BSG 4. Senat, Beschluss vom 11.04.2022, AZ B 4 AS 8/21 R, ECLI:DE:BSG:2022:110422BB4AS821R0
§ 161 SGG, § 65a SGG, § 67 SGG
Verfahrensgang
vorgehend SG Schleswig, 25. November 2020, Az: S 9 AS 639/18, Urteil
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 25. November 2020 wird als unzulässig verworfen.
Der Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
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I. Die Klägerin begehrt in einem Zugunstenverfahren höheres Alg II. Die Beteiligten streiten über die Auswirkungen einer durch den Energielieferanten durchgeführten Verrechnung von Stromkostenguthaben mit einer Heizkostennachforderung auf den Bedarf für Unterkunft und Heizung.
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Das SG hat unter Zulassung der Sprungrevision die Beklagte zur Änderung eines bindenden Bewilligungsbescheids und zur Gewährung weiterer Leistungen verpflichtet
(Urteil vom 25.11.2020). Das Urteil ist dem Beklagten am 4.1.2021 zugestellt worden. Er hat dagegen am 2.2.2021 in Form der Übermittlung elektronischer Dokumente aus einem besonderen Behördenpostfach die Sprungrevision eingelegt und begründet. Im Einzelnen sind als pdf-Dateien neben dem eigenen Schriftsatz und dem Urteil des SG ein (nicht unterzeichneter) Schriftsatz der Bevollmächtigten der Klägerin vom 26.1.2021 an den Beklagten mit dem Einverständnis zur Einlegung der Sprungrevision übermittelt worden.
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Der Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Schleswig vom 25.11.2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
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Auf den Hinweis des Senats, dass die übermittelte Zustimmungserklärung nicht dem Schriftformerfordernis des § 161 Abs 1 Satz 1 SGG entsprechen dürfte, hat der Beklagte eine (unterzeichnete) Erklärung der Klägerbevollmächtigten übersandt, in der diese versichern, dass die „Zustimmung mittels ERV und qualifizierter elektronischer Signatur am 26.01.2021 an den Kreis Schleswig-Flensburg“ gesandt worden sei. Dieser müsste auch eine sog Signaturdatei erhalten haben.
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II. Die Sprungrevision des Beklagten ist unzulässig und daher durch Beschluss zu verwerfen
(§ 169 Satz 2, 3 SGG). Die vom Beklagten innerhalb der Revisionsfrist übermittelte Zustimmungserklärung der Bevollmächtigten der Klägerin entspricht nicht dem Schriftformerfordernis des § 161 Abs 1 Satz 1 SGG.
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Nach § 161 Abs 1 Satz 1 SGG steht den Beteiligten gegen das Urteil eines SG die Revision unter Übergehung der Berufungsinstanz zu, wenn der Gegner schriftlich zustimmt und wenn sie von dem Sozialgericht im Urteil oder auf Antrag durch Beschluss zugelassen wird. Die Zustimmung des Gegners ist dem Antrag oder, wenn die Revision im Urteil zugelassen ist, der Revisionsschrift beizufügen
(§ 161 Abs 1 Satz 3 SGG). Wenn die Revision wie hier im Urteil zugelassen ist, setzt die Zulässigkeit der Sprungrevision also voraus, dass der Rechtsmittelgegner der Einlegung des Rechtsmittels schriftlich zugestimmt hat und diese Zustimmungserklärung der Revisionsschrift beigefügt wird; die schriftliche Zustimmungserklärung muss innerhalb der Revisionsfrist vorgelegt werden
(vgl BSG vom 9.10.2009 – B 4 AS 40/09 R – juris RdNr 6; BSG vom 7.7.2011 – B 14 AS 153/10 R – BSGE 108, 289 = SozR 4-4200 § 38 Nr 2, RdNr 12; BSG vom 30.1.2017 – B 14 AS 26/16 R – RdNr 13 ff).
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Der Beklagte hat hier innerhalb der bis zum 4.2.2021 laufenden Revisionsfrist von einem Monat nach Zustellung des Urteils
(§ 164 Abs 1 Satz 1 SGG) zwar formwirksam schriftlich Revision eingelegt, wobei er unter Einhaltung der gesetzlichen Maßgaben den Weg der elektronischen Übermittlung
(§ 65a Abs 1 SGG) gewählt hat. Er hat indessen innerhalb dieser Frist keine dem Schriftformerfordernis entsprechende Zustimmungserklärung des Rechtsmittelgegners, also der Klägerin, vorgelegt. Die Übersendung einer pdf-Datei, die zwar textlich eine Zustimmungserklärung zum Inhalt hat, aber nicht unterzeichnet oder durch den Urheber signiert ist, wahrt die Schriftform nicht. Zwar kann das Schriftformerfordernis für die Zustimmung dann noch als gewahrt angesehen werden, wenn eine unterschriebene Zustimmungserklärung einscannt, in eine pdf-Datei umgewandelt und als Anhang zu einer den Anforderungen an den elektronischen Rechtsverkehr genügenden Revisionsschrift übersandt wird
(so BSG vom 7.7.2011 – B 14 AS 153/10 R – BSGE 108, 289 = SozR 4-4200 § 38 Nr 2, RdNr 13 f). Eine unterschriebene Zustimmungserklärung enthielt hier die übersandte pdf-Datei aber gerade nicht.
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Auch wenn die Zustimmung vorab mittels Elektronischen Rechtsverkehrs und qualifizierter elektronischer Signatur an den Beklagten übermittelt wurde, wie es nach Ablauf der Revisionsfrist die Klägerbevollmächtigten bestätigt haben, führt dies zu keiner anderen Beurteilung. Denn wird dem Revisionsführer eine Zustimmung des Gegners zur Sprungrevision in elektronischer Form als Datei ohne Unterschrift übermittelt, ist er gehalten, bei der Weiterleitung an das Revisionsgericht ausdrücklich auf diesen Umstand hinzuweisen. Er hat zudem die Prüfung zu ermöglichen, ob diese elektronische Übermittlung den gesetzlichen Anforderungen entsprochen hat, etwa – wenn dies nicht aus der Datei selbst oder deren Anlagen bereits geschlossen werden kann – durch Vorlage eigener Prüfprotokolle. Hieraus muss sich – als Funktionsäquivalent zur Unterschrift – eine Signatur der den Schriftsatz verantwortenden Person ergeben
(vgl zur Authentizität und Integrität elektronischer Dokumente BSG vom 12.10.2016 – B 4 AS 1/16 R – BSGE 122, 71 = SozR 4-1500 § 65a Nr 3, RdNr 18). Nur dann ist im Sinne der Zielrichtung des Schriftformerfordernisses gewährleistet, dass eine mit Wissen und Wollen des Urhebers abgegebene Erklärung vorliegt und nicht etwa nur ein Entwurf
(vgl dazu nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 151 RdNr 3a; Berchtold in Berchtold, SGG, 6. Aufl 2021, § 164 RdNr 5, jeweils mwN).
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Der rechtlichen Tragweite der Zustimmungserklärung und den Erfordernissen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit
(vgl dazu BSG vom 5.4.2000 – B 6 KA 44/99 R – juris RdNr 5; BSG vom 26.10.2004 – B 4 RA 38/04 R – SozR 4-1500 § 161 Nr 1 RdNr 6; BSG vom 30.1.2017 – B 14 AS 26/16 R – juris RdNr 14) ist auch im Rahmen des elektronischen Rechtsverkehrs Rechnung zu tragen. Mit der Zustimmung zur Sprungrevision verzichtet der Rechtsmittelgegner gemäß § 161 Abs 4 und 5 SGG auf das Rechtsmittel der Berufung sowie auf die Möglichkeit, Verfahrensmängel zu rügen. Es darf deshalb nicht zweifelhaft bleiben, ob eine für den Gang des Verfahrens wesentliche Prozesserklärung von der dazu befugten Person tatsächlich abgegeben worden ist, diese sich über die Tragweite der Erklärung im Klaren ist und der Erklärende für ihren Inhalt die Verantwortung übernimmt
(vgl BSG vom 30.1.2017 – B 14 AS 26/16 R – juris RdNr 14 mwN).
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Hier hat der Beklagte innerhalb der Revisionsfrist die pdf-Datei mit der Erklärung der Klägerbevollmächtigen ohne besonderen Hinweis darauf übermittelt, auf welchem Weg er selbst diese Datei erhalten, bzw ob und auf welche Weise er sie selbst erstellt hat. Dem Revisionsgericht war schon mangels Kenntnis der elektronischen Übermittlung dieser Datei keine Prüfung möglich, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für eine solche Übermittlung vorgelegen hatten. Die Authentizität der Erklärung blieb deshalb unklar. Das Schriftformerfordernis ist in einem solchen Fall nicht gewahrt.
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Dem im Verlauf des Revisionsverfahrens übersandten Hinweis, die Zustimmung sei elektronisch signiert gewesen und es müsse eine Signaturdatei vorliegen, kommt keine Bedeutung zu. Zum einen ist der Hinweis erst nach Ablauf der Revisionsfrist erfolgt. Zum anderen ist eine Signaturdatei nicht übermittelt worden.
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Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 67 Abs 1 SGG wegen der versäumten Frist zur Vorlage der Zustimmungserklärung sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Insbesondere ist keine Verletzung von Prüfungs- oder Fürsorgepflichten durch das Gericht anzunehmen, die es erfordern würde, unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens eine Wiedereinsetzung zu gewähren
(vgl dazu nur BSG vom 18.11.2020 – B 1 KR 1/20 B – SozR 4-1500 § 65a Nr 6 RdNr 19 ff). Die Revision ist am 2.2.2021 eingegangen, die Revisionsfrist endete am 4.2.2021. Nach dem üblichen Geschäftsgang, der zunächst von verwaltungstechnischen Vorarbeiten geprägt ist, war bis zum Ablauf dieser Frist eine richterliche Bearbeitung, bei der der Formmangel der Zustimmungserklärung hätte auffallen können, nicht veranlasst
(vgl dazu BSG vom 12.10.2016 – B 4 AS 1/16 R – BSGE 122, 71 = SozR 4-1500 § 65a Nr 3, RdNr 29; BSG vom 18.11.2020 – B 1 KR 1/20 B – SozR 4-1500 § 65a Nr 6 RdNr 23 mwN). Es ergaben sich im üblichen Geschäftsgang auch keine Hinweise auf ausnahmsweise beschleunigte Handlungspflichten
(vgl dazu BAG vom 14.9.2020 – 5 AZB 23/20).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Meßling Burkiczak Söhngen