BAG 2. Senat, Beschluss vom 21.07.2022, AZ 2 AZN 801/21, ECLI:DE:BAG:2022:210722.B.2AZN801.21.0
§ 308 Abs 1 S 1 ZPO, Art 103 Abs 1 GG, § 72 Abs 2 Nr 3 Alt 2 ArbGG, § 72a Abs 7 ArbGG
Verfahrensgang
vorgehend ArbG Nürnberg, 16. März 2021, Az: 14 Ca 3512/20, Urteil
vorgehend Landesarbeitsgericht Nürnberg, 2. November 2021, Az: 7 Sa 145/21, Urteil
Tenor
1. Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 2. November 2021 – 7 Sa 145/21 – insoweit aufgehoben, wie es die hilfsweise Anschlussberufung des Klägers zurückgewiesen hat.
2. Im Übrigen wird die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 2. November 2021 – 7 Sa 145/21 – als unzulässig verworfen.
3. Der Kläger hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
4. Der Wert des Beschwerdegegenstands wird für das Berufungsverfahren auf 6.922,66 Euro und für das Beschwerdeverfahren auf 7.422,66 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die auf sämtliche Zulassungsgründe aus § 72 Abs. 2 ArbGG gestützte Beschwerde ist zum Teil begründet. Im Übrigen ist sie unzulässig, da sie nicht in der von § 72a Abs. 3 Satz 2 ArbGG verlangten Form begründet worden ist.
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I. Der Kläger hat unter II 1 auf Seite 3 ff. seiner Beschwerdebegründung eine entscheidungserhebliche Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör dargelegt. Er macht zu Recht geltend, das Landesarbeitsgericht habe unter Verstoß gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO über seine Anschlussberufung entschieden und damit gegen seinen Anspruch aus Art. 103 Abs. 1 GG verstoßen.
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1. Der Gehörsgrundsatz verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt jedoch keine Pflicht, sich mit jedem Vorbringen der Parteien in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Denn grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte das Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Art. 103 Abs. 1 GG ist daher erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall aus besonderen Umständen klar ergibt, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist
(vgl. BVerfG 19. August 2016 – 1 BvR 1283/13 – Rn. 9).
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2. Davon ist in Bezug auf die Anschlussberufung des Klägers auszugehen.
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a) Das Landesarbeitsgericht hat unter Verstoß gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO über die nur hilfsweise erhobene Anschlussberufung des Klägers entschieden. Diese war nur für den Fall der Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils erhoben. Das Berufungsgericht hat das erstinstanzliche Urteil aber „aufgehoben“ und dennoch die Anschlussberufung zurückgewiesen. Eine Verletzung des Antragsgrundsatzes nach § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO liegt nicht nur dann vor, wenn einer Partei ohne ihren Antrag etwas zugesprochen wird, sondern auch, wenn ihr ein Anspruch aberkannt wird, den sie nicht zur Entscheidung gestellt hat
(BAG 22. Juli 2021 – 2 AZR 6/21 – Rn. 42).
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b) Das Berufungsgericht hat auf Seite 5 des Tatbestands des anzufechtenden Urteils zwar wiedergegeben und damit zur Kenntnis genommen, dass die Anschlussberufung nur hilfsweise für den Fall der Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils erhoben wurde. Es hat diesen Vortrag des Klägers jedoch bei der Urteilsfindung wieder aus den Augen verloren, deshalb nicht in Erwägung gezogen und stattdessen seiner Entscheidung einen Antrag zugrunde gelegt, den der Kläger für diese prozessuale Situation gar nicht gestellt hat
(vgl. BVerfG 27. Mai 1970 – 2 BvR 578/69 – zu III der Gründe, BVerfGE 28, 378). Das Landesarbeitsgericht führt auf Seite 9, unten des Berufungsurteils ohne jede nähere Begründung aus, dass die Anschlussberufung zurückzuweisen gewesen sei. Ein solcher Verstoß gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO stellt zugleich eine Verletzung des rechtlichen Gehörs zum Nachteil der hiervon betroffenen Partei dar
(vgl. BGH 16. Mai 2017 – VI ZR 25/16 – Rn. 11; 13. September 2016 – VII ZR 17/14 – Rn. 13; Zöller/Feskorn ZPO 34. Aufl. § 308 Rn. 6).
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3. Eine Zurückverweisung gemäß § 72a Abs. 7 ArbGG kommt hier ausnahmsweise nicht in Betracht, weil keine weitere Entscheidung in der Hauptsache mehr notwendig wird
(vgl. BGH 13. September 2016 – VII ZR 17/14 – Rn. 17). Da das klageabweisende Urteil des Landesarbeitsgerichts wegen der Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde im Übrigen rechtskräftig wird
(siehe unten II), ist die hilfsweise Anschlussberufung des Klägers endgültig im Berufungsverfahren nicht zur Entscheidung angefallen und das insoweit zurückweisende Urteil des Landesarbeitsgerichts aufzuheben.
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II. Im Übrigen ist die Beschwerde des Klägers unzulässig.
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1. Der Kläger hat keine weitere Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör dargelegt.
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a) Er zeigt unter II 2 auf Seite 5 ff. der Beschwerdebegründung nicht auf, dass das Landesarbeitsgericht seinen Vortrag zu einer Übernahme der Leitungsmacht durch die Beklagte am 1. Februar 2019 beziehungsweise damit in Zusammenhang stehende Beweisantritte – die nach der insoweit maßgeblichen Begründungslinie des Berufungsgerichts entscheidungserheblich gewesen wären – in einer nicht mit Art. 103 Abs. 1 GG zu vereinbarenden Weise übergangen habe. Das ist auch objektiv nicht ersichtlich. Vielmehr hat sich das Landesarbeitsgericht auf Seite 9 des anzufechtenden Urteils mit dem Vortrag des Klägers und den von ihm im Verfahren vorgelegten Unterlagen auseinandergesetzt, dies aber nicht für ausreichend erachtet. Der Anspruch auf rechtliches Gehör schützt nicht davor, dass das Gericht dem Vortrag einer Partei in materiell-rechtlicher Hinsicht nicht die aus deren Sicht richtige Bedeutung beimisst
(vgl. BAG 15. Oktober 2012 – 5 AZN 1958/12 – Rn. 6).
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b) Der Kläger legt unter II 3 auf Seite 14 ff. der Beschwerdebegründung nicht dar, weshalb ein kundiger und gewissenhafter Prozessbeteiligter unter Berücksichtigung der Vielzahl von vertretbaren Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Prozessverlauf des von ihm vermissten rechtlichen Hinweises bedurfte
(vgl. BAG 24. Oktober 2019 – 8 AZN 589/19 – Rn. 30). Das ist auch objektiv nicht ersichtlich. Die Beklagte hat ausweislich Seite 3, letzter Absatz und Seite 5, erster Absatz des anzufechtenden Urteils einen Betriebsübergang ab dem 1. Februar 2019 bestritten, so dass der Kläger Veranlassung hatte, hierzu vorzutragen.
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c) Der Kläger zeigt unter II 5 auf Seite 20 ff. der Beschwerdebegründung nicht auf, dass sein Anspruch auf rechtliches Gehör durch eine erst im Verhandlungstermin erfolgte Mitteilung des Berufungsgerichts über die beabsichtigte Anwendung eines Urteils des Senats
(vgl. BAG 3. Dezember 1998 – 2 AZR 754/97 – BAGE 90, 251) auf den zu entscheidenden Fall verletzt worden ist. Voraussetzung für eine erfolgreiche Gehörsrüge ist, dass der Beschwerdeführer darlegt, seinerseits alles Zumutbare getan zu haben, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen
(st. Rspr., vgl. etwa BVerfG 18. August 2010 – 1 BvR 3268/07 – zu III 1 c der Gründe; BSG 3. November 2021 – B 4 AS 186/21 B – Rn. 7), etwa durch die Beantragung einer Vertagung des Termins oder der Gewährung einer Frist für einen nachzureichenden Schriftsatz. Hierzu hat der Kläger nichts vorgetragen.
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2. Der Kläger legt nicht dar, dass das Urteil des Landesarbeitsgerichts von einer Entscheidung eines der in § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG genannten Gerichte oder Spruchkörper abweicht und die Entscheidung auf dieser Abweichung beruht. Das ist auch objektiv nicht ersichtlich. Soweit das Landesarbeitsgericht davon ausgegangen ist, dass die tatsächliche
Übernahme der Leitungsmacht durch den Betriebserwerber Voraussetzung für einen Betriebsübergang ist, entspricht dies der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts
(vgl. BAG 22. Januar 2009 – 8 AZR 158/07 – Rn. 18; 31. Januar 2008 – 8 AZR 2/07 – Rn. 33; vgl. auch BAG 25. Januar 2018 – 8 AZR 309/16 – Rn. 55, BAGE 161, 378: „Übernahme der Verantwortlichkeit für den Betrieb“). Die vom Kläger herangezogene Entscheidung des Dritten Senats
(vgl. BAG 26. März 1996 – 3 AZR 965/94 – zu B II 2 der Gründe) stellt ebenso auf den Zeitpunkt ab, zu welchem der Betriebserwerber „die Leitungsmacht im Betrieb mit dem Ziel der Betriebsfortführung“ auszuüben in die Lage versetzt worden ist und äußert sich im folgenden Satz lediglich zu dem nicht erheblichen Umstand, ob die Betriebsleitungsmacht tatsächlich
ausgeübt wurde.
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3. Der Kläger legt die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtsfrage und deren Entscheidungserheblichkeit iSv. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG nicht dar. Er zeigt die – nicht offensichtliche – Klärungsbedürftigkeit der von ihm unter II 6 auf Seite 24 der Beschwerdebegründung formulierten Fragestellung nicht auf. Hierzu reicht der bloße Hinweis auf eine ausstehende höchstrichterliche Entscheidung nicht aus. Die Beschwerde hätte daher zum Beleg der Klärungsbedürftigkeit darlegen müssen, aus welchen Gründen, in welchem Umfang und von welcher Seite die Beantwortung der Frage zweifelhaft und streitig sein soll
(BAG 20. November 2018 – 6 AZN 569/18 – Rn. 2).
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III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1, § 92 Abs. 2 Nr. 1 analog ZPO. Bei der Streitwertfestsetzung war zu berücksichtigen, dass im Berufungsverfahren – anders als im Beschwerdeverfahren – der hilfsweise geltend gemachte Anspruch nicht zur Entscheidung angefallen ist
(vgl. § 45 Abs. 1 Satz 2 GKG).
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IV. Von einer weiteren Begründung wird nach § 72a Abs. 5 Satz 5 ArbGG abgesehen.
- Koch
- Rachor
- Schlünder
- Trümner
- Brossardt