BVerwG 9. Senat, Beschluss vom 08.07.2022, AZ 9 B 33/21, ECLI:DE:BVerwG:2022:080722B9B33.21.0
Verfahrensgang
vorgehend Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 16. Juli 2021, Az: 4 L 84/20, Beschluss
vorgehend VG Magdeburg, 3. Juni 2020, Az: 9 A 1/20 MD, Urteil
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 16. Juli 2021 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 77 768,58 € festgesetzt.
Gründe
I
1
Der Kläger wendet sich gegen die Heranziehung zu einer Abwasserabgabe für das Jahr 2016 in Höhe von insgesamt 183 610,88 €, von der noch ein Teilbetrag in Streit steht.
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Auf seine Klage hob das Verwaltungsgericht den Abgabenbescheid des Beklagten insoweit auf, als der Festsetzung hinsichtlich eines Betrages von 77 768,58 € Messwerte vom 30. August 2016 als höchstes tatsächliches Messergebnis nach § 6 Abs. 1 Satz 2 AbwAG zugrunde gelegt worden waren. An diesem Tag war aus vom Stromversorger zu vertretenden Gründen die Stromversorgung des klägerischen Klärwerks für ca. drei Stunden unterbrochen gewesen, wodurch es zum Ausfall der Filteranlage gekommen war. Das Verwaltungsgericht hielt die an diesem Tag erzielten Messwerte für abwasserabgabenrechtlich nicht verwertbar, weil sie auf einen vom Kläger nicht beherrschbaren Störfall zurückzuführen und ihm daher nicht zurechenbar seien.
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Nach Zulassung der Berufung des Beklagten wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils hob das Oberverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichts mit Beschluss nach § 130a VwGO auf und wies die Klage vollumfänglich ab. Der Beklagte sei ohne Rücksicht auf den Störfall verpflichtet gewesen, das höchste vorliegende Messergebnis der Festsetzung der Abwasserabgabe zugrunde zu legen. Die Folgen des Stromausfalls seien dem Kläger abwasserabgabenrechtlich zurechenbar. Er habe es in der Hand, durch Vorsorgemaßnahmen die Entstehung von Störfällen zu verhindern oder zumindest ihr Ausmaß in Grenzen zu halten, und bleibe abwasserrechtlich „Verursacher“ der Gewässerschädigung. Ein ca. dreistündiger Stromausfall sei nicht außergewöhnlich und in seinen Folgen beherrschbar. Die Revision wurde nicht zugelassen. Dagegen richtet sich die Beschwerde des Klägers.
II
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Die allein auf das Vorliegen eines Verfahrensmangels nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gestützte Beschwerde des Klägers hat keinen Erfolg. Die Rüge, das Berufungsgericht habe ermessensfehlerhaft nach § 130a VwGO durch Beschluss entschieden, greift nicht durch.
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1. Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Entscheidung darüber, ob ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss entschieden wird, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts. Sie kann nur daraufhin überprüft werden, ob das Oberverwaltungsgericht von seinem Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht hat, und ist seitens des Revisionsgerichts nur zu beanstanden, wenn sie auf sachfremden Erwägungen oder einer groben Fehleinschätzung beruht (stRspr, vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2004 – 6 C 28.03 – BVerwGE 121, 211 <213> m. w. N. und Beschluss vom 8. März 2017 – 9 B 22.16 – juris Rn. 12).
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Bei der Ausübung seines Ermessens hat das Berufungsgericht insbesondere die Komplexität und Schwierigkeit des Rechtsstreits in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. September 2011 – 9 B 61.11 – Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 61 Rn. 4 m. w. N.) sowie die Bedeutung der mündlichen Verhandlung im Lichte von Art. 6 Abs. 1 EMRK zu beachten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. März 2017 – 9 B 22.16 – juris Rn. 13 m. w. N. auch zur Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK auf verwaltungsrechtliche Verfahren wegen kommunaler Beiträge). Hat wie hier in erster Instanz eine öffentliche mündliche Verhandlung stattgefunden, muss im Berufungsverfahren nicht stets erneut mündlich verhandelt werden. Eine (weitere) mündliche Verhandlung kann entbehrlich sein, wenn die Tatsachen- und Rechtsfragen aufgrund der Aktenlage sachgerecht entschieden werden können. Umgekehrt entfaltet das Gebot, die Rechtssache auch im Interesse der Ergebnisrichtigkeit in einer mündlichen Verhandlung mit den Beteiligten zu erörtern, eine umso stärkere Bedeutung, je vielschichtiger der Streitstoff ist und je schwieriger und komplexer die vom Berufungsgericht zu klärenden Rechtsfragen sind (BVerwG, Beschluss vom 8. März 2017 – 9 B 22.16 – juris Rn. 14 m. w. N.). Die Grenzen des § 130a Satz 1 VwGO sind erreicht, wenn im vereinfachten Berufungsverfahren ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, obwohl die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nach den Gesamtumständen des Einzelfalls außergewöhnliche Schwierigkeiten aufweist (vgl. BVerwG, Urteile vom 30. Juni 2004 – 6 C 28.03 – BVerwGE 121, 211 <217> und vom 9. Dezember 2010 – 10 C 13.09 – BVerwGE 138, 289 Rn. 24; Beschluss vom 10. Juli 2019 – 1 B 57.19 – juris Rn. 7).
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2. Daran gemessen ist die angefochtene Entscheidung nicht verfahrensfehlerhaft ergangen. Das Berufungsgericht hat die Beteiligten ordnungsgemäß zur Entscheidung durch Beschluss angehört (§ 130a Satz 2 i. V. m. § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Ermessensfehler bei der Wahl des vereinfachten Berufungsverfahrens nach § 130a VwGO zeigt die Beschwerde nicht auf; dass der Kläger dieser Vorgehensweise ausdrücklich widersprochen hat, ist insoweit unerheblich (BVerwG, Beschluss vom 7. September 2011 – 9 B 61.11 – Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 61 Rn. 4).
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a) Ohne Erfolg macht der Kläger geltend, der Sachverhalt weise erkennbar rechtliche Schwierigkeiten auf und die tatsächlichen Feinheiten des Sachverhalts spielten eine erhebliche Rolle; aus den Gesamtumständen und auch dem Aufwand, mit dem der Beklagte das Rechtsmittel betrieben habe, hätte das Berufungsgericht entnehmen müssen, dass das Verfahren in rechtlicher Hinsicht als komplex zu beurteilen sei.
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Der Kläger verweist insbesondere darauf, dass das Verwaltungsgericht die Literatur und Rechtsprechung zu der Frage, wie abgabenrechtlich mit solchen Messwerten umzugehen sei, die auf vom Normalbetrieb einer Kläranlage abweichenden Ereignissen/Störfällen beruhten, als uneinheitlich bezeichnet hat, und leitet daraus besondere Schwierigkeiten ab. Die in Bezug genommenen Ausführungen des Verwaltungsgerichts (UA S. 11 ff.) betreffen im Ausgangspunkt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 4 Abs. 4 AbwAG und § 6 Abs. 1 Satz AbwAG, wonach der Gesetzgeber die Abgabenrelevanz sog.“Ausreißer“ zur Effektuierung des wasserrechtlichen Vollzugs grundsätzlich in Kauf genommen habe und dem Einleiter ein Anreiz geboten werden solle, auch Störfälle zu vermeiden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 20. August 1997 – 8 B 170.97 – BVerwGE 105, 144 <151>; Urteil vom 15. Januar 2002 – 9 C 4.01 – BVerwGE 115, 339 <348>). Im Hinblick auf diesen Lenkungszweck werden in der obergerichtlichen Rechtsprechung Überschreitungen der zulässigen Werte bei Störfällen grundsätzlich für die Berechnung der Abwasserabgabe berücksichtigt (vgl. VGH München, Beschluss vom 23. April 2009 – 22 ZB 07.819 – juris Rn. 22). Der vom Kläger in diesem Zusammenhang für ungeklärt und rechtlich schwierig gehaltene Aspekt betrifft der Sache nach die Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen ausnahmsweise eine Zurechenbarkeit von erhöhten Werten infolge einer Betriebsstörung entfallen kann, insbesondere bei objektiv nicht vorhersehbaren und nicht beherrschbaren externen Vorkommnissen (vgl. OVG Bautzen, Urteil vom 19. März 2008 – 5 B 840/05 – juris Rn. 30; ausführlich Köhler/Meyer, Abwasserabgabengesetz, 2. Aufl. 2006, § 4 Rn. 255 ff., insbesondere 272 f.).
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Diese Fragestellung begründet vorliegend jedoch schon deshalb keine außerordentlichen rechtlichen Schwierigkeiten, weil es für das Berufungsgericht darauf nicht ankam. Das Oberverwaltungsgericht hat ausdrücklich dahinstehen lassen, ob es mit Wortlaut und Sinn des § 6 Abs. 1 Satz 2 AbwAG vereinbar ist, die abwasserabgabenrechtliche Zurechenbarkeit bei objektiv nicht vorhersehbaren und nach dem Stand der Technik nicht beherrschbaren Ereignissen entfallen zu lassen, weil es einen solchen Sachverhalt hier verneint hat. Anders als das Verwaltungsgericht, das mit Blick auf die regelmäßige Dauer der Wartungsarbeiten in der Vergangenheit und den Inhalt der dem Kläger erteilten Genehmigung bezüglich der Notstromversorgung und den daraus resultierenden Pflichten die ca. dreistündige Unterbrechung in der Stromversorgung der Kläranlage als eine vom Kläger nicht beherrschbare Situation bewertet hat, deren Folgen ihm nicht zurechenbar seien (UA S. 12 ff.), hat das Oberverwaltungsgericht den Stromausfall als kurzzeitig und nicht außergewöhnlich und dessen Folgen als durch entsprechende Vorsorgemaßnahmen des Anlagenbetreibers wie z. B. den Einsatz eines Notstromaggregats beherrschbar angesehen (BA S. 11). Es hat damit den sich aus den Akten ergebenden, unstreitigen Sachverhalt lediglich anders als das Verwaltungsgericht bewertet, ohne dass dabei besonders schwierige tatsächliche Fragestellungen oder komplizierte Einzelheiten des Sachverhalts von Bedeutung gewesen wären.
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b) Auch mit Blick auf die wirtschaftliche Tragweite des Verfahrens war die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht geboten. Der Kläger hält es insoweit für ermessensfehlerhaft, dass das Berufungsgericht den Verweis auf den wirtschaftlichen Wert der Angelegenheit von fast 100 000 € nicht als maßgebliches Kriterium für die Ermessensentscheidung nach § 130a VwGO betrachtet hat.
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Dieser Einwand geht fehl, weil nicht die Höhe der in Rede stehenden Summe an sich, sondern allenfalls die daraus hergeleitete Bedeutung der Sache für den Kläger für die Frage relevant sein kann, ob eine mündliche Verhandlung erforderlich ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Januar 2011 – 3 C 63.10 – Buchholz 418.01 Nr. 29 Rn. 9). Hinweise darauf, dass die im Berufungsverfahren noch streitgegenständliche Summe von 77 768,58 € von derartiger Bedeutung für den Kläger gewesen wäre, dass eine mündliche Verhandlung schon mit Blick darauf geboten gewesen wäre, mussten sich dem Berufungsgericht angesichts des Umstands, dass es sich beim Kläger um eine grundsätzlich nicht insolvenzfähige Körperschaft des öffentlichen Rechts und bei der Streitsumme lediglich um einen Teilbetrag der jährlich zu entrichtenden Abwasserabgabe handelt, nicht aufdrängen. Der Fall betraf zudem eine einmalige Sachverhaltskonstellation, die keine Vorwirkung für die Abgabenbescheide der Folgejahre entfaltete.
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c) Soweit der Prozessbevollmächtigte des Klägers vorträgt, dem Berufungsgericht sei bekannt gewesen, dass er wegen der Corona-Pandemie aus privaten Gründen nur eingeschränkt arbeitsfähig gewesen sei, weswegen ein Zuwarten auf einen zusammenfassenden Vortrag vor einer anzuberaumenden mündlichen Verhandlung zumutbar gewesen sei, lässt auch dies keinen Ermessensfehler erkennen. Das Berufungsgericht hat zutreffend berücksichtigt, dass der Kläger im Berufungsverfahren ausreichend Gelegenheit zur inhaltlichen Stellungnahme hatte. Ein weiteres Abwarten war auch mit Blick auf den Entlastungs- und Beschleunigungszweck des § 130a VwGO (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juni 2004 – 6 C 28.03 – BVerwGE 121, 211 <217>) nicht geboten.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.