Öffentlichkeitsgrundsatz – Einschränkung zur Pandemiebekämpfung – Verzichtsmöglichkeit (Beschluss des BAG 2. Senat)

BAG 2. Senat, Beschluss vom 02.03.2022, AZ 2 AZN 629/21, ECLI:DE:BAG:2022:020322.B.2AZN629.21.0

§ 547 Nr 5 ZPO, § 295 Abs 2 ZPO, § 52 S 1 ArbGG, § 64 Abs 7 ArbGG, § 169 Abs 1 S 1 GVG

Leitsatz

Auf die Einhaltung des Öffentlichkeitsgrundsatzes kann im arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht verzichtet werden.

Verfahrensgang

vorgehend ArbG Hamburg, 5. August 2020, Az: 13 Ca 163/19, Urteil
vorgehend Landesarbeitsgericht Hamburg, 31. Mai 2021, Az: 4 Sa 86/20, Urteil

Tenor

1. Auf die Beschwerde der Beklagten zu 1. und der Beklagten zu 2. wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Hamburg vom 31. Mai 2021 – 4 Sa 86/20 – aufgehoben.

2. Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

3. Der Wert des Beschwerdegegenstands wird auf 323.266,44 Euro festgesetzt.

Gründe

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Die zulässige Beschwerde ist begründet. Die Beklagten haben die Voraussetzungen des Zulassungsgrundes aus § 72 Abs. 2 Nr. 3 Alt. 1 ArbGG iVm. § 547 Nr. 5 ZPO dargelegt. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts ist aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergangen, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt worden sind.

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I. Es liegt der absolute Revisionsgrund des § 547 Nr. 5 ZPO vor.

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1. Gemäß § 52 Satz 1 iVm. § 64 Abs. 7 ArbGG ist die Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht öffentlich.

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2. Der Grundsatz der Öffentlichkeit, der zu den Prinzipien demokratischer Rechtspflege gehört und auch in § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG niedergelegt ist, verlangt, dass jedermann nach Maßgabe des tatsächlich verfügbaren Raums Zutritt zur Verhandlung ermöglicht wird
(vgl. BAG 22. September 2016 – 6 AZN 376/16 – Rn. 5; 19. Februar 2008 – 9 AZN 777/07 – Rn. 8; BFH 12. Juni 2009 – II B 26/09 – Rn. 16; BGH 23. März 2006 – 1 StR 20/06 – Rn. 11; Zöller/Lückemann ZPO 34. Aufl. § 169 GVG Rn. 2). Die Beachtung des Grundsatzes findet ihre Grenze in der tatsächlichen Unmöglichkeit, ihr zu entsprechen
(vgl. BGH 10. Juni 1966 – 4 StR 72/66 – BGHSt 21, 72; RG 5. Februar 1918 – V 34/18 – RGSt 52, 137). Er ist nicht verletzt, wenn aus zwingenden Gründen Beschränkungen bestehen oder angeordnet werden müssen. Hierzu gehören insbesondere gegebene Raumbeschränkungen. Es besteht kein Anspruch der Öffentlichkeit auf so viele Plätze, wie Interessenten kommen
(Zöller/Lückemann ZPO 34. Aufl. § 169 GVG Rn. 6). Zulässig ist auch eine Reduzierung der Zuhörerzahl in einem Saal, um Abstandsregelungen im Zuge einer Pandemiebekämpfung einhalten zu können
(vgl. Greger MDR 2020, 509, 511). Die Verhandlung ist aber nur dann öffentlich, wenn beliebige Zuhörer, sei es auch nur in sehr begrenzter Zahl, die Möglichkeit des Zutritts haben
(BGH 10. November 1953 – 5 StR 445/53 – zu III 2 b der Gründe, BGHSt 5, 75). Erforderlich ist, dass Zuhörer in einer Anzahl Einlass finden, in der sie noch als Repräsentanten einer keiner besonderen Auswahl unterliegenden Öffentlichkeit angesehen werden können. Ein einziger Platz für Zuhörer wäre zu wenig, weil dies zu einem faktischen Ausschluss der Öffentlichkeit führte
(vgl. BayObLG 30. November 1981 – 1 Ob OWi 331/81 – zu 2 der Gründe; OLG Köln 8. September 1983 – 3 Ss 63/83 (185) -; Anders/Gehle/Becker ZPO 80. Aufl. § 169 GVG Rn. 6; Wieczorek/Schütze/Schreiber 4. Aufl. § 169 GVG Rn. 15).

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3. Nach diesem Maßstab ist das Berufungsurteil aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergangen, bei der die Vorschriften über die Öffentlichkeit des Verfahrens verletzt wurden. Es hatten keine beliebigen Zuhörer – auch nicht in sehr begrenzter Zahl – Zutritt zu der Verhandlung. Im Verhandlungsraum war nicht einmal für einen Zuhörer Platz.

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a) Ausweislich des Beschlusses des Landesarbeitsgerichts vom 30. November 2021, mit dem der Protokollberichtigungsantrag der Beklagten zu 1. und der Beklagten zu 2. beschieden wurde, war im Sitzungssaal im Hinblick auf die Coronavirus-Pandemie aufgrund der zur Verfügung stehenden Fläche nach den Vorgaben der Gerichtsverwaltung, die mit der Gesundheitsbehörde abgesprochen worden waren, die Anzahl der anwesenden Personen auf drei Richter und sieben weitere Personen begrenzt.

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b) Diese zur Verfügung stehenden Plätze sind vollständig von den Verfahrensbeteiligten genutzt worden und standen für weitere Zuhörer nicht mehr zur Verfügung. Nach dem Protokoll der Sitzung vom 31. Mai 2021, auf die das Berufungsurteil ergangen ist, waren der Vorsitzende Richter, zwei ehrenamtliche Richter, die Klägerin mit ihrem Rechtsanwalt, die beiden Rechtsanwälte der beiden Beklagten, der Geschäftsführer der Beklagten zu 2. sowie der dem Rechtsstreit auf Seiten der Klägerin beigetretene Streitverkündete mit seinem Rechtsanwalt anwesend.

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c) Der Feststellung des gerügten absoluten Revisionsgrundes steht das Protokoll des Landesarbeitsgerichts vom 31. Mai 2021, das mit „Öffentliche Sitzung“ überschrieben ist, nicht entgegen. Auf den Protokollberichtigungsantrag der Beschwerdeführerinnen ist der Beschluss des Landesarbeitsgerichts vom 30. November 2021 ergangen. In diesem sind die Tatsachen festgestellt, aus denen sich nunmehr ungeachtet der Überschrift des Protokolls die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes ergibt
(vgl. BAG 22. September 2016 – 6 AZN 376/16 – Rn. 16).

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II. Der Beschwerdeführerinnen haben nicht auf die Rüge des absoluten Revisionsgrundes des § 547 Nr. 5 ZPO verzichtet, weil sie die Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes nicht bereits in der mündlichen Verhandlung vom 31. Mai 2021 gerügt, sondern sich auf die mündliche Verhandlung eingelassen und Sachanträge gestellt haben.

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1. Ausgehend vom Zweck des Öffentlichkeitsgrundsatzes kann auf dessen Einhaltung im arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht verzichtet werden, § 295 Abs. 2 ZPO
(BAG 22. September 2016 – 6 AZN 376/16 – Rn. 18; vgl. für das zivilgerichtliche Verfahren: BGH 24. November 1993 – BLw 37/93 – zu II 3 der Gründe, BGHZ 124, 204; Kissel/Mayer GVG 10. Aufl. § 169 Rn. 58; MüKoZPO/Pabst 6. Aufl. § 169 GVG Rn. 21 ff.; Zöller/Lückemann ZPO 34. Aufl. § 169 GVG Rn. 15; Anders/Gehle/Bünnigmann ZPO 80. Aufl. § 295 Rn. 38; MüKoZPO/Prütting 6. Aufl. § 295 Rn. 16; Stein/Jonas/Jacobs ZPO 23. Aufl. § 169 GVG Rn. 12; Wieczorek/Schütze/Assmann 4. Aufl. § 295 ZPO Rn. 25; für eine zu Unrecht erfolgte Zulassung der Öffentlichkeit in einem Verfahren nach dem FamFG vgl. BGH 23. März 2021 – XIII ZB 29/19 – Rn. 11; offengelassen von BGH 24. November 2020 – XI ZR 355/19 – Rn. 14; aA Musielak/Voit/Huber ZPO 18. Aufl. § 295 Rn. 4; Zöller/Greger ZPO § 295 Rn. 5). Der Grundsatz der öffentlichen mündlichen Verhandlung und Beweisaufnahme soll eine der öffentlichen Kontrolle entzogene Geheimjustiz verhindern. Vor allem dient die Gerichtsöffentlichkeit jedoch der Kontrolle der Justiz durch die Möglichkeit der Allgemeinheit, die Verhandlung zu beobachten. Sachfremde, „das Licht der Öffentlichkeit scheuende“ Umstände sollen keinen Einfluss auf das Gericht und dessen Urteil gewinnen können. Die sachfremde Beeinflussung des Gerichts soll verhindert werden. Letztlich dient das Gebot der Öffentlichkeit durch seine Kontrollfunktion damit auch der Verfahrensfairness
(BVerfG 15. Januar 2015 – 2 BvR 878/14 – Rn. 22 ff.; 19. März 2013 – 2 BvR 2628/10 ua. – Rn. 88 f., BVerfGE 133, 168; BAG 22. September 2016 – 6 AZN 376/16 – Rn. 10) und steht nicht im Belieben der Parteien.

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2. Soweit der Bundesfinanzhof für das finanzgerichtliche Verfahren
(seit BFH 24. August 1990 – X R 45-46/90 – BFHE 161, 427; zuletzt 25. November 2019 – IX B 71/19 – Rn. 4), das Bundessozialgericht für das sozialgerichtliche Verfahren
(vgl. BSG 17. Oktober 2018 – B 9 V 20/18 B – Rn. 14; 28. März 2000 – B 8 KN 7/99 R – zu (1) der Gründe) und das Bundesverwaltungsgericht für das verwaltungsgerichtliche Verfahren
(vgl. BVerwG 30. November 2004 – 10 B 64/04 -; 4. November 1977 – IV C 71.77 -) eine abweichende Auffassung vertreten, bezieht sich dies auf die dortigen Verfahrensordnungen, insbesondere auf ein dort abgeschwächtes Prinzip der Öffentlichkeit
(vgl. BAG 22. September 2016 – 6 AZN 376/16 – Rn. 18).

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3. Aus der Möglichkeit, auf die Parteiöffentlichkeit bei der Inaugenscheinnahme
(BGH 22. März 2012 – I ZR 192/10 – Rn. 10) sowie gemäß § 128 Abs. 2 ZPO auf die mündliche Verhandlung zu verzichten, folgt nichts anderes. Die Durchführung des schriftlichen Verfahrens führt zwar als Rechtsreflex dazu, dass die Öffentlichkeit nicht teilnimmt
(Stein/Jonas/Jacobs ZPO 23. Aufl. § 169 GVG Rn. 12; allgemein zum Verhältnis der Möglichkeit des Verzichts auf die mündliche Verhandlung zur Garantie der Öffentlichkeit Stein/Jonas/Kern ZPO § 128 Rn. 6 ff.). Das gilt aber nur dann, wenn ein schriftliches Verfahren tatsächlich angeordnet ist. Wird dagegen wie vorliegend mündlich verhandelt, hat die Öffentlichkeit Anspruch auf Zugang zu diesem Verfahren. In dieser Situation ist der Grundsatz der Öffentlichkeit der Parteidisposition entzogen.

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III. Dem Erfolg der Beschwerde steht nicht entgegen, dass sie die Entscheidungserheblichkeit der Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes nicht aufgezeigt hat und die Tatsachenwürdigung des Landesarbeitsgerichts in einem zugelassenen Revisionsverfahren nur beschränkt überprüfbar wäre. Das Gesetz stellt mit der Einordnung einer Verletzung der Vorschrift über die Öffentlichkeit als absoluten Revisionsgrund eine unwiderlegbare Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Verletzung auf
(vgl. BAG 22. September 2016 – 6 AZN 376/16 – Rn. 20; MüKoZPO/Pabst 6. Aufl. § 169 GVG Rn. 81; Zöller/Heßler ZPO 34. Aufl. § 547 Rn. 1).

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IV. Angesichts des Vorliegens eines absoluten Revisionsgrundes bedurfte es keiner Befassung mit den von den Beklagten außerdem geltend gemachten Verstößen gegen ihren Anspruch auf rechtliches Gehör durch das Landesarbeitsgericht.

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V. Zur Beschleunigung des Verfahrens hat der Senat den Rechtsstreit analog § 72a Abs. 7 ArbGG
(vgl. BAG 5. Juni 2014 – 6 AZN 267/14 – Rn. 35 ff., BAGE 148, 206) an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Einer Zurückverweisung an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts wegen einer von den Beklagten behaupteten Voreingenommenheit der Vierten Kammer bedurfte es nicht. Die Bewertung auf Seite 57 des Berufungsurteils, dass „der Sachvortrag der Beklagten in hohem Maße widersprüchlich“ sei, veranlasst nicht die Annahme der Voreingenommenheit. Soweit die Beklagten meinen, das Landesarbeitsgericht werfe ihnen auf Seite 40 des Tatbestands des Berufungsurteils Polemik vor, verkennen sie, dass es sich hierbei um eine Wiedergabe des Vortrags der Klägerin handelt.

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