BVerwG 1. Senat, Urteil vom 24.06.2021, AZ 1 C 27/20, ECLI:DE:BVerwG:2021:240621U1C27.20.0
Verfahrensgang
vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 16. März 2020, Az: A 11 S 2977/18, Urteil
vorgehend VG Karlsruhe, 8. Juni 2018, Az: A 2 K 5519/17
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 16. März 2020 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
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Der Kläger, ein nach eigenen Angaben 1997 geborener afghanischer Staatsangehöriger tadschikischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens, begehrt die Zuerkennung subsidiären Schutzes.
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Der Kläger stammt aus dem Distrikt Jalrez in der Provinz Wardek. Er floh im Oktober 2015 nach seinen Angaben vor Rekrutierungsbemühungen der Taliban und beantragte im Juni 2016 im Bundesgebiet Asyl.
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Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag mit Bescheid vom 12. April 2017 ab, drohte dem Kläger unter Setzung einer Ausreisefrist die Abschiebung nach Afghanistan an und befristete das gesetzliche Einreise und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
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Das Verwaltungsgericht hat die Klage in vollem Umfang abgewiesen (Urteil vom 8. Juni 2018), weil der Kläger in seiner Herkunftsprovinz keiner subsidiären Schutz erfordernden ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit ausgesetzt sei; die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots lägen ebenfalls nicht vor.
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Der Verwaltungsgerichtshof hat die von ihm hinsichtlich der Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes zugelassene Berufung des Klägers mit Urteil vom 16. März 2020 zurückgewiesen und zur Begründung – u.a. unter Bezugnahme auf sein Urteil vom 29. November 2019 – A 11 S 2376/19 – im Kern ausgeführt: Ob die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt seien, könne offenbleiben, weil in den drei größeren Städten Afghanistans (Kabul, Herat und Mazar-e Sharif) interner Schutz (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG) zur Verfügung stehe. Der Kläger sei in den genannten Städten frei von begründeter Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden; insbesondere sei dort nicht mit einem fortbestehenden Verfolgungsinteresse durch die Taliban zu rechnen. Diese drei Städte seien für den Kläger jedenfalls auf dem Luftweg sicher und legal zu erreichen; für den Zuzug bestünden keine rechtlichen oder administrativen Zuzugshindernisse. Von dem Kläger könne vernünftigerweise auch erwartet werden, dass er sich in einer der drei Städte niederlasse (Zumutbarkeit der Niederlassung). Die Feststellungen und Bewertungen des Senats in seinen Urteilen vom 29. November 2019 – A 11 2376/19 – und 29. Oktober 2019 – A 11 S 1203/19 – würden dabei durch die weiteren Erkenntnisquellen, die dem Senat zwischenzeitlich bekannt geworden seien, bestätigt; insbesondere hätten sich die Sicherheitslage in den drei Städten oder die sozioökonomischen Umstände dort nicht in relevanter Weise verändert. Auch Vereinbarungen, die zwischen einzelnen Konfliktbeteiligten im Hinblick auf ein Friedensabkommen geschlossen worden seien, sowie die politische Krise auf Ebene der Zentralregierung, die auf den umstrittenen Ausgang der Präsidentschaftswahl im September 2019 zurückzuführen sei, führten nicht zu einer relevanten Änderung der Bewertung. Gleiches gelte für die in der mündlichen Verhandlung aufgeworfene Frage, ob eine relevante Ausweitung der COVID-19-Infektionen auf die Bevölkerung von Afghanistan dazu führen könne, dass es dem Kläger nicht zuzumuten sei, sich in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif niederzulassen; dies gelte umso mehr, als im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung für das Bundesgebiet deutlich mehr Ansteckungs- und Verdachtsfälle verzeichnet gewesen seien als in Afghanistan. Die individuelle Situation des Klägers führe ebenfalls nicht dazu, dass für ihn die Niederlassung in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif unzumutbar wäre. Er verfüge über die Fähigkeiten, die erforderlich seien, um auf dem Arbeitsmarkt in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif bestehen zu können; aus den vom Kläger vorgetragenen körperlichen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen (u.a. Amputation des Zeigefingers der rechten Hand; psychische Beeinträchtigungen) folge nicht, dass die Leistungsfähigkeit des Klägers auf relevante Weise eingeschränkt wäre.
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Der Kläger rügt mit der Revision eine Verletzung des § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylG und macht geltend: An die Zumutbarkeit der Niederlassung seien über die Wahrung des Existenzminimums hinausgehende Anforderungen zu stellen. Das Berufungsgericht sei bei seiner Bewertung der allgemeinen Lebensverhältnisse mithin von einem bundesrechtswidrig zu strengen Maßstab ausgegangen und habe infolgedessen unzureichende tatsächliche Feststellungen zur Zumutbarkeit der Niederlassung getroffen. Es sei schon nicht deutlich, wie der Verwaltungsgerichtshof seine drei Kriterien – die Gewährleistungen des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC wahrendes Existenzminimum, keine anderweitige schwerwiegende Verletzung grundlegender Grund- und Menschenrechte, keine sonstige unerträgliche Härte – voneinander abgrenzen wolle. In Bezug auf die wirtschaftliche Existenzsicherung habe das Berufungsgericht die gegen seine Rechtsauffassung streitenden, auch im Ergebnis zutreffenden Argumente selbst benannt, auch wenn er diesen – rechtsfehlerhaft – nicht gefolgt sei.
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Überdies hätte sich dem Berufungsgericht auch ohne einen entsprechenden Beweisantrag weiterer Aufklärungsbedarf zur Frage der Folgen der COVID-19-Pandemie auf die Möglichkeit, die eigene Existenz zu sichern, aufdrängen müssen. Jedenfalls bei der auf einen längeren Zeitraum bezogenen positiven Prognose hinreichender Existenzsicherung hätte es angesichts der festgestellten „angespannten“ Lage nahegelegen, dass die COVID-19-bedingten Veränderungen Auswirkungen (nicht nur) auf die Wirtschaft, sondern auch auf die Gesamtbewertung hätten, denen auch ohne Beweisantrag durch weitere Aufklärung hätte nachgegangen werden müssen. Dies werde durch nachfolgende Veränderungen (u.a. kräftige Preissteigerungen, geringere Chancen für Tagelöhner) bestätigt.
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Die Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil.
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Der Vertreter des Bundesinteresses bei dem Bundesverwaltungsgericht hat sich nicht an dem Verfahren beteiligt.
Entscheidungsgründe
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Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg. Der Verwaltungsgerichtshof hat ohne Verstoß gegen Bundesrecht entschieden, dass von dem Kläger – in dem für die Berufungsentscheidung maßgeblichen Zeitpunkt (1.) – vernünftigerweise erwartet werden konnte, sich in einem der im Berufungsurteil bezeichneten Orte des internen Schutzes niederzulassen (2.). Insbesondere hat er für die Beurteilung der Anforderungen, welche für den internen Schutz an die Sicherung der wirtschaftlichen Existenz zu stellen sind, einen zutreffenden rechtlichen Maßstab angelegt (3.); die hierauf bezogene Verfahrensrüge des Klägers greift nicht durch (4.). Dem Kläger stehen nationale Abschiebungsverbote nicht zur Seite (5.). Die Revision hat auch im Übrigen keinen Erfolg (6.).
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1. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des auf die Gewährung subsidiären Schutzes gerichteten Klagebegehrens ist das Asylgesetz (AsylG) in seiner aktuellen Fassung (derzeit: in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 <BGBl. I S. 1798>, zuletzt geändert durch das am 1. Januar 2021 in Kraft getretene Neunundfünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Verbesserung des Persönlichkeitsschutzes bei Bildaufnahmen vom 9. Oktober 2020 <BGBl. I S. 2075>). Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz eintreten, sind im Revisionsverfahren zu berücksichtigen, wenn das Tatsachengericht – entschiede es anstelle des Revisionsgerichts – sie seinerseits zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 – 10 C 8.07 – BVerwGE 129, 251 Rn. 19). Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Tatsachengericht nach § 77 Abs. 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung abzustellen hat, müsste es seiner Entscheidung, wenn es diese nunmehr träfe, die aktuelle Fassung zugrunde legen, soweit nicht hiervon eine Abweichung aus Gründen des materiellen Rechts geboten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67 Rn. 12). Die maßgeblichen Bestimmungen haben sich seit der Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof nicht geändert.
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Wegen des maßgeblichen Zeitpunktes für die Beurteilung der Sachlage hat die Entwicklung der Verhältnisse im Herkunftsstaat seit März 2020 außer Betracht zu bleiben; für das Revisionsverfahren unerheblich ist mithin, dass das Berufungsgericht angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie seine Rechtsprechung modifiziert hat und auch im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK derzeit regelmäßig als erfüllt sieht, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen (VGH Mannheim, Urteil vom 17. Dezember 2020 – A 11 S 2042/20 [ECLI:DE:VGHBW:2020:1217.A11S2042.20.00] – juris; a.A. weiterhin VGH München, Urteil vom 26. Oktober 2020 – 13a B 20.31087 – juris; OVG Hamburg, Urteil vom 25. März 2021 – 1 Bf 388/19.A – juris; s.a. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 15. Dezember 2020 – 2 BvR 2187/20 – und vom 22. März 2021 – 2 BvR 353/21 -).
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2. Einer Zuerkennung subsidiären Schutzes für den Kläger, für den das Berufungsgericht das Vorliegen der Voraussetzungen des subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) an seinem Herkunftsort nicht abschließend geprüft, aber auch nicht verneint hat, steht entgegen, dass er – vorbehaltlich der gesondert zu behandelnden wirtschaftlichen Existenzbedingungen (3.) – nach § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG auf die Städte Kabul, Herat und Mazar-e Sharif als Orte des internen Schutzes verwiesen werden kann. Das Berufungsgericht ist auf der Grundlage eines mit Bundesrecht vereinbaren Maßstabes (s. dazu BVerwG, Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 – Rn. 13 ff. <das den Beteiligten zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung übermittelt worden ist>) verfahrensfehlerfrei zu der Bewertung gelangt, dass der Kläger in diesen Landesteilen keine begründete Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden hat (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG), er sicher und legal in diese Landesteile reisen kann und er dort aufgenommen wird. Dagegen sind von den Beteiligten Sach- oder Verfahrensrügen auch nicht vorgetragen worden.
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3. Das Berufungsgericht ist des Weiteren im Einklang mit Bundesrecht verfahrensfehlerfrei (4.) zu der Bewertung gelangt, dass von dem Kläger vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in einer der genannten Städte niederzulassen (Zumutbarkeit der Niederlassung).
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3.1 Die Niederlassung in einem sicheren Landesteil (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG) kann i.S.d. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG vernünftigerweise erwartet werden (Zumutbarkeit der Niederlassung), wenn bei umfassender wertender Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen persönlichen Verhältnisse am Ort des internen Schutzes (§ 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG) nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit andere Gefahren oder Nachteile drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer für den internationalen Schutz relevanten Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen, und auch sonst keine unerträgliche Härte droht. Der Sicherung der wirtschaftlichen Existenz am Ort des internen Schutzes ist dabei eine hervorgehobene Bedeutung beizumessen. Der Senat hat zu den wirtschaftlichen Voraussetzungen, die insbesondere in den Blick zu nehmen sind, in seinem Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 – (juris Rn. 26 ff., 33 ff.), das den Beteiligten bekannt ist, dargelegt, dass und aus welchen Gründen das wirtschaftliche Existenzminimum am Ort des internen Schutzes nur auf einem Niveau gewährleistet sein muss, das eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht besorgen lässt; darüber hinausgehende Anforderungen sind keine notwendige Voraussetzung der Zumutbarkeit einer Niederlassung. Hieran hält der Senat auch in Ansehung des ergänzenden Vorbringens des Klägers nach neuerlicher Sachprüfung fest.
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3.2 Das Berufungsgericht hat auf der Grundlage seines – ohne Bundesrechtsverstoß bestimmten – Maßstabes rechtsfehlerfrei dahin erkannt, dass der Kläger durch die wirtschaftlichen Lebensverhältnisse am Ort des internen Schutzes nicht der Gefahr ausgesetzt sein wird, dass seine Rechte aus Art. 3 EMRK verletzt werden, und es ihm deshalb auch insoweit zumutbar ist, sich dort niederzulassen. In Anwendung dieser Grundsätze hat es unter eingehender Auswertung und Würdigung hinreichend genauer und aktueller Informationen und in hinreichender Auseinandersetzung auch mit entgegenstehenden Bewertungen im Rahmen seiner tatrichterlichen Würdigung des Tatsachenmaterials die Prognose getroffen, dass der Kläger seinen existenziellen Lebensunterhalt werde sichern können.
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3.3 Der Senat hält aus den in seinem Urteil vom 18. Februar 2021 – 1 C 4.20 – Rn. 60 ff.) genannten Gründen daran fest, dass jedenfalls für die vorliegende Fallkonstellation keine Gründe vorliegen, den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV anzurufen. Auf den Einwand des Klägers (Schriftsatz vom 2. Juni 2021), er habe an seinem Herkunftsort in gesicherten materiellen Verhältnissen gelebt, sodass seine individuellen Lebensverhältnisse gerade nicht von großer Armut geprägt gewesen seien, kommt es weder für die Zumutbarkeit des internen Schutzes noch für den Maßstab an, ob am Ort des internen Schutzes ein für die allgemeinen Verhältnisse im Herkunftsland „(relativ) normales Leben“ zu führen sei. Die Ausführungen zur Begründung des Antrages, die näher bezeichneten Fragen dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Klärung vorzulegen, würdigen die auch vom Senat ausgewerteten Dokumente sowie Judikate von Gerichten anderer Mitgliedstaaten im Ergebnis anders als der Senat und enthalten keine Erwägungen, die der Senat nicht bereits – der Sache nach – berücksichtigt und beschieden hat.
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4. Der namentlich in Bezug auf die Prognose der wirtschaftlichen Existenzsicherung vom Kläger mit der Aufklärungsrüge geltend gemachte Verfahrensmangel liegt nicht vor. Das Berufungsgericht ist zu seiner Bewertung verfahrensfehlerfrei gelangt.
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4.1 Ein Tatsachengericht verletzt seine Pflicht zur erschöpfenden Sachverhaltsaufklärung, wenn sich ihm auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung eine weitere Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen hätte aufdrängen müssen (BVerwG, Beschluss vom 18. Februar 2015 – 1 B 2.15 – juris Rn. 2). Eine sachgerechte Handhabung dieses Grundsatzes hat zwar unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung und der Prozessökonomie zu erfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. April 2002 – 9 CN 1.01 – BVerwGE 116, 188 <197>). Dies enthebt die Tatsachengerichte aber nicht von der Verpflichtung, hinreichend konkret dargelegten Einwänden eines Beteiligten nachzugehen und den Sachverhalt – gegebenenfalls auch unter Mitwirkung der Beteiligten – weiter aufzuklären, sofern dies für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. August 1983 – 8 C 76.80 – Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 147 S. 10 f.).
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4.2 Dem Berufungsgericht musste sich in dem insoweit maßgeblichen Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung (10. März 2020), aber auch nicht im Entscheidungszeitpunkt (16. März 2020) mit Blick auf die Verbreitung des COVID-19-Virus eine weitere Sachaufklärung – etwa durch Einholung von Auskünften sachkundiger Stellen sowie von Gutachten – unter dem Aspekt aufdrängen, ob diese eine möglicherweise entscheidungserhebliche Veränderung der für die Prognose der Existenzsicherung an den Orten des internen Schutzes entscheidungserheblichen Sachlage bewirkt habe oder im Prognosezeitraum bewirken könnte.
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a) Der Kläger selbst hat in der mündlichen Verhandlung einen entsprechenden Beweisantrag ausweislich der Sitzungsniederschrift, deren Unrichtigkeit nicht geltend gemacht ist, nicht gestellt. Der – anwaltlich vertretene – Kläger hat den von ihm geltend gemachten (vermeintlichen) Erkenntnisfortschritt nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung auch nicht zum Anlass für einen Antrag genommen, die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen. Beides schließt eine Verletzung der Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen erschöpfend aufzuklären, zwar nicht aus; das Berufungsgericht hätte insbesondere auch ohne einen solchen Antrag die Verhandlung wiedereröffnen können und – hätte sich eine aufklärungsbedürftige, entscheidungserhebliche Veränderung der Sachlage nach dem Schluss der mündlichen Verhandlung aufgedrängt – (wohl auch) wiedereröffnen müssen. Dass auch sein Prozessbevollmächtigter keinen Anlass zu entsprechenden Anträgen gesehen hat, legt zumindest nicht nahe, dass sich dem Gericht eine weitere Sachaufklärung hätte aufdrängen müssen.
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b) Weder im maßgeblichen Zeitpunkt noch im Entscheidungszeitpunkt musste sich dem Berufungsgericht eine weitere Sachverhaltsaufklärung zu den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die wirtschaftliche Situation von Rückkehrern oder Binnenflüchtlingen an den Orten des internen Schutzes aufdrängen.
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aa) Das Berufungsgericht hatte allerdings eine Prognose zu den Lebensverhältnissen zu treffen. Dass die bisherige, auf die vorliegende „tagesaktuelle“ Erkenntnislage gestützte Bewertung infolge der COVID-19-Pandemie einer neuerlichen Überprüfung durch weitere Sachaufklärung bedürftig geworden sein könnte, musste sich dem Berufungsgericht auch Mitte März 2020 nicht aufdrängen. Art, Umfang, Dynamik und Wirkungen des Pandemiegeschehens waren zu diesem Zeitpunkt nicht vorhersehbar und legten für Afghanistan auch nicht einen Verlauf nahe, dass sich eine entscheidungserhebliche Veränderung der entscheidungserheblichen Sachlage als prüfungsbedürftig aufgedrängt hätte; sie sind zu diesem Zeitpunkt selbst für die Bundesrepublik Deutschland (und in zahlreichen anderen Staaten), die nach den tatrichterlichen Feststellungen eine deutlich höhere Zahl von Ansteckungs- und Verdachtsfällen aufwies, erheblich unterschätzt worden.
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Für die Notwendigkeit weiterer Sachaufklärung nicht hinreichend ist die allgemeine Erwägung, dass bei einer volatilen Sicherheits- und Versorgungslage auch schon kleinere Veränderungen beachtlich sein/werden können. Denn diese Auswirkungen hängen neben dem Risiko, sich mit dem Virus zu infizieren oder gar in der Folge zu erkranken (dann ohne ein qualitativ hochwertiges, leistungsfähiges Gesundheitssystem), maßgeblich von den direkten oder durch Gegenmaßnahmen hervorgerufenen sozioökonomischen Wirkungen ab. Wie sich aus allgemein zugänglichen Quellen ergibt (https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_Afghanistan), stiegen in Afghanistan erst ab Mai 2020 die Fallzahlen signifikant (und exponentiell), auch wenn bereits zuvor Betriebs- und Schulschließungen („Lockdown“) sowie Reisebeschränkungen verfügt worden waren. Klare Anzeichen für eine aufklärungsbedürftige, möglicherweise nachhaltige Beeinträchtigung der sozioökonomischen Verhältnisse für Rückkehrer lagen aber bis zu diesem Zeitpunkt nicht vor.
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bb) Keine andere Beurteilung rechtfertigen die in der Revisionsbegründungsschrift benannten Erkenntnismittel und Informationsquellen, die durchweg erst aus der Zeit nach der Entscheidung stammen und verfügbar bzw. bekanntgeworden sind. Sie sind allenfalls geeignet, retrospektiv eine Fehleinschätzung des Berufungsgerichts zur Notwendigkeit einer weiteren Sachaufklärung als möglich erscheinen zu lassen; das „Aufdrängen“ ist indes prospektiv im Zeitpunkt der Entscheidung zu beurteilen. Schon deswegen bedarf es keiner Prüfung, ob sie in der Sache eine weitere Sachaufklärung hätten nahelegen können.
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5. Gründe dafür, dass dem Kläger hilfsweise ein im Berufungs- und Revisionsverfahren etwa zu beachtender (BVerwG, Urteil vom 8. September 2011 – 10 C 15.10 – juris Rn. 18 ff.; Beschluss vom 10. Oktober 2011 – 10 B 24.11 – juris), gegenüber dem dort begehrten subsidiären Schutz nachrangiger Anspruch auf nationalen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG zustehen könnte, sind im Revisionsverfahren nicht – auch nicht hilfsweise – geltend gemacht worden. Sie sind nach Vorstehendem jedenfalls mit Blick auf solche Abschiebungsverbote auszuschließen, die an die wirtschaftlichen Existenzbedingungen anknüpfen. Materielle Existenzbedingungen am Ort des internen Schutzes, welche die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausfüllen, schließen jedenfalls die Zumutbarkeit nach § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG aus.
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6. Die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots begegnen ebenfalls keinen revisionsrechtlich beachtlichen Bedenken.
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7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.