Urteil des BVerwG 1. Senat vom 24.06.2021, AZ 1 C 54/20

BVerwG 1. Senat, Urteil vom 24.06.2021, AZ 1 C 54/20, ECLI:DE:BVerwG:2021:240621U1C54.20.0

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen, 26. Mai 2020, Az: 1 LB 56/20, Urteil
vorgehend VG Bremen, 14. November 2019, Az: 5 K 1243/17

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 26. Mai 2020 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Tatbestand

1

Der Kläger, ein nach eigenen Angaben 1993 geborener, afghanischer Staatsangehöriger sunnitischen Glaubens tadschikischer Volkszugehörigkeit, und die Beklagte streiten um deren Verpflichtung, die Flüchtlingseigenschaft des Klägers festzustellen.

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Der Kläger stammt aus einem Dorf im Distrikt Jalriz in der Provinz (Maidan-)Wardak. Er reiste nach seinen Angaben im Oktober 2015 auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein. Zur Begründung seines im März 2016 gestellten Asylantrages berief er sich im Kern auf eine drohende Zwangsrekrutierung durch die Taliban.

3

Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 10. Mai 2017 ab, drohte dem Kläger unter Setzung einer Ausreisefrist die Abschiebung nach Afghanistan an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Der Kläger habe es unterlassen, vor den Drohungen der Taliban die staatlichen Organe, die schutzfähig und schutzbereit seien, um Schutz zu ersuchen, so dass Flüchtlingsschutz ausscheide; der in allen Teilen Afghanistans unterschiedlich stark ausgeprägte innerstaatliche bewaffnete Konflikt führe für den Kläger auch nicht zu einer solchen Gefährdung, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes erfüllt seien.

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Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verpflichtet, weil der Staat in der Herkunftsregion keinen wirksamen Schutz vor Zwangsrekrutierung durch die Taliban gewährleisten könne und von dem Kläger wegen der dort herrschenden Existenzbedingungen nicht erwartet werden könne, dass er sich in den für eine Neuansiedlung ernsthaft in Betracht kommenden Großstädten (Kabul, Herat und Masar-e Sharif) oder sonst in Afghanistan niederlasse. Zu gewährleisten sei eine ausreichende Lebensgrundlage, die über die von Art. 3 EMRK gestellten Anforderungen hinausgehe.

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Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Kern ausgeführt: Der Kläger habe ein individuelles Schicksal, das seine Vorverfolgung belege, hinreichend glaubhaft gemacht; der Senat sei davon überzeugt, dass der Kläger in dem Dorf, in dem er vor seiner Ausreise nach Deutschland gelebt habe, von den Taliban mit dem Tod bedroht worden sei und im Falle seiner Rückkehr erneut bedroht wäre, ohne dort Schutz durch den afghanischen Staat erlangen zu können, so dass er in nahem zeitlichen Zusammenhang mit seiner Ausreise aus Afghanistan politische Verfolgung im Sinne der §§ 3 und 3a AsylG erlitten habe. Er könne auch nicht auf internen Schutz in anderen Regionen Afghanistans verwiesen werden. Er werde zwar in Teilen seines Heimatlandes, insbesondere in den Großstädten Kabul, Herat und Masar-e Sharif, nicht verfolgt; dort drohe ihm auch sonst kein ernsthafter Schaden. Auch wenn der Kläger sicher und legal in diese Landesteile reisen und dort aufgenommen werden könne, könne von ihm unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass er sich in diesen Landesteilen niederlasse. In Abgrenzung zur Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Urteil vom 29. November 2019 – A 11 S 2376/19 -) seien in Bezug auf das wirtschaftliche Existenzminimum an den Zumutbarkeitsmaßstab bzw. das Zumutbarkeitsniveau im Vergleich zu den Abschiebungsverboten wegen schlechter, nicht durch einen verantwortlichen Akteur verursachter humanitärer Verhältnisse nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und § 60 Abs. 7 AufenthG höhere Anforderungen zu stellen. Auf der Grundlage dieses Maßstabes könne es dem Kläger nicht zugemutet werden, sich in Kabul, Herat oder Masar-e Sharif niederzulassen, weil nicht davon auszugehen sei, dass er dort über die Befriedigung seiner elementarsten Bedürfnisse hinaus (Maßstab des Art. 3 EMRK) gemäß den höheren Anforderungen des § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG sein Existenzminimum auf Dauer werde sichern können.

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Mit seiner Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 3e AsylG. Weder aus dem Wortlaut des Art. 8 Abs. 1 RL 2011/95/EU noch der Entstehungsgeschichte der Regelung folgten ausreichend tragfähige und überzeugende Gründe dafür, bei der wirtschaftlichen Existenzsicherung einen höheren Maßstab als jenen der Art. 3 EMRK/Art. 4 GRC anzulegen; auch sonst sei der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg zu folgen. Soweit das Berufungsgericht eine Vorverfolgung des Klägers angenommen habe, fehle es an tragfähigen Feststellungen zur Verknüpfung der (drohenden) Verfolgungshandlung mit einem Verfolgungsgrund; unter Verletzung von § 86 VwGO habe das Berufungsgericht nicht ermittelt, ob Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die Drohungen der Taliban und die Forderung, sich ihnen anzuschließen, an einen Verfolgungsgrund anknüpften.

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Der Kläger verteidigt das Berufungsurteil und hebt hervor, dass Voraussetzung des internen Schutzes nicht nur die Abwesenheit von Gefahren, sondern die Gewährleistung von bestimmten Rechten sei; eine „Privilegierung“ von subsidiär Schutzberechtigten und Flüchtlingen sei dem Gesetz nicht fremd. Auch der UNHCR fordere, dass am Ort des internen Schutzes ein „relativ normales Leben“ möglich sein müsse. Wäre das Existenzminimum am Ort des internen Schutzes am Maßstab des Art. 3 EMRK/Art. 4 GRC zu messen, liefe § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ins Leere. Die von der Beklagten erhobene Rüge sei mit Blick auf die vom Berufungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen bereits unzulässig und jedenfalls unbegründet.

8

Der Vertreter des Bundesinteresses bei dem Bundesverwaltungsgericht hat sich nicht an dem Verfahren beteiligt.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Revision der Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung an das Berufungsgericht begründet. Die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, eine Niederlassung am Ort des internen Schutzes sei nur dann als zumutbar abzuverlangen, wenn der Schutzsuchende dort über die Befriedigung seiner elementarsten Bedürfnisse hinaus (Maßstab des Art. 3 EMRK) gemäß den höheren Anforderungen des § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG sein Existenzminimum auf Dauer werde sichern können, steht mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO) nicht in Einklang (1.). Die vom Berufungsgericht getroffenen tatrichterlichen Feststellungen tragen weder die revisionsgerichtliche Feststellung, dass bei Zugrundelegung eines zutreffenden Maßstabes die Voraussetzungen des § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG an den untersuchten Orten des internen Schutzes positiv mit der erforderlichen Prognosegewissheit erfüllt seien, so dass die Klage hinsichtlich der Verpflichtung der Beklagten auf Feststellung der Flüchtlingseigenschaft als unbegründet abgewiesen werden könnte (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO) (2.1), noch die Bewertung, dass sich hinsichtlich der Beurteilung der Zumutbarkeit am Ort des internen Schutzes das Berufungsurteil als richtig erweist (§ 144 Abs. 4 VwGO) (2.2), so dass die Sache bereits aus diesem Grund zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen ist (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Bei dieser Sachlage ist über die Rüge der Beklagten, es fehle auch an tragfähigen Feststellungen zum Verfolgungsgrund, nicht zu entscheiden, weil auch sie allenfalls zur Zurückverweisung an das Berufungsgericht führen könnte (3.).

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Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des auf die Gewährung von Flüchtlingsschutz gerichteten Klagebegehrens ist das Asylgesetz (AsylG) in seiner aktuellen Fassung (derzeit: in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 <BGBl. I S. 1798>, zuletzt geändert durch das am 1. Januar 2021 in Kraft getretene Neunundfünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Persönlichkeitsschutzes bei Bildaufnahmen vom 9. Oktober 2020 <BGBl. I S. 2075>). Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz eintreten, sind im Revisionsverfahren zu berücksichtigen, wenn das Tatsachengericht – entschiede es anstelle des Revisionsgerichts – sie seinerseits zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 – 10 C 8.07 – BVerwGE 129, 251 Rn. 19). Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Tatsachengericht nach § 77 Abs. 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es seiner Entscheidung, wenn es diese nunmehr träfe, die aktuelle Fassung zugrunde legen, soweit nicht hiervon eine Abweichung aus Gründen des materiellen Rechts geboten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67 Rn. 12). Die maßgeblichen Bestimmungen haben sich seit der Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht nicht geändert.

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Wegen des maßgeblichen Zeitpunktes für die Beurteilung der Sachlage hat die Entwicklung der Verhältnisse im Herkunftsstaat seit Mai 2020 außer Betracht zu bleiben; für das Revisionsverfahren unerheblich ist mithin, dass in der obergerichtlichen Rechtsprechung teilweise angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie für Afghanistan auch im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK derzeit regelmäßig als erfüllt gesehen werden, und zwar auch dann, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen (VGH Mannheim, Urteil vom 17. Dezember 2020 – A 11 S 2042/20 [ECLI:DE:VGHBW:2020:1217.A11S2042.20.00] – juris; a.A. weiterhin VGH München, Urteil vom 26. Oktober 2020 – 13a B 20.31087 – juris; OVG Hamburg, Urteil vom 25. März 2021 – 1 Bf 388/19.A – juris; s.a. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 15. Dezember 2020 – 2 BvR 2187/20 – und vom 22. März 2021 – 2 BvR 353/21 -).

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1. Die Entscheidung, dass der Zuerkennung von Flüchtlingsschutz, für den das Berufungsgericht das Vorliegen der Voraussetzungen des Flüchtlingsschutzes (§§ 3 ff. AsylG) geprüft und bejaht hat, hier auch nicht entgegensteht, dass der Kläger auf internen Schutz (§ 3e Asyl) verwiesen werden kann, verstößt gegen Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Denn das Berufungsgericht hat für seine Bewertung der Informationen über die Verhältnisse in Afghanistan, nach denen dem Kläger ein Verweis auf den internen Schutz nicht zumutbar sei, einen Maßstab gewählt, der mit Bundesrecht nicht in vollem Umfang in Einklang steht.

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1.1 Nach § 3e Abs. 1 AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2) (dazu eingehend BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 – Rn. 13 ff.).

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Die Prüfung der Voraussetzungen der Nr. 1 folgt den Grundsätzen, welche der Gerichtshof der Europäischen Union für die Prüfung aufgestellt hat, ob eine begründete Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden besteht (EuGH, Urteil vom 2. März 2010 – C-175/08 u.a. [ECLI:EU:C:2010:105], Abdulla u.a. – Rn. 55 ff., 93; s.a. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2011 – 10 C 25.10 – BVerwGE 140, 22 Rn. 18 ff. und vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 – Rn. 15). Sicher und legal kann der Schutzsuchende an den Ort des internen Schutzes reisen, wenn es nutzbare Verkehrsverbindungen vom Ort eines eigenen Aufenthalts (Herkunftsregion; Ort des externen Schutzgesuches) zum Ort des internen Schutzes gibt, die ohne unverhältnismäßige Schwierigkeiten und auch zu Kosten, die aufzubringen dem Ausländer nicht unmöglich oder unzumutbar sind, genutzt werden können, und Transportmittel oder eine Reiseroute zur Verfügung stehen, bei deren Nutzung der Ausländer sich nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr aussetzen muss, dem Zugriff von verfolgungsmächtigen Akteuren ausgesetzt zu werden oder einen ernsthaften Schaden zu erleiden; „legal“ erreichbar ist ein solcher Ort, wenn er unter Nutzung legal nutzbarer Verkehrsverbindungen erreicht werden kann (BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 – Rn. 15 ff.), und „Aufnahme“ findet ein Ausländer dort, wenn er nach dessen legaler Erreichbarkeit nicht nur erstmaligen Zugang erhält, sondern dort legal seinen gewöhnlichen Aufenthalt begründen kann (BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 – Rn. 22 ff.).

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Die Niederlassung in einem sicheren Landesteil (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG) kann i.S.d. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG vernünftigerweise erwartet werden (Zumutbarkeit der Niederlassung), wenn bei umfassender wertender Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen persönlichen Verhältnisse am Ort des internen Schutzes nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit andere Gefahren oder Nachteile drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer für den internationalen Schutz relevanten Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen, und auch sonst keine unerträgliche Härte droht. Der Sicherung der wirtschaftlichen Existenz am Ort des internen Schutzes ist dabei eine hervorgehobene Bedeutung beizumessen. Das wirtschaftliche Existenzminimum muss am Ort des internen Schutzes nur auf einem Niveau gewährleistet sein, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt. Darüber hinausgehende Anforderungen sind keine notwendige Voraussetzung der Zumutbarkeit einer Niederlassung (BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 – Rn. 25 ff.).

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1.2 Mit diesen Grundsätzen steht das Berufungsurteil nicht vollständig im Einklang.

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a) Das Berufungsgericht hat allerdings seine Bewertung der von ihm herangezogenen Erkenntnismittel dahin, dass dem Kläger an den benannten Orten des internen Schutzes weder eine Gefahr („real risk“) vor (erneuter) Verfolgung durch die Taliban droht noch dort für ihn – ungeachtet der teils prekären Sicherheitslage – eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts besteht (UA S. 15 ff.), im Einklang mit den heranzuziehenden Grundsätzen getroffen. Gegen diese Feststellungen sind zulässige und begründete Rügen nicht vorgebracht, so dass sie für den Senat bindend sind (§ 137 Abs. 2 VwGO). Im Einklang mit dem Bundesrecht steht weiterhin die – den Senat ebenfalls bindende (§ 137 Abs. 2 VwGO) – Bewertung des Berufungsgerichts, dass die von ihm benannten Orte des internen Schutzes für den Kläger tatsächlich sicher und legal erreichbar sind und er dort auch Aufnahme finden kann (UA S. 18 f.).

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b) Mit Bundesrecht unvereinbar ist indes der Maßstab, den das Berufungsgericht seiner Bewertung (UA S. 19 ff.) zugrunde gelegt hat, es könne von dem Kläger vernünftigerweise nicht erwartet werden, sich in einer der genannten Städte niederzulassen (Zumutbarkeit der Niederlassung). Denn nicht im Einklang mit der Auslegung des Bundesrechts, die der Senat in seinem Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 – gefunden hat, steht die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, dass dem Ausländer durchgängig eine (eigene) Unterkunft zur Verfügung stehen muss, die existenziellen Grundbedürfnissen, insbesondere dem Schutz vor schlechter Witterung, genügt, mithin grundsätzlich nicht auf Dauer angelegte Unterkünfte – wie etwa die in Teehäusern – dem hohen Zumutbarkeitsmaßstab nicht genügten (UA S. 30), und dass der Ausländer über die Befriedigung seiner elementarsten Bedürfnisse hinaus (Maßstab des Art. 3 EMRK) gemäß den höheren Anforderungen des § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG sein Existenzminimum auf Dauer muss sichern können (UA S. 30). Das Berufungsgericht geht bei seiner Anwendung des § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG vielmehr davon aus, dass die Frage, ob vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sich ein Ausländer am Ort des internen Schutzes niederlässt, nicht mit dem Fehlen einer Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK gleichzusetzen sei.

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Der Senat hält an dem in seinem – den Beteiligten bekannten – Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 – gefundenen Prüfungsmaßstab, bei dem er u.a. das hier angegriffene Urteil berücksichtigt hat, auch nach neuerliche Sachprüfung und in Ansehung des ergänzenden Vorbringens des Klägers fest. Die Heranziehung eines mit Bundesrecht nicht vereinbaren Prüfungsmaßstabes für die Bewertung bewirkt, dass der nachfolgenden Aus- und Bewertung der herangezogenen Erkenntnismittel dahin, dass dem Kläger eine Inanspruchnahme internen Schutzes nicht zumutbar (gewesen) sei, die Grundlage entzogen ist.

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2. Das Bundesverwaltungsgericht kann mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen durch das Berufungsgericht nicht in der Sache selbst entscheiden, weil die hier enge Verknüpfung von Tatsachenfeststellungen und deren Bewertung im Rahmen einer Gesamtwürdigung notwendig eine dem Revisionsgericht grundsätzlich verwehrte tatrichterliche Wertung erfordert und auch sonst die Aufbereitung sowie Darstellung der Tatsachenfeststellung keine hinreichende tragfähige Feststellung erlauben, ob für den Kläger das wirtschaftliche Existenzminimum am Ort des internen Schutzes auf einem Niveau gewährleistet ist, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt.

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2.1 Der Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

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Das Berufungsgericht hat sowohl in Bezug auf die wirtschaftliche Existenzsicherung als auch die Unterkunftssicherung eine über die Wahrung der Anforderungen des Art. 3 EMRK hinausgehende Sicherung der Existenzgrundlagen durch den Kläger als nicht hinreichend gewährleistet gesehen. Allein aus der Heranziehung eines (mit Bundesrecht unvereinbaren) Prüfungsmaßstabes, der auf eine „ausreichende Lebensgrundlage“ abstellt, die – in wenngleich im Detail unklarem Umfang – über eine Sicherung des wirtschaftlichen Existenzminimums hinausgeht, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt, folgt nicht der Umkehrschluss, dass das Berufungsgericht eine Sicherung des Existenzminimums auf dem durch Art. 3 EMRK geforderten Niveau als gesichert gesehen hätte. Eine entsprechende Bewertung lässt sich dem Urteil weder ausdrücklich noch der Sache nach noch sonst mit der für eine Entscheidung nach § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO gebotenen Gewissheit entnehmen. Der Senat verkennt dabei nicht, dass die Zusammenstellung des Erkenntnismaterials (UA S. 24 ff.) auch Feststellungen enthält, an die eine entsprechende Bewertung anknüpfen könnte; solche Anknüpfungspunkte bestehen indes auch für die gegenteilige Bewertung.

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2.2. Aus den vorgenannten Gründen kann auch nicht festgestellt werden, dass sich die entscheidungstragende Bewertung des Berufungsgerichts, dem Kläger sei mangels hinreichender Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz die Inanspruchnahme internen Schutzes nicht zuzumuten, auch bei Heranziehung eines bundesrechtskonformen Maßstabes als richtig darstellt (§ 144 Abs. 4 VwGO).

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2.3 Der Rechtsstreit ist daher hinsichtlich des Hauptbegehrens des Klägers auf Feststellung seiner Flüchtlingseigenschaft zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO). Bei seiner neuerlichen Entscheidung auf der Grundlage eines bundesrechtskonformen Maßstabes wird das Berufungsgericht – auf der Grundlage genauer und aktueller Informationen zu den allgemeinen Verhältnissen in Afghanistan in dem nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt, bei der nicht zuletzt auch die sozioökonomischen Auswirkungen der COVID-19-Pandenie auf die Möglichkeiten von Rückkehrern, ihr Existenzminimum auf dem bundesrechtlich geforderten Niveau zu gewährleisten, und die möglichen Veränderungen der Sicherheitslage durch den Abzug von NATO-Truppen in den Blick zu nehmen sind – auch Gelegenheit haben, der von der Beklagten im Revisionsverfahren erhobenen Verfahrensrüge nachzugehen.

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3. Bei dieser Sachlage bedarf die von der Beklagten erhobenen Verfahrensrüge, mit der – erstmals im Revisionsverfahren – eine unzureichende Sachaufklärung in Bezug auf die Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund geltend gemacht wird, keiner Entscheidung; auch sie könnte allenfalls zu einer Zurückverweisung hinsichtlich des Hauptbegehrens des Klägers führen.

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4. Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.