Beschluss des BVerwG 8. Senat vom 30.06.2022, AZ 8 B 47/21, 8 B 47/21 (8 C 6/22)

BVerwG 8. Senat, Beschluss vom 30.06.2022, AZ 8 B 47/21, 8 B 47/21 (8 C 6/22), ECLI:DE:BVerwG:2022:300622B8B47.21.0

Verfahrensgang

vorgehend VG Halle (Saale), 27. Juli 2021, Az: 1 A 200/19, Urteil

Tenor

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Halle über die Nichtzulassung der Revision gegen sein Urteil vom 27. Juli 2021 wird aufgehoben.

Die Revision wird zugelassen.

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens folgt der Kostenentscheidung in der Hauptsache.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren und für das Revisionsverfahren – insoweit vorläufig – auf jeweils 5 000 € festgesetzt.

Gründe

1

Die Beschwerde hat Erfolg. Das angefochtene Urteil beruht auf dem gerügten Verfahrensmangel einer Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO). Darüber hinaus kommt der Rechtssache die geltend gemachte grundsätzliche Bedeutung zu (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).

2

1. Die Gewährleistung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG und § 108 Abs. 2 VwGO verpflichtet das Gericht, die entscheidungserheblichen tatsächlichen und rechtlichen Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Juli 2002 – 8 C 37.01 – Buchholz 428 § 1 Abs. 3 VermG Nr. 35 S. 109; Beschluss vom 28. März 2011 – 8 B 44.10 – ZOV 2011, 131 Rn. 17). Zwar muss es nicht auf sämtliche Tatsachen und Rechtsansichten eingehen, die im Laufe des Verfahrens von der einen oder anderen Seite zur Sprache gebracht worden sind. Wenn es aber auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvorbringens eines Beteiligten zu einer Frage, die nach seiner eigenen Rechtsauffassung für den Prozessausgang von zentraler Bedeutung ist, in den Entscheidungsgründen nicht eingeht, lässt das darauf schließen, dass es dieses Vorbringen nicht berücksichtigt hat (BVerwG, Urteil vom 20. November 1995 – 4 C 10.95 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 267 S. 23; Beschluss vom 13. März 2020 – 8 B 1.20 – ZOV 2020, 118 Rn. 7). Das ist hier der Fall.

3

Das Verwaltungsgericht hat den Vortrag des Klägers, durch die Adoption gesundheitlich geschädigt worden zu sein, bei der Entscheidungsfindung erkennbar nicht erwogen. Im Klageverfahren hat der Kläger vorgetragen, seine Adoption habe zu einer gesundheitlichen Schädigung geführt, und für die Einzelheiten auf seinen Rehabilitierungsantrag und dessen Anlagen verwiesen. Dort wird ausgeführt, die familiäre Entwurzelung des Klägers und seine Vernachlässigung und Misshandlung in der Adoptivfamilie, insbesondere durch den Adoptivvater, hätten zu erheblichen, durch die beigefügten medizinischen Unterlagen belegten gesundheitlichen Schädigungen geführt, die heute noch schwer und unzumutbar fortwirkten. Auf dieses Klagevorbringen und die dazu vorgelegten Beweismittel gehen die Entscheidungsgründe des angegriffenen Urteils nicht ein, obwohl der Beklagte mit Schriftsatz vom 12. März 2020 das Vorbringen zu Misshandlungen in der Adoptivfamilie bestätigte. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht eine gesundheitliche Schädigung des Klägers durch die Adoption ohne jede Begründung verneint, obwohl der entsprechende Vortrag einen nach seiner Rechtsauffassung für die Entscheidung ausschlaggebenden rechtlichen Gesichtspunkt betraf. Anders als der angegriffene Bescheid hat das Verwaltungsgericht eine Rehabilitierung gemäß § 1 VwRehaG nämlich nicht schon unter Berufung auf Art. 234 § 13 EGBGB, sondern allein mangels gesundheitlicher Schädigung des Klägers durch die Adoption verneint.

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Das angegriffene Urteil beruht auf der Gehörsverletzung, weil das Verwaltungsgericht dem Kläger bei Berücksichtigung des übergangenen Vortrags möglicherweise die begehrte Rehabilitierung nach § 1 VwRehaG zuerkannt hätte, statt ihm lediglich auf den Hilfsantrag einen Rehabilitierungsanspruch nach § 1a VwRehaG zuzusprechen, der das Fehlen von Gesundheits- oder anderen tatbestandlichen Folgeschäden voraussetzt.

5

2. Zu Recht beruft der Kläger sich weiter auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Das Beschwerdevorbringen führt auf die grundsätzlich bedeutsame Rechtsfrage, ob eine Anwendung des § 1 Abs. 1 Satz 1 VwRehaG auf politisch motivierte Zwangsadoptionen nach dem Recht der ehemaligen DDR wegen der in Anlage I Kapitel III Sachgebiet B Abschnitt II Nr. 1 des Einigungsvertrages getroffenen Spezialregelungen, insbesondere Art. 234 § 13 EGBGB, auch zugunsten der von solchen Adoptionen betroffenen Kinder ausgeschlossen ist. Falls dies zutrifft, wird voraussichtlich weiter zu klären sein, ob eine entsprechende Anwendung des § 1 Abs. 4 Satz 2 oder des § 1 Abs. 5 VwRehaG auf diese Betroffenen in Betracht kommt.

6

Sollte der Vortrag des Klägers, er habe Gesundheitsschäden durch die familiäre Entwurzelung erlitten, bei sachgerechter Auslegung seines Rehabilitierungs- und seines Klageantrags (§ 88 VwGO) dahin zu verstehen sein, dass sein Rehabilitierungsbegehren sich nicht allein auf die Adoption als Rechtsakt, sondern auch auf die behördliche Verhinderung von Kontakten zum leiblichen Vater und auf seine Unterbringung in der Pflege- und späteren Adoptivfamilie bezieht, könnte im Revisionsverfahren erheblich werden, ob § 1 Abs. 1 Satz 1 VwRehaG i. V. m. § 1 Abs. 5 VwRehaG insoweit entsprechend anzuwenden ist.