BGH 12. Zivilsenat, Beschluss vom 23.03.2022, AZ XII ZB 24/22, ECLI:DE:BGH:2022:230322BXIIZB24.22.0
§ 68 Abs 3 FamFG, § 321 Abs 1 S 1 FamFG
Leitsatz
In einem Unterbringungsverfahren darf das Beschwerdegericht nicht von einer förmlichen Beweisaufnahme durch Einholung eines Gutachtens über die Notwendigkeit der Maßnahme absehen, wenn diese im ersten Rechtszug unter Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften durchgeführt worden ist.
Verfahrensgang
vorgehend LG Düsseldorf, 17. Dezember 2021, Az: 25 T 185/21
vorgehend AG Düsseldorf, 1. April 2021, Az: 95 XVII 345/20 E
Tenor
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 25. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf vom 17. Dezember 2021 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die außergerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an eine andere Kammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.
Gründe
I.
1
Die 71jährige Betroffene leidet nach den getroffenen Feststellungen an einer fortgeschrittenen rezidivierenden Störung mit schwergradigen Episoden und leicht- bis mittelgradig ausgeprägter Demenz vom Mischtyp mit vaskulären Anteilen sowie mit hoher Wahrscheinlichkeit auch vorliegender hirnorganischer Schädigung aufgrund Polytoxikomanie.
2
Im Verfahren auf Einrichtung einer Betreuung erstattete der Sachverständige am 5. Februar 2021 sein Gutachten, worauf das Amtsgericht mit Beschluss vom 24. März 2021 eine Betreuung für den Aufgabenkreis Widerruf erteilter Vollmachten, Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitssorge, Regelung des Postverkehrs, Vermögensangelegenheiten sowie Vertretung gegenüber Behörden und Wohnungsangelegenheiten einrichtete und die örtliche Betreuungsstelle zum Betreuer bestellte.
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Auf Antrag der – zu dem Zeitpunkt bereits vorläufig bestellten – Betreuerin vom 19. März 2021 hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 1. April 2021 die geschlossene Unterbringung der Betroffenen für zwei Jahre genehmigt. Hierzu hat es sich auf das im Betreuungsverfahren eingeholte Gutachten vom 5. Februar 2021 bezogen, welches eine entsprechende Unterbringung empfahl.
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Das Landgericht hat die Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen; hiergegen richtet sich ihre Rechtsbeschwerde.
II.
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Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
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1. Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, dass die Versorgung der Betroffenen außerhalb der geschlossenen Unterbringung nicht sichergestellt sei. Aufgrund des aus der Vorgeschichte ersichtlichen negativen Einflusses des Sohnes der Betroffenen und dessen Lebensgefährtin sei mit hoher Wahrscheinlichkeit nach einer Entlassung in den häuslichen Bereich davon auszugehen, dass jene erneut der Betroffenen die notwendigen Unterstützungen vorenthalten würden. Angesichts des bisherigen Verlaufs seien die Sicherung der materiellen Existenzgrundlage und eine adäquate medizinische Versorgung zur Vermeidung etwaiger Komplikationen nur im Rahmen einer poststationären Heimunterbringung möglich. Da die Betroffene aber auf freiwilliger Basis nicht bereit sei, in ein offen geführtes Pflegeheim zu ziehen, und dort von einer unmittelbaren Fluchtgefahr auszugehen sei, bestehe die dringende Notwendigkeit einer langfristigen „geschlossen-stationären“ Unterbringung für einen Zeitraum von längstens zwei Jahren.
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2. Die angefochtene Entscheidung hält bereits der von der Rechtsbeschwerde erhobenen Verfahrensrüge nicht stand, dass das Beschwerdegericht unter Verstoß gegen §§ 321 Abs. 1 Satz 1, 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG ohne Einholung eines Gutachtens über die Notwendigkeit der Maßnahme über die Beschwerde entschieden habe.
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a) Gemäß § 321 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat vor einer Unterbringungsmaßnahme eine förmliche Beweisaufnahme durch Einholung eines Gutachtens über die Notwendigkeit der Maßnahme stattzufinden. Die Pflicht zur Einholung des Gutachtens besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG dem Beschwerdegericht auch in einem Unterbringungsverfahren die Möglichkeit ein, von der Durchführung einzelner Verfahrenshandlungen abzusehen, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen wurden. Ein solches Vorgehen setzt jedoch unter anderem voraus, dass die notwendige Verfahrenshandlung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 12. Mai 2021 – XII ZB 587/20 – FamRZ 2021, 1414 Rn. 5 zur Anhörung).
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b) Danach durfte das Beschwerdegericht nicht ohne Einholung eines Gutachtens über die Beschwerde der Betroffenen entscheiden. Denn das vom Amtsgericht durchgeführte Verfahren war fehlerhaft, weil es an einer der Vorschrift des § 321 Abs. 1 Satz 1 FamFG genügenden förmlichen Beweisaufnahme fehlt.
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§ 321 Abs. 1 Satz 1 FamFG sieht für das Unterbringungsverfahren im Hinblick auf die damit einhergehenden erheblichen Eingriffe in die Freiheitsrechte eine förmliche Beweisaufnahme vor, die gemäß § 30 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 FamFG entsprechend der Zivilprozessordnung durchzuführen ist. Danach bedarf es zwar nicht zwingend eines förmlichen Beweisbeschlusses (vgl. § 358 ZPO). Erforderlich ist jedoch die Beauftragung eines Sachverständigen mit der Prüfung der Notwendigkeit der Unterbringungsmaßnahme sowie die Benachrichtigung des Betroffenen hiervon, damit einerseits sich der Betroffene auf den Untersuchungsgegenstand einstellen und er andererseits gegebenenfalls von seinem Ablehnungsrecht nach § 30 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 406 ZPO Gebrauch machen kann (vgl. Senatsbeschluss vom 17. Januar 2018 – XII ZB 398/17 – FamRZ 2018, 525 Rn. 16 mwN).
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Vorliegend fehlt es bereits an der gerichtlichen Beauftragung eines Sachverständigen mit der Prüfung der Notwendigkeit der Unterbringungsmaßnahme. Das Gutachten vom 5. Februar 2021 war lediglich im Betreuungsverfahren zu der Frage der Betreuungsbedürftigkeit in Auftrag gegeben worden. Soweit darin überschießende Vorschläge zur Unterbringung der Betroffenen enthalten sind, stehen diese nicht nur außerhalb der Beweisfrage, sondern auch außerhalb des Verfahrensgegenstands des Betreuungsverfahrens und konnten somit allenfalls als Anregung verstanden werden. Ein Antrag der Betreuerin auf Genehmigung einer Unterbringung lag im Zeitpunkt der Gutachtenerstellung noch nicht vor; erst durch den späteren Antrag vom 19. März 2021 wurde das Unterbringungsverfahren eingeleitet. Nach erfolgter Verfahrenseinleitung hat das Amtsgericht keine förmliche Beweisaufnahme durch Einholung eines Gutachtens über die Notwendigkeit der Maßnahme durchgeführt.
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3. Der angefochtene Beschluss kann daher keinen Bestand haben. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben und die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen, damit dieses in einer den verfahrensrechtlichen Vorgaben entsprechenden Weise die erforderlichen Feststellungen treffen kann. Der Senat macht dabei von der Möglichkeit des § 74 Abs. 6 Satz 3 FamFG Gebrauch.
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Bei seiner erneuten Befassung wird das Landgericht auch zu berücksichtigen haben, dass die Anordnung einer Unterbringungsmaßnahme voraussetzt, dass sie zum Wohl des Betreuten erforderlich ist, weil die Gefahr besteht, dass er sich selbst tötet oder erheblichen gesundheitlichen Schaden zufügt, oder zur Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff notwendig ist (§ 1906 Abs. 1 BGB). Zu diesem Erfordernis fehlt es an ausreichenden Feststellungen. Nicht genügend ist das Ziel der Sicherung einer „adäquaten medizinischen Versorgung“ unterhalb der Schwelle der Abwendung eines drohenden erheblichen gesundheitlichen Schadens, erst recht nicht das vom Landgericht herangezogene Ziel der Sicherung der materiellen Existenzgrundlage.
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Die Maßnahme darf zudem nur angeordnet werden, wenn sie notwendig ist. Soweit drohende Einflussnahmen des Sohnes als Begründung für die Unterbringung der Betroffenen herangezogen worden sind, fehlt es an Feststellungen dazu, dass derartige schädliche Einflussnahmen nicht durch andere Maßnahmen der Betreuerin abgewendet werden können. Soweit der Beschluss anführt, dass der Sohn der Betroffenen und dessen Lebensgefährtin mit hoher Wahrscheinlichkeit nach einer Entlassung in den häuslichen Bereich erneut der Betroffenen die notwendigen Unterstützungen vorenthalten würden, liegt es ohnehin in der Verantwortung der Betreuerin, die notwendige Unterstützung sicherzustellen.
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Schließlich stellt die Befristung der Unterbringung auf längstens ein Jahr gemäß § 329 Abs. 1 Satz 1 FamFG eine gesetzliche Höchstgrenze dar, die nur unter besonderen Voraussetzungen überschritten werden darf. Wird über die regelmäßige Höchstfrist der geschlossenen Unterbringung von einem Jahr hinaus eine Unterbringung von bis zu zwei Jahren genehmigt oder angeordnet, ist diese Abweichung vom Regelfall im Hinblick auf den hohen Rang des Rechts auf Freiheit der Person ausreichend zu begründen. Solche Gründe können sich etwa aus konkreten Feststellungen über die Dauer einer notwendigen Therapie oder aus fehlenden Heilungs- und Besserungsaussichten bei anhaltender Eigengefährdung ergeben. Dabei erfordert das im Gesetz genannte Merkmal der „Offensichtlichkeit“, dass die Gründe für eine über ein Jahr hinaus währende Unterbringungsbedürftigkeit für das sachverständig beratene Gericht deutlich und erkennbar hervortreten (Senatsbeschluss vom 21. April 2021 – XII ZB 520/20 – FamRZ 2021, 1242 Rn. 9 mwN). Auch hierzu lässt die angefochtene Entscheidung keine ausreichende Begründung erkennen.
- Guhling
- Klinkhammer
- Günter
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