Beschluss des BVerwG 4. Senat vom 08.12.2021, AZ 4 BN 19/21

BVerwG 4. Senat, Beschluss vom 08.12.2021, AZ 4 BN 19/21, ECLI:DE:BVerwG:2021:081221B4BN19.21.0

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, 3. März 2021, Az: 8 C 11363/20, Urteil

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 3. März 2021 ergangenen Urteil des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 15 000 € festgesetzt.

Gründe

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Die auf § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde hat keinen Erfolg. Sie ist jedenfalls unbegründet.

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Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung, die ihr die Beschwerde beimisst. Grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrunde liegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), also näher ausgeführt werden, dass und inwieweit eine bestimmte Rechtsfrage des revisiblen Rechts im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig und warum ihre Klärung in dem beabsichtigten Revisionsverfahren zu erwarten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 2. Oktober 1961 – 8 B 78.61 – BVerwGE 13, 90 <91> und vom 14. Oktober 2019 – 4 B 27.19 – Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 225 Rn. 4). Daran fehlt es.

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Die von der Beschwerde formulierten Fragen lassen sich dahingehend zusammenfassen, dass sie rechtsgrundsätzlich geklärt wissen will,

ob bei der Abwägung nach § 2 Abs. 3, § 1 Abs. 7 BauGB den Belangen behinderter Menschen (§ 1 Abs. 6 Nr. 3 BauGB) nach Maßgabe von Art. 3 Buchst. c und Art. 9 UN-Behindertenrechtskonvention und/oder des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) abstrakt oder im konkreten Einzelfall zwingend ein höheres Gewicht zukommt als anderen Belangen, insbesondere als dem Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG.

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Diese Frage führt nicht zur Zulassung der Revision. Soweit sie sich in verallgemeinerungsfähiger Form beantworten lässt, besteht kein Klärungsbedarf.

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In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist geklärt, dass die in § 1 Abs. 6 BauGB genannten Belange weder abschließend sind noch in ihrer Zusammenstellung einen Vorrang in sich oder gegenüber privaten Belangen enthalten. Aus diesem Grund lässt sich ein auch nur relativer Vorrang des einen benannten Belangs gegenüber einem anderen nicht abstrakt festlegen. Gesetzlich bestimmt ist weder, welche der in § 1 Abs. 6 BauGB aufgeführten oder sonstigen Belange bei der Planung zu berücksichtigen sind, noch mit welchem Gewicht sie bei der Abwägung zu Buche schlagen. Zu berücksichtigende Belange und deren Gewicht bestimmen sich vielmehr nach den Besonderheiten der konkreten Planungssituation. Deren Feststellung und Bewertung obliegt weitgehend der tatrichterlichen Beurteilung durch das Normenkontrollgericht (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. November 1974 – 4 C 38.71 – BVerwGE 47, 144 <148>; Beschluss vom 5. Oktober 2015 – 4 BN 31.15 – ZfBR 2016, 157 Rn. 4 m.w.N.).

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Es bedarf nicht der Klärung durch ein Revisionsverfahren, dass dies auch für die Belange behinderter Menschen (§ 1 Abs. 6 Nr. 3 BauGB) gilt. Weder aus dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 13. Dezember 2006 (UN-Behindertenrechtskonvention – BRK -) noch aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG – der außer einem Benachteiligungsverbot auch einen Förderauftrag enthält (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 30. Januar 2020 – 2 BvR 1005/18 – NJW 2020, 1284 Rn. 35) – folgt ein abstrakt höherer Rang der Belange behinderter Menschen vor den anderen in § 1 Abs. 6 BauGB genannten Belangen.

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Die UN-Behindertenrechtskonvention wurde durch Gesetz vom 21. Dezember 2008 ratifiziert (BGBl. II S. 1419); sie gilt mit dem Rang einfachen Bundesrechts und ist als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte heranzuziehen (BVerfG, Beschluss vom 23. März 2011 – 2 BvR 882/09 – BVerfGE 128, 282 <306> und Kammerbeschluss vom 30. Januar 2020 – 2 BvR 1005/18 – NJW 2020, 1282 Rn. 40). Sie verfolgt das Ziel der vollen und wirksamen Teilhabe behinderter Menschen an der Gesellschaft und ihre Einbeziehung in diese (vgl. Art. 3 Buchst. c BRK <„inclusion“>). In den Handlungsfeldern „Bauen und Wohnen“ haben sich die Vertragsstaaten verpflichtet, wirksame und geeignete Maßnahmen zur Verwirklichung dieses Ziels zu treffen. Welche Maßnahmen dies im Einzelnen sein müssen, legen die Art. 9 und Art. 19 UN-Behindertenrechtskonvention jedoch nicht fest, sondern überlassen die Umsetzung den Vertragsstaaten, denen insoweit ein Spielraum zukommt. Für die Abwägung im Rahmen der Bauleitplanung gemäß § 2 Abs. 3, § 1 Abs. 7 BauGB enthält die UN-Behindertenrechtskonvention daher keine konkrete Vorgabe; sie gibt auch kein Optimierungsgebot vor (vgl. Lohse, VerwArch 2016, 446 <455>; Fuerst, in: Deinert/Welti, Behindertenrecht, 1. Aufl. 2014, 107 Öffentliches Baurecht Rn. 2; allgemein zu den Belangen des § 1 Abs. 6 Nr. 3 BauGB: Söfker, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand Mai 2021, § 1 Rn. 127).

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Gleiches gilt für die mehrpolige Abwägung grundrechtlich durch Art. 3 Abs. 3 Satz 2, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 14 Abs. 1 GG geschützter Belange. Das Abwägungsgebot erlaubt aus verfassungsrechtlicher Perspektive einen besonders flexiblen und dem Einzelfall gerecht werdenden Interessenausgleich unter maßgeblicher Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (BVerfG, Beschluss vom 30. November 1988 – 1 BvR 1301/84 – BVerfGE 79, 174 <198>). Die Grundrechte geben dabei keine konkreten Maßstäbe für ihre Gewichtung vor. Sie stehen nicht in einem abstrakten Rangverhältnis zueinander, sondern sind gleichrangig (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 18. November 2020 – 2 BvR 477/17 – DVBl 2021, 1156 Rn. 28. Auch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG – auf den der Antragsteller sich beruf – lässt es daher zu, im Rahmen der Bauleitplanung konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. November 1988 – 1 BvR 1301/84 – BVerfGE 79, 174, <202> m.w.N.).

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Die Frage, ob die rechtliche Würdigung der Abwägungsentscheidung der Antragsgegnerin durch das Oberverwaltungsgericht dem konkreten Gewicht der Belange behinderter Menschen den Anforderungen gerecht wird, die an die gerichtliche Abwägungskontrolle zu stellen sind, ist einer rechtsgrundsätzlichen Prüfung nicht zugänglich (vgl. BVerwG, Beschluss vom 5. Oktober 2015 – 4 BN 1.15 – ZfBR 2016, 157 Rn. 5).

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des Streitwerts auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.