Haftung der Gemeinde bei Einvernehmensersetzung durch Kommunalaufsichtsbehörden (Urteil des BGH 3. Zivilsenat)

BGH 3. Zivilsenat, Urteil vom 21.10.2021, AZ III ZR 166/20, ECLI:DE:BGH:2021:211021UIIIZR166.20.0

§ 839 Abs 1 S 1 BGB, Art 34 S 1 GG, § 36 Abs 2 S 3 BauGB, § 1 Abs 2 NBehZustÜV SH

Leitsatz

Haftung der Gemeinde bei Einvernehmensersetzung durch Kommunalaufsichtsbehörden

Die Ersetzungsbefugnis in § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB bewirkt auch dann die Entlastung der Gemeinde von der Verantwortung und Haftung für die Versagung des gemeindlichen Einvernehmens, wenn – wie in Schleswig-Holstein (§ 1 Abs. 2 NBehZustÜV) – nicht die Genehmigungsbehörden selbst, sondern die Kommunalaufsichtsbehörden als zuständige Ersetzungsbehörden im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB bestimmt sind (Fortführung von Senat, Urteil vom 16. September 2010 – III ZR 29/10, BGHZ 187, 51).

Verfahrensgang

vorgehend Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, 25. Juni 2020, Az: 11 U 41/19, Urteil
vorgehend LG Kiel, 7. März 2019, Az: 13 O 228/18

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 11. Zivilsenats des Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgerichts vom 25. Juni 2020 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Revisionsrechtszugs zu tragen.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass ihr die Beklagte wegen Versagung des gemeindlichen Einvernehmens zur Errichtung einer Windkraftanlage zum Schadensersatz verpflichtet ist.

2

Die Klägerin plante die Errichtung eines Windparks mit fünf auf dem Gebiet der beklagten Gemeinde gelegenen Windenergieanlagen, darunter die Anlage „WEA 1“, die knapp 150 m hoch und in einem Abstand von etwa 700 m zur nächsten Siedlung in einem raumordnungsrechtlichen Eignungsgebiet für die Windenergienutzung im Außenbereich nach § 35 BauGB errichtet werden sollte.

3

Nach Abschnitt 3.1 des für den Zeitraum des Streitfalls geltenden gemeinsamen Runderlasses von Staatskanzlei und drei Ministerien des Landes Schleswig-Holstein über „Grundsätze zur Planung von und zur Anwendung der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung bei Windkraftanlagen“ vom 26. November 2012 (im Folgenden: Runderlass) sollte „bei Neuausweisung von Eignungsgebieten oder der Erweiterung bestehender Gebiete“ von einem Mindestabstand der Anlage von 800 m zur nächsten Siedlung auszugehen sein; im Übrigen sollte nach Abschnitt 2.2 „in Genehmigungsverfahren“ in der Regel ein Abstand vom Dreifachen der Anlagengesamthöhe zu bewohnten Gebäuden nicht unterschritten werden.

4

Am 17. Juli 2014 beantragte die Klägerin beim zuständigen Landesamt für Landschaft, Umwelt und ländliche Räume (im Folgenden: LLUR) die immissionsschutzrechtliche Genehmigung für die Anlage, worauf dieses mit Schreiben vom 1. Oktober 2014 die Beklagte um Erteilung ihres gemeindlichen Einvernehmens nach § 36 BauGB bis zum 5. Dezember 2014 bat. Die Beklagte verweigerte ihr Einvernehmen mit Schreiben vom 23. Oktober 2014 mit der Begründung, die geplante Anlage halte den Mindestabstand von 800 m gemäß Abschnitt 3.1. des Runderlasses nicht ein.

5

Der daraufhin vom LLUR eingeschaltete Landrat des Kreises Rendsburg-Eckernförde ersetzte mit Bescheid vom 21. April 2015 unter Anordnung des Sofortvollzugs das Einvernehmen der Beklagten mit dem Hinweis darauf, dass die geplante Anlage den Mindestabstand nach Abschnitt 2.2 des Runderlasses wahre und Abschnitt 3.1 insoweit allenfalls eine Empfehlung für die Ausweisung neuer Eignungsflächen enthalte.

6

Hiergegen erhob die Beklagte Widerspruch und beantragte vorläufigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz. Außerdem ordnete ihr Bürgermeister am 30. April 2015 per Eilentscheidung für das Gebiet des vorgesehenen Anlagenstandorts eine Änderung des Flächennutzungsplans, die Aufstellung eines Bebauungsplans und eine Veränderungssperre an.

7

Mit Wirkung vom 5. Juni 2015 wurde § 18a in das Gesetz über die Landesplanung (Landesplanungsgesetz – LaPlaG) eingefügt. Absatz 1 Satz 1 dieser Vorschrift gab der Landesplanungsbehörde auf, unverzüglich Verfahren zur Neuaufstellung oder Fortschreibung von Raumordnungsplänen einzuleiten, um Vorgaben zur Steuerung der Errichtung von raumbedeutsamen Windkraftanlagen zu entwickeln. Zur Sicherung dieser überörtlichen Planung erklärte § 18a Abs. 1 Satz 2 LaPlaG raumbedeutsame Windkraftanlagen im gesamten Landesgebiet für vorläufig unzulässig, zuletzt bis zum 31. Dezember 2020.

8

Unter Verweis auf dieses landesweite Moratorium lehnte das LLUR mit Bescheid vom 14. Oktober 2015 den Antrag der Klägerin auf Erteilung der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung ab. Hiergegen erhob die Klägerin nach erfolglosem Widerspruch Verpflichtungsklage zum Verwaltungsgericht, über die noch nicht entschieden ist.

9

Die Klägerin macht geltend, sie hätte – ebenso wie für die vier anderen, mittlerweile in Betrieb gegangenen Windkraftanlagen – auch für die Anlage „WEA 1“ im vereinfachten Verfahren binnen drei Monaten nach Antragstellung, also bis zum 17. Oktober 2014 und damit noch vor Inkrafttreten des Moratoriums, die Genehmigung nach § 4 BImSchG erhalten, wenn die beklagte Gemeinde ihr Einvernehmen nicht amtspflichtwidrig versagt hätte. Sie begehrt die Feststellung, dass die Beklagte ihr zum Ersatz sämtlicher daraus entstandener und künftig noch entstehender Schäden verpflichtet ist.

10

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt sie ihr Klagebegehren weiter.

Entscheidungsgründe

11

Die zulässige Revision ist unbegründet.

I.

12

Das Berufungsgericht hat ausgeführt, dass die Versagung des gemeindlichen Einvernehmens aus den Gründen des Ersetzungsbescheids zwar rechtswidrig gewesen sein dürfte. Auch spreche insbesondere der Umstand, dass die Klägerin die gleichzeitig beantragten Genehmigungen für die anderen Windkraftanlagen rechtzeitig erhalten und diese errichtet habe, dafür, dass sie die immissionsschutzrechtliche Genehmigung für die Anlage „WEA 1“ ebenfalls rechtzeitig vor Inkrafttreten des Moratoriums erhalten hätte, wenn die beklagte Gemeinde ihr Einvernehmen innerhalb der vom LLUR gesetzten Frist bis zum 5. Dezember 2014 erteilt hätte. Jedoch bestehe kein Anspruch aus § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB, da der Beklagten die insoweit möglicherweise verletzte Amtspflicht nicht gegenüber der Klägerin oblegen habe. Dies folge aus dem die damals maßgebliche Rechtslage in Bayern betreffenden Urteil des Bundesgerichtshofs vom 16. September 2010 (III ZR 29/10, BGHZ 187, 51), wonach das gemeindliche Einvernehmen, weil es von der Genehmigungsbehörde ersetzt werden könne, nur als „Verwaltungsinternum“ anzusehen sei. An seiner bereits mit Urteil vom 10. September 2015 (11 U 19/14, BeckRS 2016, 797) geäußerten Rechtsauffassung, dass dies auch für das schleswig-holsteinische Landesrecht gelte, nach dem nicht die Genehmigungsbehörde, sondern die Kommunalaufsicht für die Ersetzung zuständig sei, halte er, der Berufungssenat, fest. Allerdings sei die Revision zur höchstrichterlichen Klärung der grundsätzlich bedeutsamen Frage zuzulassen, ob die Entscheidung vom 16. September 2010 nur für diejenigen Bundesländer gelte, in denen die Genehmigungsbehörde selbst das gemeindliche Einvernehmen ersetzen könne. Auf die Frage, ob die beklagte Gemeinde durch das (mit Inkrafttreten des Moratoriums erledigte) gerichtliche Vorgehen gegen den Ersetzungsbescheid oder die Anordnung der danach wieder aufgehobenen Veränderungssperre Amtspflichten gegenüber der Klägerin verletzt habe, komme es nicht an, weil dieser dadurch kein erkennbarer Schaden entstanden sei und es dabei um selbständige Pflichtverletzungen gehe, die der – nur auf die Versagung des Einvernehmens bezogene – Feststellungsantrag nicht umfasse.

II.

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1. Der Klägerin steht der geltend gemachte Anspruch auf Schadensersatz nach § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB in Verbindung mit Art. 34 Satz 1 GG nicht zu, da sie keine gegenüber der Beklagten bestehende Amtspflicht verletzt hat.

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a) Das Berufungsgericht hat – dem Landgericht insoweit folgend – den Gebrauch von Rechtsmitteln gegen die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens und die anschließenden planerischen Aktivitäten des Bürgermeisters der Beklagten zur Verhinderung des Vorhabens als (mögliche) selbständige, vom Feststellungsantrag der Klägerin nicht umfasste und daher schon nicht streitgegenständlich gewordene Amtspflichtverletzungen angesehen. Dies ist mit der Revisionsbegründung nicht angegriffen worden und ist im Übrigen auch nicht zu beanstanden (vgl. dazu Senat, Urteil vom 16. September 2010, aaO Rn. 16; Staudinger/Wöstmann, BGB [2020], § 839 Rn. 607; zur Zulässigkeit dem Bauvorhaben entgegenstehender gemeindlicher Planungsmaßnahmen vor Bestandskraft der Ersetzungsentscheidung vgl. Lasotta, BayVBl 1998, 609 f und 612; Schoch, NVwZ 2012, 777, 782).

15

b) Die danach allein entscheidungserhebliche, den Gegenstand der Revisionszulassung bildende Annahme des Berufungsgerichts, dass es jedenfalls an der Drittgerichtetheit der möglicherweise verletzten Amtspflicht der beklagten Gemeinde zur Erteilung des Einvernehmens fehlt, hält der rechtlichen Nachprüfung stand.

16

aa) Nach § 36 Abs. 1 Satz 1 BauGB wird über die Zulässigkeit eines Vorhabens nach den §§ 31, 33 bis 35 BauGB im bauaufsichtlichen Verfahren von der Baugenehmigungsbehörde im Einvernehmen mit der Gemeinde entschieden. Gemäß § 36 Abs. 1 Satz 2 erster Halbsatz BauGB ist das gemeindliche Einvernehmen auch erforderlich, wenn in einem anderen Verfahren über die Zulässigkeit nach den in Satz 1 bezeichneten Vorschriften entschieden wird. Dies war hier der Fall, da die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit der Windkraftanlage nach § 35 BauGB zu den Voraussetzungen für die Erteilung der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung gehörte (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 2 BImSchG) und deshalb vom LLUR als zuständiger Genehmigungsbehörde (mit-)geprüft werden musste.

17

bb) Nach dem seit 1. Januar 1998 geltenden § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB kann die nach Landesrecht zuständige Behörde ein rechtswidrig versagtes Einvernehmen der Gemeinde ersetzen. Damit wird eine eigenständige bundesgesetzliche Ersetzungsbefugnis im Baurecht normiert, die in den meisten Ländern durch Vorschriften ergänzt wird, die zumindest die für die Ersetzung zuständige Landesbehörde bestimmen (vgl. Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, § 36 Rn. 40 [Stand Oktober 2016]; Hofmeister in Spannowsky/Uechtritz, BauGB, 3. Aufl., § 36 Rn. 33 f; Horn, NVwZ 2002, 406, 410 ff). In Schleswig-Holstein ist eine solche Zuständigkeitsbestimmung in § 1 Abs. 2 der Landesverordnung zur Übertragung von Zuständigkeiten auf nachgeordnete Behörden (NBehZustÜV) in der Fassung vom 27. Mai 2013 getroffen worden. Danach sind zuständige Behörden nach § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB die Kommunalaufsichtsbehörden, wobei diese Aufgabe von den Landräten als allgemeine untere Landesbehörden wahrgenommen wird (§ 1 Abs. 3 NBehZustÜV). Die Ersetzungsbefugnis nach § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB ist von der im Grundsatz ebenfalls bestehenden Möglichkeit einer Ersetzung des Einvernehmens im Wege der Kommunalaufsicht nach den Vorschriften der §§ 120 ff, insbesondere § 125 der Gemeindeordnung für Schleswig-Holstein (Gemeindeordnung – GO) durch die gemäß § 121 Abs. 1 GO als Kommunalaufsichtsbehörden für die kleineren Gemeinden zuständigen Landräte zu unterscheiden (vgl. Söfker aaO; Hofmeister aaO Rn. 29; Horn aaO S. 409).

18

cc) Das Einvernehmen nach § 36 Abs. 1 BauGB dient der Wahrung der Planungshoheit der Gemeinde und damit öffentlichen Zwecken (zB Senat, Urteil vom 29. September 1975 – III ZR 40/73, BGHZ 65, 182, 184 f). Es stellt sich im Genehmigungsverfahren nicht als Verwaltungsakt, sondern nur als verwaltungsinterne Mitwirkung dar (vgl. Senat, Urteile vom 17. September 1970 – III ZR 4/69, VwRspr 1971, 187, 189 f und vom 29. September 1975, aaO S. 185; jeweils mwN). Deshalb entfaltet nicht schon die Erteilung oder Versagung des Einvernehmens, sondern erst die das Genehmigungsverfahren abschließende Entscheidung rechtliche Außenwirkung gegenüber dem Bauwilligen. Allerdings war die Genehmigungsbehörde vor Inkrafttreten des § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB – sofern nicht die Kommunalaufsicht einschritt – an die Versagung des gemeindlichen Einvernehmens gebunden und dadurch gehindert, die beantragte Genehmigung zu erteilen (siehe nur Senat, Urteile vom 29. September 1975, aaO S. 186 und vom 21. Mai 1992 – III ZR 14/91, BGHZ 118, 263, 265 jew. mwN; BeckOGK/Dörr, BGB, § 839 Rn. 341 [Stand 1. August 2021]). Damit stellte sich die unberechtigte Versagung des verwaltungsinternen Einvernehmens, durch das die Gemeinde ein planungsrechtlich zulässiges Bauvorhaben vereitelte oder verzögerte, notwendig und bestimmungsgemäß als – mittelbarer – Eingriff in die Rechtsstellung des Bauwilligen dar. Dies genügte, um eine besondere Beziehung zwischen der dadurch verletzten Amtspflicht der Gemeinde und dem Bauwilligen als geschütztem Dritten im Sinne des § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB zu bejahen. Dessen Interessen waren durch die Amtspflicht, das Einvernehmen zu einem bauplanungsrechtlich zulässigen Vorhaben nicht zu verweigern, in individualisierter und qualifizierter Weise geschützt (zB Senat, Urteile vom 29. September 1975, aaO S. 184 ff; vom 26. April 1979 – III ZR 100/77, NJW 1980, 387, 388 f; vom 21. Mai 1992, aaO S. 265 f; vom 13. Oktober 2005 – III ZR 234/04, NVwZ 2006, 117; vom 16. September 2010, aaO Rn. 11 und vom 25. Oktober 2012 – III ZR 29/12, NVwZ 2013, 167 Rn. 16).

19

dd) Mit der Einführung der Ersetzungsbefugnis nach § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB ist der maßgebliche Grund für die Annahme einer haftungsbegründenden drittgerichteten Amtspflicht der Gemeinde – die (negative) Bindungswirkung der Versagung des verwaltungsinternen Einvernehmens und damit deren ausschlaggebende Bedeutung im Genehmigungsverfahren – entfallen. Dies hat der Senat bereits für die Fallgestaltungen entschieden, in denen nach dieser Vorschrift in Verbindung mit einer landesrechtlichen Zuständigkeitsbestimmung – wie Art. 74 Abs. 1 Bayerische Bauordnung in der bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Fassung – die (Bau-)Genehmigungsbehörde selbst das rechtswidrig versagte, aber erforderliche Einvernehmen ersetzen kann. Damit ist die Behörde nicht mehr gezwungen, den Antrag auf Genehmigung eines an sich genehmigungsfähigen Bauvorhabens „sehenden Auges“ allein wegen des von der Gemeinde zu Unrecht verweigerten Einvernehmens abzulehnen. Vielmehr hat sich ihre diesbezügliche Prüfungs- und Entscheidungskompetenz erweitert. Sie beschränkt sich nicht mehr – wie vor der Einfügung des § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB – auf die Frage, ob ein erforderliches Einvernehmen als zwingende Voraussetzung für die Genehmigungserteilung vorliegt, sondern umfasst auch, ob dessen Versagung durch die Gemeinde, gemessen an den insoweit allein maßgeblichen bauplanungsrechtlichen Vorschriften (hier § 35 BauGB), rechtswidrig gewesen und deshalb die Ersetzung vorzunehmen ist (vgl. Senat, Urteile vom 16. September 2010, aaO Rn. 13 und vom 25. Oktober 2012, aaO Rn. 17). Entscheidet also die Baugenehmigungsbehörde selbst über die Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens, ist dem Grundsatz entsprochen, dass ihre haftungsrechtliche Verantwortlichkeit dann begründet ist, wenn sie in eigener Verantwortung über die Baugenehmigung zu befinden hat und ihre Prüfungskompetenz nicht hinter derjenigen der Gemeinde zurückbleibt. Dabei ist es grundsätzlich ohne Bedeutung, ob der Bauwillige einen eigenständigen Ersetzungsanspruch hat oder nach der Vorstellung des Landesgesetzgebers die Ersetzungsbefugnis materiell eine kommunalaufsichtliche Regelung sein soll (vgl. Senat, Urteil vom 16. September 2010, aaO Rn. 20 f).

20

ee) Die Ersetzungsbefugnis in § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB bewirkt auch dann die Entlastung der Gemeinde von der Verantwortung und Haftung für die Versagung des gemeindlichen Einvernehmens, wenn – wie in Schleswig-Holstein (§ 1 Abs. 2 NBehZustÜV) – nicht die Genehmigungsbehörden selbst, sondern die Kommunalaufsichtsbehörden als zuständige Ersetzungsbehörden im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB bestimmt sind.

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(1) Wie bereits ausgeführt, ist die Ersetzungsbefugnis nach § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB von der Möglichkeit der Einvernehmensersetzung im zweistufigen kommunalaufsichtlichen Verfahren mittels einer Ersatzvornahme (§ 125 GO) nach vorheriger Anordnung (§ 124 GO) abzugrenzen, die als Opportunitätsentscheidung der Kommunalaufsichtsbehörde allein die Gesetzmäßigkeit der gemeindlichen Verwaltung in einer weisungsfreien Angelegenheit sicherstellen soll (Wolf in Dehn/Wolf, GO Schl.-Holst., 16. Aufl., § 120 Anm. 4). Sie dient damit nur dem Interesse des allgemeinen Wohls, ohne eine drittschützende besondere Beziehung zwischen Aufsichtsbehörde und Bauwilligem zu vermitteln (Senat, Urteil vom 16. September 2010, aaO Rn. 21) und muss erst bestandskräftig werden, um die Sperrwirkung der gemeindlichen Verweigerung für das Genehmigungsverfahren zu überwinden (vgl. Horn, aaO S. 413).

22

Demgegenüber enthält die bundesgesetzliche Ersetzungsnorm des § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB eine spezielle bauplanungsrechtliche Regelung mit entsprechenden Befugnissen der Fachbehörde und daran anknüpfenden Haftungsfolgen. Ihre Schutzrichtung zielt auf den Bauwilligen, dessen im bauaufsichtsrechtlichen Verfahren zu wahrende Grundrechtspositionen auch auf die – unmittelbar „entsperrende“ – Ersetzung des Einvernehmens einwirken. Diese gehört ebenso wie die Entscheidung der Gemeinde über die Erteilung oder Versagung des Einvernehmens zur Sachentscheidung über die Erteilung der Bau- oder Anlagengenehmigung und ist dementsprechend in das Genehmigungsverfahren eingebettet. An dieser durch den nach Art. 72 Abs. 1, Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG zuständigen Bundesgesetzgeber vorgegebenen und den Vorrang des Bundesrechts (Art. 31 GG) abgesicherten Schutzrichtung (vgl. dazu Horn, aaO S. 411 f und 416) ändert sich auch dann nichts, wenn die Ersetzung nach § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB durch die landesrechtlichen Zuständigkeitsvorschriften in einen kommunalaufsichtlichen Kontext gerückt (vgl. Lasotta, aaO S. 615; Klinger, BayVBl 2002, 481, 484; vgl. auch Horn aaO S. 408 f) oder gar zu einem bloßen Mittel der Kommunalaufsicht umgestaltet wird (vgl. Senat, Urteil vom 16. September 2010, aaO Rn. 21 ff).

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(2) Danach spielt es keine Rolle, dass das schleswig-holsteinische Landesrecht nicht die Genehmigungs-, sondern die Kommunalaufsichtsbehörde als zuständige Behörde im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB bestimmt hat. Auch diese befindet – wie im Übrigen im Bescheid des Landrats vom 21. April 2015 (S. 3) ausdrücklich und zutreffend dargelegt ist – über die Ersetzung des Einvernehmens nicht in einem vom Genehmigungsverfahren gesonderten, zweistufigen Kommunalaufsichtsverfahren nach Ermessen, sondern in einem einstufigen Entscheidungsprozess nach Anhörung der Gemeinde (vgl. § 28 VwVfG, § 87 LVwG Schl.-Holst.) unmittelbar im Bau- oder Anlagengenehmigungsverfahren selbst, dessen integraler Bestandteil auch die Ersetzungsentscheidung nach § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB ist (vgl. Hofmeister, aaO Rn. 29 ff). Diese ist, wenn die Gemeinde ihr Einvernehmen tatsächlich rechtswidrig versagt hat und ein Genehmigungsanspruch nach Art. 14 Abs. 1 GG besteht, im Hinblick auf ihre Ausrichtung auf den Schutz des Bauwilligen zu dessen Gunsten zu treffen (vgl. Senat, Urteil vom 16. September 2010, aaO Rn. 14 mwN; so auch VGH Kassel, KommJur 2011, 250 f). Dabei kann dahinstehen, ob insoweit die „Kann“-Vorschrift des § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB und die sie gegebenenfalls ergänzenden landesrechtlichen Bestimmungen als bloße Befugnisnormen auf der Rechtsfolgenseite schon kein Ermessen, sondern nur eine gebundene Entscheidung eröffnen, oder jedenfalls eine Ermessensreduzierung beziehungsweise -intendierung anzunehmen ist (vgl. Senat, Urteil vom 16. September 2010, aaO; ebenfalls für eine gebundene Entscheidung: zB OVG Koblenz, NVwZ-RR 2000, 85 f; Söfker, aaO Rn. 41; Klinger, aaO S. 483; Dolderer, BauR 2000, 491, 498; Horn, aaO S. 414; Dippel, NVwZ 2011, 769, 774; Groß, BauR 1999, 560, 570; Jeromin, BauR 2011, 456, 461; für eine Ermessensreduzierung auf null: zB Desens DÖV 2009, 197, 203 f; für ein nur auf die Belange des Bauwilligen intendiertes Ermessen: zB VGH Kassel, aaO, BayVGH, ZfBR 2006, 684, 685 f; Reidt in Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 14. Aufl., § 36 Rn. 16, wenn die betroffene Genehmigungsentscheidung ihrerseits gebunden ist).

24

Auch in Schleswig-Holstein kann und muss die Genehmigungsbehörde selbst prüfen, ob ein Vorhaben bauplanungsrechtlich zulässig und dementsprechend die Versagung des gemeindlichen Einvernehmens rechtswidrig gewesen ist, und gegebenenfalls dessen Ersetzung durch die nach § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB in Verbindung mit § 1 Abs. 2 NBehZustÜV zuständige Kommunalaufsichtsbehörde veranlassen, die ihrerseits nicht im regulären Kommunalaufsichtsverfahren, sondern nach dem spezialgesetzlich in § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB vorgesehenen einstufigen Verfahren über die Ersetzung zu befinden hat. Die erweiterte Prüfungskompetenz der Genehmigungsbehörde wird im Übrigen in Nummer 6.1. der seit 2010 ergangenen, der Erläuterung der geltenden Rechtslage dienenden Erlasse des schleswig-holsteinischen Innenministeriums betreffend „Organisatorische Maßnahmen zur Vereinfachung und Beschleunigung der bauaufsichtlichen Verfahren (Organisations- und Verfahrenserlass)“ vorausgesetzt. Denn danach kann das für die Erteilung immissionsschutzrechtlicher Genehmigungen zuständige LLUR sich für die Einholung des gemeindlichen Einvernehmens nach § 36 Abs. 1 BauGB und die Beurteilung der planungsrechtlichen Zulässigkeit der Amtshilfe der unteren Bauaufsichtsbehörden bedienen. Indem § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB auch in seiner Ausgestaltung durch das schleswig-holsteinische Landesrecht der Genehmigungsbehörde ermöglicht, die Sperrwirkung einer rechtswidrigen Versagungsentscheidung zu beseitigen, indem sie die Ersetzung des Einvernehmens durch die zuständige Kommunalaufsichtsbehörde in die Wege leitet, wird ihr im Verhältnis zur Gemeinde die Letztverantwortung – und eine damit korrespondierende Haftbarkeit – für die Erteilung der Genehmigung zugewiesen. Dadurch stellt sich die rechtswidrige Versagung auch in Schleswig-Holstein nicht mehr als Eingriff der Gemeinde in die Rechtsstellung des Bauwilligen und als haftungsbegründende Amtspflichtverletzung ihm gegenüber dar.

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(3) Damit entstehen keine nicht hinnehmbaren Haftungslücken.

26

Die Frage der Haftung der Gemeinde für Verzögerungsschäden wegen eines unterlassenen beziehungsweise verspätet erteilten erforderlichen Einvernehmens ist im Hinblick auf die gesetzliche Regelung des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB bedeutungslos. Denn danach gilt das Einvernehmen als erteilt, wenn es nicht binnen zwei Monaten nach Eingang des Ersuchens der Genehmigungsbehörde verweigert wird. Diese Einvernehmensfiktion soll es der Gemeinde unmöglich machen, das Genehmigungsverfahren durch Untätigkeit zu verschleppen. Da das fingierte Einvernehmen, das weder „widerrufen“ noch „zurückgenommen“ werden kann, in seinen Rechtsfolgen dem ausdrücklich erklärten gleichsteht, liegt mit dem Eintritt der Fiktion das Einvernehmen als verfahrensrechtliche Voraussetzung der Genehmigungserteilung vor (vgl. Söfker, aaO Rn. 37 und 38b) und ist eine nach Ablauf der (nicht verlängerbaren) Zwei-Monats-Frist ausgesprochene Versagung wirkungslos (vgl. BeckOGK/Dörr, aaO Rn. 341.2).

27

Hat die Gemeinde innerhalb der Frist ihr Einvernehmen ausdrücklich versagt, ist sie daran nicht gebunden, weshalb eine Einvernehmensersetzung erst nach Fristablauf vorgenommen werden kann (vgl. Söfker, aaO Rn. 41). Erfolgt diese dann nicht oder nicht mit der gebotenen Zügigkeit, liegt die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit dafür nicht mehr bei der Gemeinde, sondern trifft grundsätzlich den Rechtsträger der für die Ersetzung nach § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB zuständigen Behörde, in den meisten Ländern also die Genehmigungsbehörde. Dass in Schleswig-Holstein nicht diese, sondern die Kommunalaufsichtsbehörde für die Ersetzung zuständig ist, ist für die vorliegende Fallgestaltung ohne Bedeutung. Denn das Land Schleswig-Holstein haftet sowohl für das LLUR als auch für die als allgemeine untere Landesbehörde tätige Kommunalaufsichtsbehörde. Ob sich bei unterschiedlicher Rechtsträgerschaft von Genehmigungs- und Kommunalaufsichtsbehörde eine Haftungszuweisung daran orientieren muss, in wessen Verantwortungsbereich eine – von der Klägerin nicht geltend gemachte – verspätete beziehungsweise verzögerte Durchführung des Ersetzungsverfahrens liegt, bedarf daher keiner abschließenden Entscheidung. Dies gilt auch für den – hier nicht gegebenen – Fall, dass die Kommunalaufsichtsbehörde die von der Genehmigungsbehörde begehrte Ersetzung verweigert, weil sie deren zutreffende Einschätzung der Rechtswidrigkeit der Versagung nicht teilt (vgl. dazu Arndt/Bieber, Die Gemeinde SH 2012, 30, 34).

28

Soweit die Gemeinde mit einer rechtswidrigen Versagung ihres Einvernehmens das Genehmigungsverfahren stets um den Zeitraum verzögert, der bei zügigstem Vorgehen für die Ersetzung (nach vorheriger Anhörung) notwendig ist (vgl. dazu Tremml/Luber, UPR 2013, 81, 83), kann sich die Haftungsfrage allenfalls stellen, wenn diese Verzögerung von in der Regel wenigen Wochen tatsächlich zurechenbar einen Schaden verursacht hat. Es kann offenbleiben, ob bei einer solchen Sachlage die Versagung des erforderlichen gemeindlichen Einvernehmens ausnahmsweise mittelbare Eingriffswirkung in die Rechtsstellung des Bauwilligen entfaltet, weil diese durch die mögliche Ersetzung hinsichtlich der zwangsläufigen Verzögerung nicht effektiv geschützt werden kann (siehe BeckOGK/Dörr, aaO Rn. 345), oder ob der Antragsteller dieses sich aus der gesetzlichen Konzeption des § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB zwingend ergebende Risiko einer Verlängerung der Verfahrensdauer letztlich selbst tragen muss (vgl. hierzu Senat, Urteil vom 16. September 2010 – III ZR 29/10, BGHZ 187, 51 Rn. 16). Denn eine solche Fallgestaltung liegt nicht vor. Vielmehr ist der Zurechnungszusammenhang hier durch den Erlass des Ersetzungsbescheides vom 21. April 2015 unterbrochen worden. Danach hätte die Genehmigung noch rechtzeitig vor Inkrafttreten des Moratoriums erteilt werden können. Dass die Gemeinde dies verhindert hat, indem sie den Bescheid mit Rechtsmitteln angegriffen hat, ist nicht streitgegenständlich (vgl. oben a).

29

Die aus § 36 Abs. 2 Satz 3 BauGB folgende Haftungsverteilung ist im Übrigen für die Beurteilung von Schadensersatzansprüchen gegen die Gemeinde wegen anderer Amtspflichtverletzungen als der der rechtswidrigen Versagung eines objektiv erforderlichen Einvernehmens ohne Bedeutung. Verhindert etwa die Gemeinde (zunächst) die Genehmigungserteilung durch ein Verhalten, das die Genehmigungsbehörde als Verweigerung eines bloß irrtümlich von ihr für notwendig erachteten Einvernehmens werten muss, kommt auch eine deliktsrechtliche Gesamtschuldnerschaft zwischen Gemeinde und Genehmigungsbehörde in Betracht (vgl. Senat, Urteil vom 21. November 2002 – III ZR 278/01, NVwZ-RR 2003, 403).

30

2. Da sich nach alldem die Versagung des gemeindlichen Einvernehmens lediglich als behördeninterner Vorgang ohne Bindungswirkung für die Genehmigungsbehörde darstellt, steht der Klägerin auch kein Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff gegen die beklagte Gemeinde zu (vgl. Senat, Urteil vom 16. September 2010, aaO Rn. 23).

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