BGH 6. Zivilsenat, Urteil vom 14.06.2022, AZ VI ZR 172/20, ECLI:DE:BGH:2022:140622UVIZR172.20.0
§ 823 Abs 1 BGB, § 823 Abs 2 BGB, § 1004 Abs 1 S 1 BGB, Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG
Leitsatz
1. Durch eine Darstellung, die das jüdische Volk und seine Religion, mithin das Judentum als Ganzes verhöhnt und verunglimpft, wird der Geltungs- und Achtungsanspruch eines jeden in Deutschland lebenden Juden angegriffen.
2. Der rechtsverletzende Zustand, der von einem der Diffamierung und Verunglimpfung von Juden dienenden Sandsteinrelief ausgeht, kann nicht allein durch Entfernung des Reliefs, sondern auch dadurch beseitigt werden, dass sich der Störer von dem im Relief verkörperten Aussagegehalt distanziert, dieses kontextualisiert und in eine Stätte der Mahnung zum Zwecke des Gedenkens und der Erinnerung an die jahrhundertelange Diskriminierung und Verfolgung von Juden bis hin zum Holocaust umwandelt.
3. Der Abwehranspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB ist auf die Beseitigung des andauernden rechtswidrigen Störungszustands, nicht hingegen auf eine bestimmte Handlung gerichtet. Es muss daher grundsätzlich dem Schuldner überlassen bleiben, wie er den Störungszustand beseitigt.
Verfahrensgang
vorgehend Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, 4. Februar 2020, Az: 9 U 54/19, Urteil
vorgehend LG Dessau-Roßlau, 24. Mai 2019, Az: 2 O 230/18, Urteil
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Naumburg vom 4. Februar 2020 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Von Rechts wegen
Tatbestand
1
Der Kläger verlangt von der beklagten Kirchengemeinde die Entfernung eines Sandsteinreliefs von ihrer Kirchenfassade.
2
Die Beklagte ist Eigentümerin der unter Denkmalschutz stehenden Wittenberger Stadtkirche, an deren Außenfassade sich seit etwa dem Jahr 1290 ein Sandsteinrelief befindet. Es zeigt unter anderem eine Sau, an deren Zitzen zwei Menschen saugen, die durch ihre Spitzhüte als Juden identifiziert werden. Ein ebenfalls durch seinen Hut als Jude zu identifizierender Mensch hebt den Schwanz der Sau und blickt ihr in den After. Im Jahr 1570 wurde in Anlehnung an zwei von Martin Luther 1543 veröffentlichte antijudaistische Schriften über der Sau die Inschrift „Rabini Schem Ha Mphoras“ angebracht. Im Jahr 1983 entschied der Gemeindekirchenrat im Rahmen von Sanierungsarbeiten an der Stadtkirche, das Relief an seinem Ort zu belassen und ebenfalls zu sanieren. Am 11. November 1988 wurde unter dem Relief eine nach den örtlichen Verhältnissen nicht zu übersehende, in Bronze gegossene quadratische Bodenreliefplatte mit einer Inschrift eingeweiht. Der Text der Inschrift lautet: „Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in 6 Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen“. In Hebräischer Schrift ist darüber hinaus der Beginn von Psalm 130 wiedergegeben, der – übersetzt – lautet: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“. Auf einem in unmittelbarer Nähe angebrachten Schrägaufsteller heißt es unter der Überschrift
„Mahnmal an der Stadtkirche Wittenberg“:
„An der Südostecke der Stadtkirche Wittenberg befindet sich seit etwa 1290 ein Hohn- und Spottbild auf die jüdische Religion. Schmähplastiken dieser Art, die Juden in Verbindung mit Schweinen zeigen – Tiere, die im Judentum als unrein gelten – waren besonders im Mittelalter verbreitet. Es existieren noch etwa fünfzig derartige Bildwerke.
Judenverfolgungen fanden in Sachsen Anfang des 14. Jahrhunderts und 1440 statt, 1536 wurde Juden der Aufenthalt in Sachsen grundsätzlich verboten.
Martin Luther veröffentlichte 1543 die antijudaistischen Schriften „Von den Juden und ihren Lügen“ und „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“, auf die sich die Inschrift der Schmähplastik bezieht. Sie wurde 1570 angebracht wie der lateinische Text an der Traufe, der die von Martin Luther angestoßene Reformation mit der Tempelreinigung Jesu (Matthäus 21) gleichsetzt und gegen „Papisten“ polemisiert.
Das Mahnmal unterhalb der Schmähplastik wurde im November 1988 enthüllt, fünfzig Jahre nach dem Beginn der Judenpogrome im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland. Die in Bronze gegossene Bodenplatte zeigt vier gegeneinander verkippte Trittplatten, die aussehen, als seien sie in morastigem Untergrund verlegt. Die Fugen ergeben ein Kreuzeszeichen. Der umlaufende Text verbindet die Inschrift der Schmähplastik mit dem Holocaust: „Gottes eigentlicher Name / der geschmähte Schem Ha Mphoras / den die Juden vor den Christen / fast unsagbar heilig hielten / starb in sechs Millionen Juden / unter einem Kreuzeszeichen.“ Dazu steht in hebräischer Schrift der Beginn von Psalm 130: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“. Die Bronzeplatte entwarf der Bildhauer Wieland Schmiedel. Die Umschrift verfasste der Schriftsteller Jürgen Rennert.“
3
Der Kläger ist Jude und Mitglied einer jüdischen Gemeinde in Deutschland. Er macht geltend, er werde durch das Sandsteinrelief beleidigt. Die diffamierende Wirkung bleibe unabhängig davon, ob man die Plastik kommentiere, erhalten. Eine Distanzierung von dem beleidigenden Aussagegehalt sei nicht möglich. Mit seiner Klage verlangt er von der Beklagten in erster Linie die Entfernung des Sandsteinreliefs; für den Fall, dass der Beklagten dies aus Denkmalschutzgründen nicht möglich sein sollte, begehrt er hilfsweise die Feststellung, dass das Relief den objektiven und subjektiven Tatbestand der Beleidigung gemäß § 185 StGB erfülle.
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Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit seiner vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
I.
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Nach Auffassung des Berufungsgerichts verwirklicht das öffentlich sichtbare Vorhalten des beanstandeten Sandsteinreliefs weder den objektiven Tatbestand der Beleidigung des § 185 StGB noch verletzt es das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers. Zwar habe das Relief ursprünglich dazu gedient, Juden verächtlich zu machen, zu verhöhnen und herabzuwürdigen. Bei isolierter Betrachtung wäre es deshalb als Beleidigung von Juden zu werten. Unter Berücksichtigung der konkreten Umstände sei ihm ein rechtsverletzender Sinngehalt aber nicht mehr zu entnehmen. Es sei inzwischen Teil eines nach den örtlichen Verhältnissen nicht zu übersehenden Ensembles von Exponaten, die die Zielrichtung der Beklagten erkennen ließen, es als Teil einer Gedenk- und Erinnerungskultur zu erhalten. Der Informationstext auf dem Schrägaufsteller bringe unmissverständlich zum Ausdruck, dass sich die Beklagte von Judenverfolgungen, den antijudaistischen Schriften Luthers und insbesondere auch von der verhöhnenden und verspottenden Zielrichtung der Schmähplastik distanziere.
II.
6
Diese Erwägungen halten der revisionsrechtlichen Überprüfung stand. Der Kläger kann von der Beklagten nicht die Entfernung des beanstandeten Sandsteinreliefs verlangen. Es fehlt an der für einen derartigen Anspruch erforderlichen gegenwärtigen Rechtsverletzung. Selbst wenn eine solche gegeben wäre, könnte der Kläger daraus nicht die allein beanspruchte Rechtsfolge der Entfernung des Reliefs herleiten.
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1. Der Kläger kann den geltend gemachten Anspruch auf Entfernung des Sandsteinreliefs nicht aus einer Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts ableiten (§ 1004 Abs. 1 Satz 1 analog, § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG).
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a) Das Berufungsgericht hat allerdings zu Recht angenommen, dass das beanstandete Sandsteinrelief jedenfalls bis zur Verlegung der in Bronze gegossenen Bodenreliefplatte am 11. November 1988 einen das jüdische Volk und seine Religion massiv diffamierenden Aussagegehalt aufwies und Judenfeindlichkeit und Hass zum Ausdruck brachte. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts, die die Revisionserwiderung nicht in Frage stellt, diente das Relief zur Zeit seiner Entstehung und auch noch im 16. Jahrhundert, als es durch die Inschrift „Rabini Schem Ha Mphoras“ ergänzt wurde, dazu, Juden verächtlich zu machen, zu verhöhnen und auszugrenzen. Einen entsprechenden Aussagegehalt hatte das Relief jedenfalls auch noch bis zur Verlegung der Bronzeplatte. Das Sandsteinrelief zeigt, wie zwei Menschen wie Ferkel an den Zitzen des Tieres saugen. Ein dritter Mensch schaut unter dem Hals der Sau hervor und versucht, ein Ferkel daran zu hindern, an die Zitzen der Muttersau zu gelangen. Ein vierter Mensch hält mit der rechten Hand den Hinterhuf der Sau; mit der linken Hand hebt er ihren Schwanz und schaut ihr mit sichtbarem Interesse in den After. Er übertrifft die drei anderen deutlich an Größe, was seine besondere Bedeutung nahelegt. Alle vier dargestellten Personen sind aufgrund ihrer typischen „Judenhüte“ eindeutig als Juden zu erkennen. Der der Sau in den After blickende Jude ist aufgrund der Größe seiner Darstellung als Rabbiner zu identifizieren.
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Durch eine solche Darstellung werden Juden und ihr Glauben in besonders krasser Weise verhöhnt, verunglimpft und herabgewürdigt. Das Schwein gilt im Judentum bekanntlich als unrein; in der christlichen Kunst des Mittelalters verkörpert es den Teufel (vgl. auch Kämpfer in FS-Thomas Fischer, 2018, 387 ff.; Carstensen/Henningsen in Lohmeier/Paczkowski/Schulte-Wülwer, Nordelbingen, Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte, 1989, 7 ff.; Bruinier, forum religion 4/95, 4, 5 f.; Schwab, Kunst und Kirche 1/21, 20 f.; Morgenstern, Martin Luther und die Kabbala, 2017, 247).
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b) Zu Recht hat das Berufungsgericht den Erfolg der Klage auch nicht an der fehlenden Aktivlegitimation des Klägers scheitern lassen. Zwar kann gegen Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht nur der unmittelbar Betroffene vorgehen (vgl. zuletzt Senatsurteil vom 17. Mai 2022 – VI ZR 141/21, zVb Rn. 25 mwN). Auch wenn der Kläger nicht persönlich in dem beanstandeten Relief dargestellt wird, war die darin jedenfalls bis zur Verlegung der Bronzeplatte zum Ausdruck kommende Aussage aber geeignet, ihn unmittelbar in eigenen Rechten zu betreffen.
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Wie unter a) dargestellt, verhöhnt und verunglimpft das beanstandete Relief isoliert betrachtet das gesamte jüdische Volk und seine Religion, mithin das Judentum als Ganzes. Durch eine solche Darstellung wird unmittelbar auch der Geltungs- und Achtungsanspruch eines jeden in Deutschland lebenden Juden angegriffen (vgl. Senatsurteil vom 18. September 1979 – VI ZR 140/78, BGHZ 75, 160, juris Rn. 15; BGH, Urteile vom 25. Juli 1963 – 3 StR 4/63, juris Rn. 14 – Jud Süß [insoweit in BGHSt 19, 63 nicht abgedruckt]; vom 21. April 1961 – 3 StR 55/60, BGHSt 16, 49, juris Rn. 27 – zur Schrift von Eustace Mullins „The Federal Reserve Conspiracy“; BVerfGK 15, 93, juris Rn. 25 f. – Holocaust auf dem Teller). Diese Personengruppe ist durch den nationalsozialistischen Völkermord zu einer Einheit verbunden, die sie aus der Allgemeinheit hervortreten lässt (vgl. BGH, Beschluss vom 28. Februar 1958 – 1 StR 387/57, BGHSt 11, 207, 209). Der vom deutschen Staat im Zweiten Weltkrieg mit dem Ziel der Ausrottung des jüdischen Volkes begangene Massenmord an Juden prägt den Geltungsanspruch und Achtungsanspruch eines jeden in Deutschland lebenden Juden (vgl. Senatsurteil vom 18. September 1979 – VI ZR 140/78, BGHZ 75, 160, juris Rn. 15; BGH, Urteil vom 15. Dezember 1994 – 1 StR 656/94, NJW 1995, 340, juris Rn. 9; BVerfGK 15, 93, juris Rn. 25 f. – Holocaust auf dem Teller; EGMR, NJW 2014, 137 Rn. 49 – Peta Deutschland gegen Deutschland; Burkhardt/Peifer in Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 6. Auflage, S. 297; Soehring in Hoene/Soehring, Presserecht, 6. Auflage, § 13 Rn. 13.40; Brändel/Schmitt in Götting/Schertz/Seitz, Handbuch Persönlichkeitsrecht, 2. Auflage, § 30 Rn. 9). Es gehört zum personalen Selbstverständnis eines jeden von ihnen, als Teil einer durch das unfassbare Unrecht herausgehobenen Personengruppe begriffen zu werden, die besonders verletzlich ist und der gegenüber eine besondere moralische Verantwortlichkeit aller anderen Deutschen besteht; dieses Selbstverständnis ist Teil ihrer Würde. Die Achtung dieses Selbstverständnisses ist für jeden von ihnen eine der Garantien gegen eine Wiederholung von Diskriminierung und Verfolgung; sie ist eine Grundbedingung für ihr Leben in Deutschland (vgl. Senatsurteil vom 18. September 1979 – VI ZR 140/78, BGHZ 75, 160, juris Rn. 15, 17; BVerfGK 15, 93, juris Rn. 25 f. – Holocaust auf dem Teller).
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c) Die in dem beanstandeten Relief jedenfalls bis zur Verlegung der Bronzeplatte zum Ausdruck kommende Aussage war geeignet, den Kläger in seinem Recht auf Achtung seiner Persönlichkeit zu verletzen. Der sonst zur Feststellung einer Persönlichkeitsrechtsverletzung erforderlichen Abwägung der widerstreitenden grundrechtlichen Interessen im konkreten Einzelfall bedarf es ausnahmsweise nicht, weil die Aussage als Schmähung zu qualifizieren ist (vgl. zur Entbehrlichkeit der Einzelfallabwägung bei Schmähkritik: BVerfG, Beschluss vom 19. August 2020 – 1 BvR 2249/19, NJW 2021, 148 Rn. 14 ff. mwN). Zwar ist bei der Annahme einer Schmähung Zurückhaltung geboten. Sie folgt nicht schon aus einem besonderen Gewicht der Ehrbeeinträchtigung als solcher und ist damit nicht ein bloßer Steigerungsbegriff. Eine Äußerung nimmt den Charakter einer Schmähung erst dann an, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht (BVerfG, Beschluss vom 9. Februar 2022 – 1 BvR 2588/20, juris Rn. 21 f.; vom 19. August 2020 – 1 BvR 2249/19, NJW 2021, 148 Rn. 15). So verhält es sich aber im Streitfall. Die in dem Relief bei isolierter Betrachtung verkörperte Aussage hat für sich genommen keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug zu einer sachlichen Auseinandersetzung; nach den von der Revisionserwiderung nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts zielt sie vielmehr darauf ab, Juden und ihren Glauben verächtlich zu machen und zu verhöhnen.
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Aber auch wenn das Relief nicht als bloßes Schmähbild zu qualifizieren wäre (die „schlichte Eindeutigkeit eines Schmähbildes“ bezweifelnd: Germann in Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Kleine Hefte zur Denkmalpflege 15, 2020, S. 96, 100; Titze in Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Kleine Hefte zur Denkmalpflege 15, 2020, S. 17, 36), wäre die darin jedenfalls bis zur Verlegung der Bronzeplatte zum Ausdruck kommende Aussage geeignet, den Kläger in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zu verletzen. Angesichts der Schwere der davon ausgehenden Verunglimpfung überwöge sein Schutzinteresse etwaige Interessen der Beklagten deutlich.
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d) Die in dem beanstandeten Relief jedenfalls bis zur Verlegung der Bronzeplatte zum Ausdruck kommende Aussage ist der Beklagten auch zuzurechnen. Ob dies, wie die Revision meint, allein deshalb der Fall ist, weil die Beklagte das Relief nicht von der Fassade ihres Kirchengebäudes entfernt hat (zweifelnd Fricke, GRUR-Prax 2020, 160; Kämpfer in FS-Thomas Fischer, 2018, 387, 395 f.), kann offenbleiben. Denn die Beklagte hat sich durch ihren Gemeindekirchenrat im Jahr 1983 entschieden, das Relief im Rahmen von Sanierungsarbeiten an der Stadtkirche an seinem Ort zu belassen und zu sanieren, und hat die Sanierung durchgeführt. Hierdurch hat sie den rechtsverletzenden Zustand durch ein ihr zurechenbares Verhalten aufrechterhalten oder sogar – durch Herstellung einer infolge der Sanierung besseren Erkennbarkeit des diffamierenden Aussagegehalts – intensiviert (vgl. BeckOK BGB/Fritzsche, 61. Edition, § 1004 Rn. 58; Kämpfer in FS-Thomas Fischer, 2018, 387, 394).
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e) Die Beklagte hat den jedenfalls bis zum 11. November 1988 bestehenden rechtsverletzenden Zustand aber dadurch beseitigt, dass sie unter dem Relief eine nach den örtlichen Verhältnissen nicht zu übersehende, in Bronze gegossene Bodenplatte mit der Inschrift
„Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in 6 Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen“ enthüllt und in unmittelbarer Nähe dazu einen Schrägaufsteller mit der Überschrift
„Mahnmal an der Stadtkirche Wittenberg“ angebracht hat, der den historischen Hintergrund des Reliefs und die Bronzeplatte näher erläutert. Aus der maßgeblichen Sicht eines unvoreingenommenen und verständigen Betrachters hat sie das bis dahin als Schmähung von Juden zu qualifizierende Sandsteinrelief – das „Schandmal“ – in ein Mahnmal zum Zwecke des Gedenkens und der Erinnerung an die jahrhundertelange Diskriminierung und Verfolgung von Juden bis hin zur Shoah umgewandelt und sich von der früheren Aussage – wie sie im Relief bei isolierter Betrachtung zum Ausdruck kommt – distanziert.
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aa) Entgegen der Auffassung der Revision kann der von dem Sandsteinrelief ausgehende rechtsverletzende Zustand nicht allein durch Entfernung des Reliefs beseitigt werden. Auch wenn das Relief von Anfang an und immer nur der Diffamierung und Verunglimpfung von Juden diente und kaum eine bildliche Darstellung denkbar ist, die in höherem Maße im Widerspruch zur Rechtsordnung steht, gebietet die Rechtsordnung nicht seine Beseitigung. Vielmehr bestanden mehrere Möglichkeiten, die von ihm ausgehende rechtswidrige Beeinträchtigung für die Zukunft abzustellen. So hätte die Beklagte den rechtswidrigen Störungszustand auch dadurch beenden können, dass sie das Relief vollständig verhüllt, dem Betrachter den in ihm verkörperten diffamierenden und judenfeindlichen Aussagegehalt dauerhaft verbirgt und damit sicherstellt, dass die Aussage keine Wirkung mehr erzielt. Wie das Berufungsgericht zutreffend angenommen hat, konnte die Beklagte den fortdauernden Störungszustand auch dadurch beseitigen, dass sie sich von dem im Relief verkörperten Aussagegehalt distanziert, dieses kontextualisiert und in eine Stätte der Mahnung zum Zwecke des Gedenkens und der Erinnerung an die jahrhundertelange Diskriminierung und Verfolgung von Juden bis hin zum Holocaust umwandelt. Denn auch durch ein solches Vorgehen – durch die Umwandlung des „Schandmals“ in ein Mahnmal und in ein Zeugnis für die Jahrhunderte währende judenfeindliche Geisteshaltung der christlichen Kirche – wird dem Relief der rechtsverletzende Aussagegehalt genommen.
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Anders als die Revision meint, trägt ein solches Vorgehen der besonderen historischen und ethischen Situation, in die der Streitfall eingebettet ist, mindestens ebenso gut Rechnung wie die vom Kläger beanspruchte Entfernung des Reliefs. Das an der Kirchenfassade befindliche Relief ist Ausdruck und Beleg des christlichen Antijudaismus, der sich über Jahrhunderte hinzog und Grundlage für den Antisemitismus und schließlich die Shoah war (Klatt in Zeitzeichen, Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft, 1/2018, 12; Wolffsohn in Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Kleine Hefte zur Denkmalpflege 15, 2020, S. 13 f.; ders. „Eine perverse Sauerei“, https://www.deutschlandfunk.de/michael-wolffsohn-ueber-die-wittenberger-judensau-eine-100.html, abgerufen am 14. Mai 2022). Hinreichend kontextualisiert illustriert es die Mitverantwortung der christlichen Kirche für die jahrhundertelange Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung von Juden und ermöglicht eine Aufklärung und inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Ziel, Hass, Ausgrenzung und Antisemitismus entgegenzutreten (Wolffsohn, „Eine perverse Sauerei“, https://www.deutschlandfunk.de/michael-wolffsohn-ueber-die-wittenberger-judensau-eine-100.html, abgerufen am 14. Mai 2022).
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bb) Die Revision wendet sich auch ohne Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Beklagte habe sich von dem im Relief verkörperten Aussagegehalt erfolgreich distanziert und dieses in ein Mahnmal zum Zwecke des Gedenkens und der Erinnerung an die jahrhundertelange Diskriminierung und Verfolgung von Juden bis hin zum Holocaust umgewandelt.
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(1) Ohne Erfolg macht die Revision geltend, die Beklagte könne sich schon gar nicht von dem beleidigenden Aussagegehalt des an ihrer Kirche angebrachten und von ihr sanierten Reliefs distanzieren. Sie übersieht, dass Aussagen mit Wirkung für die Zukunft einen anderen Sinngehalt bekommen können, wenn sie in einen anderen Kontext gestellt werden.
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(2) Die Revision rügt auch zu Unrecht, das Berufungsgericht habe den für die Erfassung des Aussagegehalts maßgeblichen Kontext falsch bestimmt und rechtsfehlerhaft die Bronzeplatte und den Informationstext auf dem Schrägaufsteller in die Betrachtung miteinbezogen.
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(a) Nach der gefestigten Rechtsprechung ist der Sinngehalt einer Aussage, die auch bildlich erfolgen kann, unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs, in dem sie steht, und der Begleitumstände, die für den Rezipienten erkennbar sind, zu bestimmen. Maßgeblich ist dabei weder die subjektive Absicht des sich Äußernden noch das subjektive Verständnis des von der Aussage Betroffenen, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums hat (st. Rspr., vgl. Senatsurteile vom 17. Mai 2022 – VI ZR 141/21, zVb Rn. 65; vom 27. April 2021 – VI ZR 166/19, AfP 2021, 336 Rn. 11 mwN; BVerfGE 93, 266, juris Rn. 124 ff. – Soldaten sind Mörder).
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(b) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts kann der Betrachter des Sandsteinreliefs die Bronzeplatte und die in unmittelbarer Nähe aufgestellte Informationstafel, die sich beide am Fuß der Kirche unter dem in ca. 4 m Höhe angebrachten Relief befinden, nach den örtlichen Verhältnissen nicht übersehen. Dass sie mit dem Relief kein einheitliches Werk bilden und sich von diesem historisch und stilistisch unterscheiden, steht ihrer Berücksichtigung bei der Bestimmung des Aussagegehalts des Reliefs entgegen der Auffassung der Revision nicht entgegen. Gleiches gilt für den Umstand, dass die Erfassung des genauen Inhalts der drei Objekte eine unterschiedliche Blickrichtung des Betrachters und eine nähere Befassung mit dem jeweiligen Objekt erfordert. Dies gilt umso mehr, als sich auch die Darstellung in dem in etwa 4 m Höhe angebrachten Sandsteinrelief dem Betrachter erst nach genauerem Hinsehen erschließt. Entgegen der Auffassung der Revision widerspricht es nicht der Lebenserfahrung, dass der unvoreingenommene und verständige Betrachter des Reliefs auch die Bronzeplatte und die in unmittelbarer Nähe aufgestellte Informationstafel in den Blick nimmt. Die Revisionserwiderung verweist zu Recht darauf, dass der Betrachter nach der Lebenserfahrung zunächst, jedenfalls aber auch die Gegenstände wahrnimmt, die ihm – wie die Bronzeplatte – in den Weg gelegt sind oder die vor ihm stehen, und dass er nicht lediglich nach oben schaut.
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cc) Wie das Berufungsgericht zu Recht angenommen hat, erkennt der unvoreingenommene, verständige Betrachter auch die inhaltliche Verbindung zwischen dem Relief einerseits und der Bronzeplatte und dem Informationstext in dem Schrägaufsteller andererseits. Er entnimmt den drei Objekten im Gesamtzusammenhang, dass sich die Beklagte von der diffamierenden und judenfeindlichen Aussage, die dem Relief bei isolierter Betrachtung zu entnehmen ist, distanziert und dieses nunmehr als Teil eines Gesamtensembles zum Zwecke des Gedenkens und der Erinnerung an die jahrhundertelange Diskriminierung und Verfolgung von Juden bis hin zum Holocaust und als Zeugnis für die Mitverantwortung der christlichen Kirche präsentiert.
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Bereits die Überschrift des Informationstextes auf der Informationstafel „Mahnmal an der Stadtkirche Wittenberg“ vermittelt dem unvoreingenommenen und verständigen Betrachter, dass im nachfolgenden Text eine an der Stadtkirche befindliche Stätte der Erinnerung und des Gedenkens erläutert werden soll. Dem ersten Satz des Informationstextes entnimmt der Betrachter den Anlass für die Mahnung an diesem Ort, nämlich eine von der Beklagten ausdrücklich als „Hohn- und Spottbild auf die jüdische Religion“ bzw. „Schmähplastik“ qualifizierte Darstellung an der Südostecke der Kirche, deren Charakteristikum – die Abbildung von Juden in Verbindung mit Schweinen, Tieren, die im Judentum als unrein gelten – anschließend beschrieben wird. Dem weiteren Informationstext in Verbindung mit der darin näher erläuterten in Bronze gegossenen Bodenplatte entnimmt der Betrachter, dass die Beklagte das an ihrer Kirche angebrachte „Hohn- und Spottbild auf die jüdische Religion“ zum Anlass nimmt, der jahrhundertelangen Verhöhnung, Ausgrenzung und Verfolgung von Juden bis hin zur Shoah insgesamt zu gedenken. Ihm erschließt sich, dass die Schmähplastik ebenso wie die erwähnten Judenverfolgungen im 14. und 15. Jahrhundert, das 1536 gegenüber Juden verhängte Aufenthaltsverbot und die von Martin Luther veröffentlichten antijudaistischen Schriften Ausdrucksformen eines mittelalterlichen, auch von der christlichen Kirche propagierten Antijudaismus waren, der sich über Jahrhunderte hinzog und den Boden für ausgeprägten Judenhass und den nationalsozialistischen Völkermord bereitet hat. Den inneren Zusammenhang zwischen dem an der Stadtkirche befindlichen „Hohn- und Spottbild“ und dem Holocaust stellt die Beklagte dabei – für den Betrachter klar erkennbar – durch die in Bronze gegossene Bodenplatte und deren nähere Erläuterung im Informationstext her. Nach der Erläuterung, dass sich die 1570 angebrachte Inschrift des Sandsteinreliefs „Rabini Schem Ha Mphoras“ auf Luthers antijudaistische Schriften „Von den Juden und ihren Lügen“ und „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“ bezieht, weist sie den Betrachter darauf hin, dass der umlaufende und von ihr wiedergegebene Text der Bronzeplatte die Inschrift der Schmähplastik mit dem Holocaust verbinde. In diesem Text ist von dem „geschmähten Schem Ha Mphoras“, der in sechs Millionen Juden gestorben sei, die Rede. Dass hiermit der nationalsozialistische Völkermord gemeint ist, ergibt sich zweifelsfrei aus der weiteren Erläuterung im Informationstext, wonach die Bronzeplatte fünfzig Jahre nach dem Beginn der Judenpogrome im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland enthüllt worden sei. Dass die christliche Kirche nach Auffassung der Beklagten eine Mitverantwortung für die jahrhundertelange Verhöhnung, Ausgrenzung und Verfolgung von Juden trägt, erschließt sich dem Betrachter nicht zuletzt aus den Hinweisen auf das mit dem „Kreuzeszeichen“ symbolhaft ausgedrückte Christentum auf der Bronzeplatte und deren näherer Erläuterung im Informationstext. Danach ergeben die Fugen der vier gegeneinander verkippten Trittplatten, die aussehen, als seien sie in morastigem Untergrund verlegt, ein Kreuzeszeichen. Im umlaufenden Text auf der Platte wird auf den Tod von 6 Millionen Juden „unter einem Kreuzeszeichen“ verwiesen.
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f) Aber auch wenn man annähme, die Beklagte habe sich durch die Enthüllung der in Bronze gegossenen Bodenplatte und die Aufstellung des Schrägaufstellers noch nicht hinreichend von der im Relief bei isolierter Betrachtung zum Ausdruck kommenden Aussage distanziert, könnte der Kläger nicht die – allein begehrte – Entfernung des beanstandeten Sandsteinreliefs verlangen. Der Abwehranspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB ist auf die Beseitigung des andauernden rechtswidrigen Störungszustands, nicht hingegen auf eine bestimmte Handlung gerichtet. Nach der gefestigten Rechtsprechung muss es grundsätzlich dem Schuldner überlassen bleiben, wie er den Störungszustand beseitigt. Dies hat seinen Grund darin, dass die Rechte des Störers nicht weitergehend eingeschränkt werden sollen, als der Schutz des Berechtigten vor Beeinträchtigungen seiner Rechte es erfordert. Abgesehen davon trägt der Störer ggf. das Risiko der Zwangsvollstreckung, wenn die gewählte Maßnahme die Störung nicht beseitigt (vgl. Senatsurteil vom 28. Juli 2015 – VI ZR 340/14, BGHZ 206, 289 Rn. 40; BGH, Urteile vom 22. Oktober 1976 – V ZR 36/75, BGHZ 67, 252, 253, juris Rn. 11; vom 12. Dezember 2003 – V ZR 98/03, VersR 2004, 797, juris Rn. 14; BVerfG, NJW 2010, 220 Rn. 26; BeckOK BGB/Fritzsche, 61. Edition, § 1004 Rn. 67; Köhler/Bornkamm/Feddersen/Bornkamm, 40. Auflage, UWG § 8 Rn. 1.113, 1.115, 1.119). Etwas anderes gilt nur dann, wenn allein eine konkrete Maßnahme die Beeinträchtigung beseitigen kann oder andere Maßnahmen zwar möglich sind, vernünftigerweise aber nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden können (vgl. BGH, Urteil vom 12. Dezember 2003 – V ZR 98/03, VersR 2004, 797, juris Rn. 14 f. mwN; BVerfG, NJW 2010, 22, Rn. 26; BeckOK BGB/Fritzsche, aaO Rn. 73).
26
Nach diesen Grundsätzen könnte der Kläger aus einem etwa noch bestehendem Störungszustand jedenfalls nicht die allein beanspruchte Rechtsfolge der Entfernung des Reliefs herleiten. Denn wie unter e) aa) ausgeführt, bestanden im Streitfall mehrere Möglichkeiten, die von dem Relief jedenfalls bis zum 11. November 1988 ausgehende rechtswidrige Beeinträchtigung für die Zukunft abzustellen.
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2. Der Kläger kann den geltend gemachten Anspruch auf Entfernung des Sandsteinreliefs auch nicht aus § 1004 Abs. 1 Satz 1 analog, § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 185 StGB ableiten. Insoweit gelten die Ausführungen unter 1 e) und f) entsprechend. Auf sie wird Bezug genommen.
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3. Der Hilfsantrag des Klägers ist mangels Eintritts der innerprozessualen Bedingung nicht zur Entscheidung angefallen.
- Seiters
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