BVerwG 1. Senat, Urteil vom 25.05.2021, AZ 1 C 39/20, ECLI:DE:BVerwG:2021:250521U1C39.20.0
Verfahrensgang
vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, 25. Juni 2020, Az: 1 LB 9/20, Beschluss
vorgehend Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, 10. Dezember 2019, Az: 10 A 612/19, Urteil
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 25. Juni 2020 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Tatbestand
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Die Klägerin, eine eritreische Staatsangehörige, wendet sich gegen die Ablehnung ihres Asylantrags als unzulässig und die Androhung ihrer Abschiebung nach Italien.
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Die Klägerin wurde im Juli 2019 im Bundesgebiet geboren. Ihre Mutter hatte bereits in Italien ein Asylverfahren durchgeführt, infolgedessen ihr internationaler Schutz gewährt worden war. Diese reiste in der Folgezeit in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 8. August 2019 wurde dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) die Geburt der Klägerin angezeigt.
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Das Bundesamt erachtete aufgrund dessen einen Asylantrag für die Klägerin gemäß § 14a Abs. 2 Satz 3 AsylG als gestellt. Mit Bescheid vom 6. November 2019 lehnte es diesen Asylantrag gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), forderte die Klägerin auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. unanfechtbarem Abschluss eines etwaigen Klageverfahrens zu verlassen, und drohte für den Fall nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung nach Italien bzw. in einen anderen Staat an, in den sie einreisen darf oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist (Ziffer 3). Das Bundesamt befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Der Asylantrag sei nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG unzulässig, da nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) Italien für die Prüfung des Asylantrags zuständig sei. Es bedürfe nicht der Einleitung eines Zuständigkeitsverfahrens für das nachgeborene Kind, weil Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO über eine erweiternde Auslegung bzw. analog Anwendung finde. Hiernach sei die Situation des Kindes untrennbar mit der Situation seiner Eltern verbunden und die Zuständigkeit desjenigen Mitgliedstaats gegeben, der für die Prüfung des Asylantrags der Eltern zuständig sei.
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Mit Urteil vom 10. Dezember 2019 hob das Verwaltungsgericht den Bescheid des Bundesamts auf.
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Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Beklagten mit Beschluss vom 25. Juni 2020 zurückgewiesen. Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig sei rechtswidrig. Aus der Dublin III-VO folge nicht die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin als eines nachgeborenen, also in der Bundesrepublik Deutschland nach Abschluss des in einem anderen Mitgliedstaat der EU durchgeführten Asylverfahrens seiner Eltern geborenen Kindes. Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO begründe weder in direkter noch in erweiternder Auslegung bzw. analoger Anwendung eine Zuständigkeit Italiens. Im Übrigen wäre die Zuständigkeit selbst bei analoger Anwendung nach Art. 20 Abs. 1, Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO auf Deutschland übergegangen, weil die Beklagte es versäumt habe, binnen drei Monaten nach der Asylantragstellung der Klägerin ein Aufnahmegesuch an Italien zu richten.
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Die Beklagte macht mit ihrer Revision geltend, dass in analoger bzw. erweiternder Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO der Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags der Klägerin als zuständig anzusehen sei, der bereits ihrer Mutter internationalen Schutz zuerkannt habe. Die Anwendbarkeit des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO habe zur Folge, dass von der Beklagten kein neues Zuständigkeitsverfahren für das Kind eingeleitet werden müsse und folglich auch die Aufnahmegesuchfristen des (insoweit teleologisch reduzierten) Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO nicht anwendbar seien. Aber selbst wenn man dies – wie der Senat in seinem zwischenzeitlich ergangenen Urteil vom 23. Juni 2020 – BVerwG 1 C 37.19 – anders beurteile, unterscheide sich der Streitfall von dem dem genannten Urteil zugrunde liegenden Sachverhalt dadurch, dass das Bundesamt vorliegend den als zuständig bestimmten Mitgliedstaat Italien über die Geburt der Klägerin unter dem 23. September 2019 unterrichtet habe. Eine gegenteilige Feststellung der Vorinstanz sei ersichtlich aktenwidrig. Dies sei zwar nicht als Verfahrensfehler gerügt worden; da es sich bei den entsprechenden Erwägungen des Berufungsgerichts nur um ein obiter dictum gehandelt habe, habe hierzu aber auch keine Veranlassung bestanden. Da das Bundesamt erst mit Schreiben vom 7. August 2019 über die Geburt der Klägerin informiert worden sei, sei die Fristvorgabe des Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO mit der Geburtsanzeige jedenfalls gewahrt worden. Die italienische Seite habe sich im weiteren Verlauf auch nicht gegen ihre Aufnahmeverpflichtung ausgesprochen.
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Die Klägerin verteidigt den angegriffenen Beschluss.
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Der Vertreter des Bundesinteresses beteiligt sich am Verfahren und unterstützt die Rechtsauffassung der Beklagten.
Entscheidungsgründe
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Die Revision der Beklagten, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), hat keinen Erfolg. Die Voraussetzungen, unter denen ein Asylantrag wegen anderweitiger internationaler Zuständigkeit unzulässig ist, liegen nicht vor. Der Senat braucht auch im Streitfall nicht abschließend zu entscheiden, ob die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts zutrifft, dass im Falle eines Asylantrags eines im Bundesgebiet nachgeborenen Kindes von Drittstaatsangehörigen, denen bereits zuvor in einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden ist, Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO weder erweiternd ausgelegt noch analog angewendet werden kann und daher für die Prüfung des Asylantrags der Klägerin Deutschland als derjenige Mitgliedstaat zuständig ist, in dem die Klägerin ihren Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat (Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO). Im Einklang mit Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO) steht jedenfalls die das Urteil selbstständig tragende Annahme des Berufungsgerichts, dass das Fehlen eines fristgerechten Aufnahmegesuchs nach Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO die Rechtswidrigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG zur Folge hat, auf die sich die Klägerin auch berufen kann (1.). Zu Recht hat das Berufungsgericht auch die Aufhebung der Folgeentscheidungen über das Nichtbestehen von Abschiebungsverboten betreffend Italien, die Abschiebungsandrohung und die Befristung des (bei Bescheiderlass noch gesetzlich vorgesehenen) gesetzlichen Einreiseverbots bestätigt (2.).
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Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung des Klagebegehrens ist das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl. I S. 1798), zuletzt geändert durch den am 1. April 2021 in Kraft getretenen Art. 5 des Zweiten Datenaustauschverbesserungsgesetzes vom 4. August 2019 (BGBl. I S. 1131) – AsylG – sowie die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L. 180 S. 31 – Dublin III-VO).
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sind Rechtsänderungen, die nach der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts eintreten, im Revisionsverfahren zu berücksichtigen, wenn das Tatsachengericht – entschiede es anstelle des Revisionsgerichts – sie seinerseits zu berücksichtigen hätte (BVerwG, Urteil vom 11. September 2007 – 10 C 8.07 – BVerwGE 129, 251 Rn. 19). Da es sich vorliegend um eine asylrechtliche Streitigkeit handelt, bei der das Berufungsgericht nach § 77 Abs. 1 AsylG regelmäßig auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung abzustellen hat, müsste es seiner Entscheidung, wenn es diese nunmehr träfe, die aktuelle Rechtslage zugrunde legen, soweit nicht hiervon eine Abweichung aus Gründen des materiellen Rechts geboten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67 Rn. 12).
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1.1 Die Klage ist, soweit sie sich gegen die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des Bescheides des Bundesamts richtet, als Anfechtungsklage statthaft (BVerwG, Urteile vom 27. Oktober 2015 – 1 C 32.14 – BVerwGE 153, 162 Rn. 13 f. und vom 26. Februar 2019 – 1 C 30.17 – Buchholz 402.251 § 29 AsylG Nr. 6 Rn. 12) und auch im Übrigen zulässig.
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1.2 Die Klage ist insoweit auch begründet. Das Berufungsgericht ist im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, dass die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt.
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a) Die Voraussetzungen des als Rechtsgrundlage herangezogenen § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Das ist hier nicht der Fall; vielmehr ist die Bundesrepublik Deutschland für das Asylverfahren der Klägerin zuständig.
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aa) Mit Urteil vom 23. Juni 2020 – 1 C 37.19 – NVwZ 2021, 251 hat der Senat zu einer ähnlichen Fallgestaltung ausgeführt:
aa) Es bedarf keiner Entscheidung, ob sich die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland vorliegend schon daraus ergibt, dass es sich im Sinne der Auffangnorm des Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO um den ersten Mitgliedstaat handelt, in dem der Antrag des Kindes auf internationalen Schutz gestellt wurde. Dies würde voraussetzen, dass – wie vom Berufungsgericht angenommen – die in Art. 20 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 Dublin III-VO normierte verfahrensmäßige Anlehnung an die Zuständigkeit für das Verfahren der Eltern auf die vorliegende Fallkonstellation schon im Ansatz weder unmittelbar noch analog anzuwenden ist und dass sich auch anhand der dann in den Blick zu nehmenden primären Zuständigkeitskriterien nach Kapitel III der Dublin III-VO der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen lässt. Das Berufungsgericht (UA S. 10 ff.) hat insoweit zutreffend herausgearbeitet, dass zumindest eine unmittelbare Anwendung der in Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO geregelten Verfahrensakzessorietät auf die Klägerin ausscheidet. Danach ist für die Zwecke dieser Verordnung die Situation eines mit dem Antragsteller einreisenden Minderjährigen, der der Definition des Familienangehörigen entspricht, untrennbar mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden und fällt in die Zuständigkeit des Mitgliedstaats, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Familienangehörigen zuständig ist, auch wenn der Minderjährige selbst kein Antragsteller ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient (Satz 1). Ebenso wird bei Kindern verfahren, die nach der Ankunft des Antragstellers im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren werden, ohne dass ein neues Zuständigkeitsverfahren für diese eingeleitet werden muss (Satz 2). Die Klägerin ist zwar nach der Ankunft ihrer Eltern im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren; ihre Eltern sind aber keine Antragsteller (mehr), deren aktuell in Deutschland gestellte Asylanträge ein Dublin-Verfahren in Gang gesetzt haben, in das die Klägerin einbezogen werden könnte. Denn wie sich aus Art. 23 Abs. 1 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) Dublin III-VO ergibt, kann ein Mitgliedstaat einen anderen Mitgliedstaat im Rahmen der in dieser Verordnung festgelegten Verfahren nicht wirksam um Wiederaufnahme eines Drittstaatsangehörigen ersuchen, der im erstgenannten Mitgliedstaat einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, nachdem ihm durch den letztgenannten Mitgliedstaat internationaler Schutz gewährt wurde (vgl. EuGH, Beschluss vom 5. April 2017 – C-36/17 [ECLI:EU:C:2017:273], Ahmed – Rn. 41; siehe auch Art. 2 Buchst. c) und f) sowie Art. 20 Abs. 1 Dublin III-VO). Ob das unionsrechtliche Anliegen einer Vermeidung von Sekundärmigration und gegebenenfalls der in der Dublin III-VO zum Ausdruck kommende allgemeine Grundsatz der Familieneinheit (insbesondere Erwägungsgrund 16) eine analoge Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO auf nachgeborene Kinder von international Schutzberechtigten in Bezug auf die Zuständigkeitsbestimmung rechtfertigen können (so etwa VGH Mannheim, Beschluss vom 14. März 2018 – A 4 S 544/18 -; OVG Lüneburg, Beschluss vom 26. Februar 2019 – 10 LA 218/18 -; OVG Saarlouis, Beschluss vom 29. November 2019 – 2 A 283/19 -; VG Cottbus, Beschluss vom 11. Juli 2014 – 5 L 190/14.A -; VG Greifswald, Urteil vom 22. Mai 2017 – 4 A 1526/16 As HGW -; VG Lüneburg, Urteil vom 14. Februar 2018 – 4 A 491/17 – <vorbehaltlich des Kindeswohles>; VG Berlin, Beschluss vom 23. August 2018 – 23 K 367.18 A -; VG Schwerin, Urteil vom 30. April 2019 – 3 A 1851/18 SN -; VG Würzburg, Beschluss vom 18. September 2019 – W 10 S 19.50614 -; im Ergebnis s.a. OVG Bautzen, Beschluss vom 5. August 2019 – 5 A 593/19. A -; VG Saarlouis, Urteil vom 29. Juli 2019 – 3 K 678/18 -; a.A. etwa VG Lüneburg, Urteil vom 24. Mai 2016 – 5 A 194/14 -; VG Düsseldorf, Beschluss vom 2. Juni 2017 – 22 L 1290/17.A -; VG Hamburg, Urteil vom 20. März 2018 – 9 A 7382/16 -; VG Düsseldorf, Urteil vom 11. Juni 2018 – 28 K 1506/17.A -; VG Düsseldorf, Urteil vom 24. August 2018 – 12 K 16165/17.A -; VG Köln, Urteil vom 31. Juli 2018 – 14 K 4762/18.A – <analoge Anwendung von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU>; VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 11. September 2018 – RN 14 K 17.33302 -; VG Frankfurt (Oder), Urteil vom 3. März 2020 – 2 K 538/15.A -; wohl auch VG Karlsruhe, Urteil vom 22. Januar 2019 – A 13 K 1357/16 -; s.a. Broscheit. Die Unzulässigkeit von Asylanträgen der in Deutschland geborenen Kindern im EU-Ausland anerkannter Schutzberechtigter, InfAuslR 2018, 41), was schwerlich ohne eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) bejaht werden könnte, kann der Senat offenlassen.
bb) Eine etwaige Zuständigkeit Italiens wäre jedenfalls gemäß Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO dadurch auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen, dass die Beklagte Italien nicht innerhalb der in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 Dublin III-VO genannten Fristen ein Gesuch um Aufnahme der Klägerin unterbreitet hat. Diese selbstständig tragende Begründung des Berufungsurteils (UA S. 21 ff.) steht im Einklang mit Bundesrecht. Die Sonderregelung in Art. 20 Abs. 3 Satz 2 letzter Halbsatz Dublin III-VO, wonach es der Einleitung eines „neuen Zuständigkeitsverfahrens“ für das Kind nicht bedarf, macht ein solches Aufnahmegesuch hier auch dann nicht entbehrlich, wenn es im Grundsatz möglich wäre, die Zuständigkeit für das nachgeborene Kind weitergewanderter schutzberechtigter Eltern aus einer analogen Anwendung dieser Verfahrensvorschrift herzuleiten. Denn zumindest diese Sonderregelung ist auf die hier vorliegende Konstellation eines Kindes bereits schutzberechtigter Eltern nicht analog anwendbar (ebenso etwa Broscheit, InfAuslR 2018, 41 <44>).
Die analoge Anwendung einer Rechtsvorschrift setzt neben einer planwidrigen Lücke auch eine vergleichbare Interessenlage zwischen untersuchtem und geregeltem Fall voraus (vgl. Generalanwalt Cruz Villalón, Schlussanträge vom 29. April 2014 im Verfahren C-399/12, Rn. 103 m.w.N.). Für eine analoge Anwendung des in Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Halbs. 2 Dublin III-VO geregelten Absehens von einem neuen Zuständigkeitsverfahren für minderjährige Familienangehörige auch auf Asylanträge von Kindern, deren Eltern in einem anderen Mitgliedstaat bereits internationaler Schutz zuerkannt wurde, fehlt es indes an der Wertungsgleichheit bzw. Vergleichbarkeit von geregeltem und ungeregeltem Sachverhalt.
Bereits aus der systematischen Stellung der Verfahrensakzessorietät nach Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO als einleitende Vorschrift des Kapitels VI der Verordnung – Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren – ergibt sich, dass diese zunächst nur für noch nicht abgeschlossene Verfahren gilt. Art. 20 Dublin III-VO regelt in Abs. 1 die Einleitung des Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens und sieht in Abs. 3 für Minderjährige die Zuständigkeit des Mitgliedstaates vor, der (auch) für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz des Familienangehörigen zuständig ist. Solange ein Zuständigkeitsbestimmungsverfahren für den Schutzantrag der Eltern noch nicht abgeschlossen ist, unterfällt dieser dem Anwendungsbereich der Verordnung, der (erst) mit dem Abschluss des Verfahrens endet. In ein so laufendes Verfahren ist der Schutzantrag des Kindes einzubeziehen. Wird den Eltern dagegen internationaler Schutz durch einen Mitgliedstaat gewährt, können sie nach (illegaler) Sekundärmigration und einem erneuten Antrag in einem anderen Mitgliedstaat nicht mehr im Rahmen des Dublin-Regimes, sondern nur auf anderer Rechtsgrundlage (z.B. bilaterale Rückführungsabkommen) in den Schutz gewährenden Mitgliedstaat zurückgeführt werden.
Bedürfte es in dieser Situation nicht der Durchführung eines Zuständigkeitsverfahrens, wäre eine Überstellung im Rahmen des Dublin-Systems vorgesehen, ohne dass der Aufnahmemitgliedstaat Kenntnis von einer möglichen Aufnahmesituation – und sei es im Rahmen eines Aufnahmeverfahrens in Bezug auf die Eltern – erlangt hätte. Es entfiele der Schutz durch das Fristenregime des Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeverfahrens des Dublin-Systems. Das Kind könnte anders als jeder andere dem Dublin-Verfahren unterworfene Asylbewerber ohne die dort vorgesehenen zeitlichen Grenzen an den anderen Mitgliedstaat überstellt werden. Zudem entfiele die Stufung zwischen dem Aufnahme- bzw. Wiederaufnahmeverfahren (Kapitel VI Dublin III-VO) und der Überstellung (Kapitel VI Dublin III-VO), bei der auch zwischen den Mitgliedstaaten die internationale Zuständigkeit als bereits geklärt vorausgesetzt wird. Ohne ein Aufnahmeverfahren bestünde erst im Überstellungsverfahren Gelegenheit, für das nachgeborene Kind zu klären, ob der Mitgliedstaat, der den Eltern internationalen Schutz gewährt hat, seine Zuständigkeit für das Asylverfahren des Kindes analog Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO anerkennt und zu dessen Aufnahme bereit ist. Lehnt der ersuchte Mitgliedstaat die Aufnahme eines nachgeborenen Kindes ab, kann der ersuchende Mitgliedstaat das in Art. 37 Dublin III-VO geregelte Schlichtungsverfahren in Anspruch nehmen.
Der Verzicht auf die Durchführung des Aufnahmeverfahrens würde demgegenüber die Gefahr einer „refugee in orbit“-Situation begründen, in der sich kein Mitgliedstaat für die sachliche Prüfung des Asylantrags als zuständig ansieht. Dies liefe dem zentralen Anliegen des Dublin-Regimes zuwider, einen effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährleistung internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden (Erwägungsgrund 5 der Dublin III-VO; BVerwG, Urteile vom 9. August 2016 – 1 C 6.16 – BVerwGE 156, 9 Rn. 23 und vom 27. April 2016 – 1 C 24.15 – Buchholz 451.902 Europ. Ausländer- und Asylrecht Nr. 82 Rn. 20). Nach alledem sieht der Senat jedenfalls keinen Raum für eine analoge Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO, die sich auch auf den Verzicht auf ein gesondertes Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nach Satz 2 letzter Halbsatz dieser Vorschrift erstreckte. Auch eine Staatspraxis, dass dies in einem oder gar mehreren anderen Mitgliedstaaten so praktiziert werde, ist weder vorgetragen noch dem Senat ersichtlich. Der Senat sieht in Bezug auf die unionsrechtliche Notwendigkeit eines Aufnahmeverfahrens in der vorliegenden Fallkonstellation keinen Anlass zu Zweifeln und daher nach der „acte-clair“-Doktrin keine Veranlassung zu einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union.
cc) Nach den den Senat bindenden tatrichterlichen Feststellungen (§ 137 Abs. 2 VwGO) hat die Beklagte an Italien weder ein Aufnahmegesuch gerichtet noch Italien über die Geburt der Klägerin unterrichtet. Die in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 bzw. 2 Dublin III-VO vorgesehenen Fristen für das Aufnahmegesuch sind seit langem verstrichen. Das Berufungsgericht hat daher ohne Verletzung von Bundesrecht angenommen, dass die Bundesrepublik Deutschland selbst im Falle einer ursprünglichen Zuständigkeit Italiens jedenfalls nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO für die Prüfung des Asylantrags der Klägerin zuständig geworden wäre. Auf den Ablauf dieser Frist kann sich die Klägerin nach der Rechtsprechung des EuGH im Rahmen ihrer hier zur Entscheidung stehenden Klage gegen die Überstellungsentscheidung auch berufen (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 – C-670/16 [ECLI:EU:C:2017:587], Mengesteab – Rn. 41 ff., 62).
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bb) Diese Erwägungen gelten auch im vorliegenden Fall. Denn es fehlt jedenfalls an einem fristgerechten Aufnahmegesuch; eine bloße Geburtsmitteilung, die das Oberverwaltungsgericht allerdings aktenwidrig verneint hat (1), reicht nicht aus (2).
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(1) Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen auf seine grundlegende Entscheidung in dem dem Verfahren BVerwG 1 C 37.19 vorausgegangenen Berufungsverfahren Bezug genommen, die es umfänglich zitiert. Diese Bezugnahme umfasst insbesondere auch die ergänzend angeführte, indes selbstständig tragende Begründung, wonach der angefochtene Bescheid „auch dann rechtswidrig sein dürfte, wenn man Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO entsprechend anwenden würde.“ Damit ist auch die Feststellung von der Bezugnahme miterfasst, dass die Beklagte nach „Aktenlage … weder ein Aufnahmegesuch für die Klägerin gestellt noch Italien überhaupt über die Geburt der Klägerin unterrichtet“ habe. Das Berufungsgericht hat damit zum Ausdruck gebracht, dass es diese Tatsachen auch im Verfahren der Klägerin für zutreffend erachtet.
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In Ermangelung einer zulässigen und begründeten Verfahrensrüge der Beklagten ist der Senat an diese Feststellungen gemäß § 137 Abs. 2 VwGO gebunden, soweit sie nicht in offenkundigem Widerspruch zu den beigezogenen und vom Berufungsgericht zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Verwaltungsvorgängen stehen. Eine derartige Aktenwidrigkeit, die vom Revisionsgericht auch ohne Verfahrensrüge von Amts wegen berücksichtigt werden darf und dieses insbesondere nicht bindet (vgl. etwa BVerwG, Urteil vom 29. April 1988 – 9 C 54.87 – BVerwGE 79, 291, 297 f.), zeigt die Revision aber nur hinsichtlich des Fehlens einer Geburtsanzeige auf. Da sich aus dem Verwaltungsvorgang zweifelsfrei ergibt, dass die Beklagte mit E-Mail vom 23. September 2019 über das DubliNet der italienischen Dublin-Stelle die Geburt der Klägerin am 23. Juli 2019 in Lübeck angezeigt hat, ist die gegenteilige Feststellung des Berufungsgerichts insoweit aktenwidrig. Dies lässt die Bindung des Senats an diese Tatsachenfeststellung zwar entfallen. Die weitere Tatsachenfeststellung, dass die Beklagte kein Aufnahmegesuch für die Klägerin an Italien gestellt hat, bleibt davon jedoch unberührt. Insoweit ist für eine Aktenwidrigkeit nichts vorgetragen oder zweifelsfrei ersichtlich und ist der Senat mithin an die erfolgte Feststellung gemäß § 137 Abs. 2 VwGO gebunden.
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(2) Die Aktenwidrigkeit der Feststellung des Berufungsgerichts, die Beklagte habe Italien nicht über die Geburt der Klägerin unterrichtet, führt entgegen der Auffassung der Beklagten nicht dazu, dass die angegriffene Unzulässigkeitsentscheidung hier anders als im Verfahren 1 C 37.19 Bestand haben könnte. Denn die tatsächlich erfolgte Geburtsanzeige kann ein Aufnahmegesuch nach der Dublin III-Verordnung nicht ersetzen.
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Nach der Rechtsauffassung des Senats kommt eine analoge Anwendung von Art. 20 Abs. 3 Satz 1 und 2 Dublin III-VO auf nachgeborene Kinder hier anwesender Eltern, die in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießen, jedenfalls nicht in der Weise in Betracht, dass auch darauf verzichtet werden kann, ein gesondertes Zuständigkeitsbestimmungsverfahren für das Kind einzuleiten, d.h. für dieses innerhalb der in Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 Dublin III-VO genannten Fristen ein ausdrückliches Aufnahmegesuch an den für zuständig gehaltenen Mitgliedstaat zu stellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juni 2020 – 1 C 37.19 -, NVwZ 2021, 251 Rn. 16 ff.). Die bloße Ankündigung über das DubliNet, dass eine näher benannte Person in Deutschland ein Kind geboren hat, steht einem Aufnahmegesuch nicht gleich. Eine solche genügt lediglich im Rahmen der unmittelbaren Anwendung des Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Dublin III-VO, die hier indes ausscheidet, weil für die Mutter kein Dublin-Verfahren mehr anhängig ist, in das das Kind – gleichsam automatisch – einbezogen werden könnte. Wird der andere Mitgliedstaat – und sei es auch innerhalb der Frist des Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO – lediglich über die Geburt eines Kindes unterrichtet, ohne dass die Beklagte ausdrücklich ein Aufnahmegesuch nach dieser Vorschrift stellt, ist für jenen nicht unmissverständlich ersichtlich, dass seine Aufnahmeverpflichtung nicht ohnehin schon unmittelbar kraft Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO besteht, sondern allenfalls durch die Stattgabe des Aufnahmegesuchs oder eine fehlende Reaktion auf dieses innerhalb von zwei Monaten begründet wird (Art. 22 Abs. 1 und 7 Dublin III-VO). Nur durch ein ausdrückliches Aufnahmeersuchen im Sinne von Art. 21 Dublin III-VO wird dem anderen Mitgliedstaat deutlich vor Augen geführt, dass er (nach Auffassung des Bundesamts) hierauf reagieren muss und sich je nach seiner Reaktion die Rechtsfolgen des Art. 22 Dublin III-VO ergeben können.
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b) Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides kann auch nicht als Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG aufrechterhalten oder in eine solche Entscheidung umgedeutet werden. Dies scheitert jedenfalls daran, dass die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht vorliegen. Nach dieser Vorschrift, die Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU umsetzt, ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Dies ist bei der in Deutschland geborenen Klägerin, die im Bundesgebiet erstmals einen Asylantrag gestellt hat, nicht der Fall. Nach der zutreffenden Rechtsauffassung des Berufungsgerichts kann die Regelung auch nicht deshalb auf die Klägerin analog angewandt werden, weil ihre Mutter Begünstigte internationalen Schutzes ist. Auf die dortigen Ausführungen (BA S. 18 f.) wird Bezug genommen. Der EuGH hat im Übrigen mehrfach betont, dass Art. 33 Abs. 2 RL 2013/32/EU die Situationen, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können, abschließend aufzählt (vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 – C-297/17 [ECLI:EU:C:2019:219], Ibrahim u.a. – Rn. 76 und vom 19. März 2020 – C-564/18 [ECLI:EU:C:2020:218], Hivatal – Rn. 29 f.).
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2. Da sich die Unzulässigkeitsentscheidung nach dem oben Ausgeführten als rechtswidrig erweist, hat das Berufungsgericht zu Recht auch die Aufhebung der – damit ebenfalls rechtswidrigen – Folgeentscheidungen über das Nichtbestehen von Abschiebungsverboten in Bezug auf Italien, die Abschiebungsandrohung und die Befristung des gesetzlichen Einreiseverbots bestätigt. Die Aufhebung der Befristungsentscheidung rechtfertigt sich jedenfalls zur Beseitigung des möglichen Rechtsscheins eines Einreiseverbots.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.