens sowie des Planänderungsbeschlusses vom 1. September 2021 spruchreif war, musste aufgrund der vorstehend beschriebenen besonderen Eilbedürftigkeit des Verfahrens mit der Entscheidung nicht bis zum Ablauf der Stellungnahmefrist für den Antragsteller und die Beigeladenen gewartet werden.

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Soweit der Antragsteller geltend macht, die Zeit für eine Erwiderung auf die Schriftsätze vom 18. Januar 2022 sei zu kurz gewesen, verkennt er, dass es sich zum einen um ein Eilverfahren handelt und dass zum anderen dem Kläger bzw. Antragsteller die substantiierte Darlegung des Prozessstoffs obliegt (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. November 2020 – 9 A 7.19 – BVerwGE 170, 138 Rn. 16 ff.). Die Kürze des Zeitraums bis zu dem Punkt, an dem eine Ablehnung des Eilantrags gleichwohl zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Belange des Antragsgegners und der Beigeladenen geführt hätte, beruhte darüber hinaus darauf, dass der Antragsteller mit der Einleitung des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes gegen den Planänderungsbeschluss vom 1. September 2021 bis zum 14. Januar 2022 zugewartet hat.

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Zwar mag der Antragsteller davon ausgegangen sein, auf weitere Stellungnahmen des Antragsgegners und der Beigeladenen erwidern zu können. Angesichts der schon vorher bestehenden Entscheidungsreife sowie der die Bautätigkeit begrenzenden Vorgaben des Planfeststellungsbeschlusses zielt ein solches Vertrauen jedoch letztlich allein darauf, die Durchführung der Bauarbeiten unabhängig vom Ausgang des Eilverfahrens zumindest vorübergehend zu verhindern. Die Erwartung, durch Verzögerungen Fakten zu schaffen, wird indes weder prozess- noch verfassungsrechtlich geschützt.

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2. Auch sonst hat es bei der Entscheidung des Senats vom 27. Januar 2022 zu verbleiben.

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Es kann weiterhin dahingestellt bleiben, ob der Antragsteller den Planänderungsbeschluss anfechten kann, obwohl seine Einwände gegen die Kartierung und Bewertung der Riffvorkommen in dem Planfeststellungsbeschluss vom 31. Januar 2019 mit Urteil des Senats vom 3. November 2020 – 9 A 12.19 – zurückgewiesen wurden, und ob der Anwendungsbereich des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes eröffnet ist. Der Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO hat ungeachtet dessen keinen Erfolg.

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a) Dies gilt zunächst hinsichtlich bereits eingetretener Riffverluste. Insoweit fehlt dem Eilantrag das erforderliche Rechtsschutzinteresse (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Januar 2022 – 9 VR 1.22 – NuR 2022, 637 Rn. 8 ff.). Mit der Planänderung vom 1. September 2021 wird bezüglich dreier Riffflächen eine naturschutzrechtliche Befreiung gemäß § 67 Abs. 1 Satz 1 BNatSchG erteilt und werden Maßnahmen zur Kompensation des Eingriffs festgesetzt. Hierzu hat die Beigeladene zu 1 mit Schriftsatz vom 15. Februar 2022 eine Tiefenkarte (Stand: 16. Januar 2022) vorgelegt, ausweislich derer der Verlust der Riffflächen 1 und 3 bereits eingetreten ist. Damit hat sie den Bauablauf plausibel dargestellt und keineswegs – wie vom Antragsteller eingewandt – lediglich „ins Blaue hinein“ behauptet. Vielmehr erweist sich dessen Vortrag, die Riffe seien noch nicht vollständig beseitigt, als unsubstantiierte Vermutung, die zudem insoweit widersprüchlich ist, als er an anderer Stelle rügt, der Meeresboden sei entlang des Tunnelgrabens „abgefräst“ worden. Die Flächenverluste im Bereich der Rifffläche 2 waren im Zeitpunkt des Beschlusses vom 27. Januar 2022 durch Überbauung zum überwiegenden Teil ebenfalls eingetreten. Da der Umschließungsdamm bis Ende Februar 2022 fertiggestellt werden musste, weil aufgrund des Maßnahmenblatts 8.2 M in der küstennahen Zone 1A in den Monaten März bis September keine projektbedingte Sedimentfreisetzung stattfinden darf, haben sich diese Verluste zwischenzeitlich unabhängig davon vergrößert, wie weit die Überdeckung innerhalb des Damms vorangeschritten ist.

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Weitere dauerhafte Verluste der Rifffläche 2 außerhalb der Umschließungsdämme werden hingegen ausweislich der Zusage der Vorhabenträgerinnen erst nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens erfolgen. Damit droht insoweit ebenso wenig wie hinsichtlich der vorgesehenen Kompensationsmaßnahmen eine Schaffung irreversibler Umstände, welche allein durch eine gerichtliche Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes verhindert werden könnte.

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b) Das weitere Vorbringen des Antragstellers betrifft entweder – wie etwa die Rüge, es würden Arbeiten außerhalb des Eingriffsbereichs durchgeführt – Umstände, die Gegenstand weder des Planfeststellungs- noch des Planänderungsbeschlusses sind, oder die – wie insbesondere die Kritik an der Prognose der Sedimentfreisetzung und -verdriftung sowie an deren Kontrolle – Grundlage der ursprünglichen Planfeststellung bzw. darin geregelt sind, weshalb den klägerischen Rügen die Rechtskraft des Urteils vom 3. November 2020 entgegensteht.

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Der Änderungsplanfeststellungsbeschluss ist auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nur in dem Umfang angreifbar, in dem er eine eigene Regelung enthält (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Januar 2022 – 9 VR 1.22 – NuR 2022, 637 Rn. 14 m. w. N.).

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Den Regelungsbereich des Planänderungsbeschlusses betrifft allenfalls die Rüge, die temporäre Beeinträchtigung der nicht beseitigten Teile der Riffflächen 1 bis 3 übersteige das in der Planänderung angenommene und genehmigte Niveau, die Betroffenheit der Riffe sei fehlerhaft ermittelt worden. Insoweit legt der Änderungsbeschluss (S. 33, 36) dar, aus der neuen Zuordnung der betroffenen Flächen als Riffe ergebe sich teilweise eine höhere Empfindlichkeit der benthischen Habitate gegenüber Schwebstoffen und Sedimentation. Deren Ermittlung liegen indes unverändert die Modellierungen und Prognosen des Planfeststellungsbeschlusses zugrunde. Diesbezüglich hat der Senat mit Urteil vom 3. November 2020 – 9 A 7.19 – (Buchholz 442.09 § 18 AEG Nr. 95 Rn. 174 ff., 216 ff. <insoweit in BVerwGE 170, 138 nur auszugsweise abgedruckt) rechtskräftig festgestellt, dass die Berechnung der Sedimentfreisetzung und -verdriftung keinen Bedenken begegnet. Die Rechtskraft dieser Feststellungen kann nicht allein durch die Behauptung, die Sedimentation sei tatsächlich viel größer, beiseitegeschoben werden. Insoweit verkennt der Antragsteller zudem, dass das genaue Ausmaß der dauerhaften und der temporären Beeinträchtigung nicht für die Erteilung der Befreiung, sondern lediglich für den Umfang der Kompensation maßgeblich war (vgl. Planänderungsbeschluss, Anlage 1 S. 46 ff.). Ob diese den naturschutzrechtlichen Anforderungen genügt, kann indes zum Gegenstand allein des Hauptsache- und nicht des Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes gemacht werden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Januar 2022 – 9 VR 1.22 – NuR 2022, 637 Rn. 12). Im Übrigen hat die Beigeladene zu 1 mit Schriftsätzen vom 25. Februar und 9. Mai 2022 detailliert dargelegt, dass und warum die von dem Antragsteller gemessenen Sedimentablagerungen größtenteils natürlichen Ursprungs sind.

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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 162 Abs. 3 VwGO. Im Hinblick darauf, dass die Beigeladene zu 2 lediglich einen Antrag gestellt, sich in der Sache jedoch nicht eingelassen hat, bestand keine Veranlassung, dem unterlegenen Antragsteller neben den außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1 auch diejenigen der Beigeladenen zu 2 aufzuerlegen.

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Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG.