Beschluss des BGH 1. Strafsenat vom 09.08.2022, AZ 1 StR 119/22

BGH 1. Strafsenat, Beschluss vom 09.08.2022, AZ 1 StR 119/22, ECLI:DE:BGH:2022:090822B1STR119.22.0

Verfahrensgang

vorgehend LG Ulm, 15. November 2021, Az: 3 Ks 11 Js 28108/20

Tenor

Es wird festgestellt, dass die Revision der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Ulm vom 15. November 2021 wirksam zurückgenommen ist.

Gründe

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1. Mit Urteil vom 15. November 2021 hat das Landgericht die Angeklagte wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. Gegen das Urteil hat der Verteidiger der Angeklagten mit am selben Tage bei dem Landgericht eingegangenem Schriftsatz vom 19. November 2021 Revision eingelegt.

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Mit an die Staatsanwaltschaft gerichtetem Schreiben vom 10. Januar 2021 (gemeint wohl: 2022) hat die Angeklagte erklärt, sie wolle „hiermit (…) mit sofortiger Wirkung (ihre) Revision zurück ziehen und sofort rechtskräftig werden“. Sie hat zugleich gebeten, „die Rechtskräftigkeit ein(zuleiten)“. Unter dem 14. Januar 2022 hat die Staatsanwaltschaft die Weiterleitung des Schreibens an das Landgericht verfügt; dort ist es am 17. Januar 2022 eingegangen. Am selben Tag hat das Landgericht beschlossen, dass die Angeklagte die Kosten des Revisionsverfahrens und die den Nebenklägern in dem Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen habe, nachdem sie die Revision wirksam zurückgenommen habe.

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Mit Schriftsatz vom 28. Februar 2022 hat der Verteidiger die Revision begründet. Hierbei hat er u.a. die Ansicht vertreten, dass die Rücknahmeerklärung der Angeklagten vom 10. Januar 2022 nicht wirksam und das Rechtsmittel daher zulässig sei. Die Rücknahmeerklärung sei nicht gegenüber dem zuständigen Gericht abgegeben worden; ihre Weiterleitung an das Landgericht habe nicht dem Willen der Angeklagten entsprochen. Ohnehin habe es sich lediglich um eine Absichtserklärung gehandelt. Die Angeklagte habe sich von irrigen Motiven leiten lassen und zudem übereilt gehandelt.

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2. Die Angeklagte hat ihre Revision mit Schreiben vom 10. Januar 2022 wirksam zurückgenommen (§ 302 Abs. 1 Satz 1 StPO). Da dies allerdings von der Angeklagten mit der Revisionsbegründung in Zweifel gezogen wird, stellt der Senat die eingetretene Rechtsfolge durch deklaratorischen Beschluss fest (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Dezember 2021 – 1 StR 285/21 Rn. 4 und vom 17. Juli 2019 – 4 StR 85/19 Rn. 4).

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a) Die Angeklagte hat ihre Revision mit ihrem an die „(s)ehr geehrte Staatsanwaltschaft“ gerichteten, von dieser an das Landgericht weitergeleiteten und dort am 17. Januar 2022 eingegangenen Schreiben vom 10. Januar 2022 wirksam zurückgenommen. Entgegen der nunmehr vertretenen Ansicht handelte es sich gerade nicht um eine bloße Absichtserklärung mit der Ankündigung, die Prozesshandlung der Rechtsmittelrücknahme erst zu einem späteren Zeitpunkt gesondert vornehmen zu wollen. Vielmehr war die Erklärung inhaltlich eindeutig und zweifelsfrei auf die sofortige Beendigung des Revisionsverfahrens gerichtet. Danach wollte die Angeklagte „mit sofortiger Wirkung“ das Rechtsmittel zurücknehmen und „sofort rechtskräftig werden“. Sie hat damit ihren Wunsch nach einer unmittelbar eintretenden Rechtsfolge klar zum Ausdruck gebracht. Gegenteiliges folgt nicht aus dem hierbei verwendeten Verb „möchte“, welches lediglich ein stilistisches Mittel des höflichen Ausdrucks bildete, nicht aber einen Aufschub für die Zukunft beinhaltete.

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Dieses Verständnis spiegelt auch das an ihren Verteidiger gerichtete Schreiben der Angeklagten vom 27. Dezember 2021 wider, welches der Revisionsbegründung beigefügt war. Hierin bat sie ihren Verteidiger ganz direkt: „(B)itte ziehen Sie meine Revision am 14.01.2022 zurück.“ Sie wolle sich abschieben lassen und „hierfür rechtkräftig werden“. Danach war die Angeklagte schon zu diesem Zeitpunkt abschließend entschlossen, das Revisionsverfahren nicht weiter durchzuführen, und hatte klare Anweisungen erteilt, dieses Ziel zu erreichen. Dass sie nachfolgend nicht den Eintritt des 14. Januar 2022 abwartete, sondern vorab selbst die Revisionsrücknahme aussprach, nimmt dieser Erklärung nicht die gebotene inhaltliche Klarheit.

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b) Der Wirksamkeit der Rücknahmeerklärung steht nicht entgegen, dass die Angeklagte ihr Schreiben vom 10. Januar 2022 nicht – entsprechend § 341 Abs. 1 StPO – an das Landgericht, sondern an die Staatsanwaltschaft gerichtet hat (zur Form des Rechtsmittelverzichts vgl. BGH, Beschluss vom 6. Mai 1999 – 4 StR 79/99 Rn. 7). Denn letztere hat das Schreiben innerhalb weniger Tage an das Landgericht weitergeleitet (vgl. Nr. 152 Abs. 2 Satz 1 RiStBV). Mit dem dortigen Eingang wurde die Rücknahmeerklärung wirksam (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Dezember 2021 – 1 StR 285/21 Rn. 2, 4 und vom 3. November 2011 – 2 StR 353/11 Rn. 1, 3; vgl. ferner Beschluss vom 17. Juli 2019 – 4 StR 85/19 Rn. 3, 7).

8

Mit der zeitnahen Weiterleitung an das Landgericht hat die Staatsanwaltschaft dem, wie vorstehend erörtert, erkennbaren Interesse der Angeklagten an einer unmittelbaren Beendigung des Revisionsverfahrens entsprochen. Dies gilt erst recht im Hinblick darauf, dass die Angeklagte die Staatsanwaltschaft vorliegend sogar ausdrücklich darum gebeten hatte, „die Rechtskräftigkeit ein(zuleiten)“, mithin alle etwa notwendigen Schritte zu veranlassen, um ein für die Angeklagte rechtskräftiges Urteil vollstrecken zu können (vgl. § 449 StPO).

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Dahinstehen kann ferner, aus welchem Grund im Einzelnen die Angeklagte ihr Schreiben vom 10. Januar 2022 an die Staatsanwaltschaft und nicht an das Landgericht richtete. Denn unabhängig hiervon geht mit der gewählten Anrede lediglich eine bloße versehentliche Falschbezeichnung des dennoch erkennbaren Empfängers einher. Die Rücknahmeerklärung war ersichtlich für „die zuständige Behörde“ bestimmt. Aus ihrer Laiensicht erschien der – in diesem Zusammenhang ersichtlich nicht anwaltlich beratenen – Angeklagten offenbar die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde (vgl. § 451 Abs. 1 StPO) am plausibelsten. Die Falschbezeichnung des Empfängers nimmt der Erklärung nicht ihre inhaltliche Klarheit im Übrigen.

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c) Die Rücknahmeerklärung ist als Prozesshandlung unwiderruflich und unanfechtbar (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Dezember 2021 – 1 StR 285/21; vom 17. Juli 2019 – 4 StR 85/19; vom 3. November 2011 – 2 StR 353/11 und vom 28. Juli 2004 – 2 StR 199/04 Rn. 5). Lediglich in besonderen Fällen können schwerwiegende Willensmängel bei der Erklärung des Rechtsmittelverzichts oder die Art und Weise seines Zustandekommens dazu führen, dass eine Verzichtserklärung von Anfang an unwirksam ist (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Mai 1999 – 4 StR 79/99 Rn. 5 mwN).

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Ein solcher Fall ist hier nicht gegeben. Denn es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich die Angeklagte über Inhalt und Tragweite ihrer Erklärung nicht im Klaren gewesen sein könnte. Selbst wenn, wie mit der Revision geltend gemacht, ihr Verteidiger im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Rücknahmeerklärung vom 10. Januar 2022 noch nicht die Gelegenheit gehabt haben sollte, die Angeklagte zu dem Für und Wider der weiteren Durchführung des Revisionsverfahrens sowie ggf. zu der Bedeutung einer Rechtsmittelrücknahme anwaltlich zu beraten, so strebte dessen ungeachtet die Angeklagte gezielt danach, den rechtlichen Schwebezustand zu beenden und den Status einer rechtskräftig verurteilten Strafgefangenen zu erlangen. Dass sie über die Wirkungen der Rücknahme im Unklaren gewesen sei, macht sie folgerichtig mit der Revision auch gar nicht geltend.

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Damit hat die Prozesshandlung trotz der zeitgleich nachfolgenden Erklärung der Angeklagten, sie wünsche ausdrücklich weiterhin die Durchführung des Revisionsverfahrens, Bestand. Ob und ggf. inwieweit sie mit der Rücknahmeerklärung unrealistische Erwartungen verknüpft hat, die nicht von der Justiz veranlasst worden waren (hier: Wegfall von Besuchsbeschränkungen, Ausreise nach Italien), kann dahinstehen; denn dies führt nicht ausnahmsweise zur Anfechtbarkeit (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2001 – 2 StR 430/01, juris Rn. 5; ferner BGH, Beschlüsse vom 31. Mai 2005 – 1 StR 158/05 Rn. 3 und vom 28. Juli 2004 aaO).

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