BSG 14. Senat, Beschluss vom 19.05.2021, AZ B 14 AS 270/20 B, ECLI:DE:BSG:2021:190521BB14AS27020B0
§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 202 S 1 SGG, § 227 Abs 1 S 1 ZPO
Verfahrensgang
vorgehend Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, 13. Dezember 2018, Az: L 7 AS 408/14, Urteil
vorgehend SG Dresden, 7. Februar 2014, Az: S 23 AS 7235/10
Tenor
Den Klägern wird Wiedereinsetzung in die Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 13. Dezember 2018 gewährt.
Auf die Beschwerden der Kläger wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 13. Dezember 2018 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
1
Den Klägern ist Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren
(vgl § 67 SGG) wegen der fristgerechten Stellung eines PKH-Antrags durch sie und der fristgerechten Beschwerdeeinlegung und -begründung ihrer Prozessbevollmächtigten nach der Bewilligung der PKH durch den Senat.
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Die Nichtzulassungsbeschwerden der Kläger sind zulässig und im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und Zurückverweisung der Sache begründet
(§ 160a Abs 5 SGG).
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Das Urteil des LSG vom 13.12.2018 beruht auf einem von den Klägern hinreichend bezeichneten
(§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Das LSG hat den Anspruch der Kläger auf Gewährung rechtlichen Gehörs
(Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) verletzt, indem es trotz Antrags der Kläger auf Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung und der Entziehung der Vollmacht ihres Prozessbevollmächtigten mit dem sodann nicht mehr vertretungsberechtigten Rechtsanwalt verhandelt hat.
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Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet, den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt in der Verhandlung darzulegen. Dabei ist dem Anspruch auf rechtliches Gehör in der Regel dadurch genügt, dass das Gericht die mündliche Verhandlung anberaumt
(§ 110 Abs 1 Satz 1 SGG), der Beteiligte ordnungsgemäß geladen und die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt eröffnet wird. Eine Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung trotz Abwesenheit eines Beteiligten ist dann ohne Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs möglich, wenn dieser in der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass auch im Falle seines Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann
(vgl nur BSG vom 7.7.2011 – B 14 AS 35/11 B – RdNr 6 mwN).
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Ein Termin zur mündlichen Verhandlung kann – und ggf muss – jedoch gemäß § 202 SGG iVm dem entsprechend anwendbaren § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO bei Vorliegen erheblicher Gründe aufgehoben werden, selbst wenn das persönliche Erscheinen des Klägers nicht angeordnet worden ist. Die Entscheidung hierüber liegt grundsätzlich im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts
(BVerwG vom 22.8.1985 – 3 C 17/85 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr 175 juris RdNr 21). Allerdings begründet ein iS des § 227 Abs 1 Satz 1 ZPO ordnungsgemäß gestellter Verlegungsantrag mit einem hinreichend substantiiert geltend und ggf glaubhaft gemachten Terminverlegungsgrund grundsätzlich eine entsprechende Pflicht des Gerichts zur Terminverlegung. Die Behandlung von Anträgen auf Terminverlegung hat dabei der zentralen Gewährleistungsfunktion der mündlichen Verhandlung für den Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen
(BSG vom 24.10.2013 – B 13 R 59/13 B – RdNr 16). Dies gilt erst recht, wenn – wie vorliegend – eine mündliche Verhandlung vor dem SG nicht stattgefunden hat
(vgl nur BSG vom 7.7.2011 – B 14 AS 35/11 B – RdNr 7 mwN).
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Vorliegend hat das LSG den Klägern für das Berufungsverfahren PKH bewilligt und einen Rechtsanwalt beigeordnet. Die Kläger wandten sich in der Folge an das LSG, berichteten über „Kommunikationsschwierigkeiten“ mit ihrem Rechtsanwalt und rügten, dieser habe keine Berufungsbegründung verfasst. Zu dem Termin zur mündlichen Verhandlung hat das LSG das persönliche Erscheinen (nur) des Klägers zu 1 angeordnet. Am Vormittag des Vortags der mündlichen Verhandlung ging beim LSG ein Schreiben der Kläger ein, wonach sie die ihrem Prozessbevollmächtigten erteilte Vollmacht widerrufen hätten und dieser somit nicht mehr als Prozessvertreter zur Verfügung stehe. Zugleich haben sie einen Antrag auf Verlegung des Termins gestellt. In der mündlichen Verhandlung erschien, neben dem Vertreter des beklagten Jobcenters, allein der ehemalige Prozessbevollmächtigte der Kläger. Das LSG lehnte den Antrag auf Terminverlegung in der mündlichen Verhandlung ab und erörterte die Sach- und Rechtslage mit dem ehemaligen Prozessbevollmächtigten der Kläger, der für diese auch Sachanträge stellte.
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Die Entscheidung des LSG, den Antrag auf Terminverlegung abzulehnen, erfolgte vorliegend bereits deshalb ermessensfehlerhaft, weil es im Anschluss mit dem nicht mehr vertretungsberechtigten ehemaligen Prozessbevollmächtigten der Kläger mündlich verhandelt hat. Das LSG hat sich insoweit dagegen entschieden, bei Ausbleiben der Kläger (einseitig) zu verhandeln und sich damit selbst gebunden. Es hat stattdessen die Sach- und Rechtslage mit dem Vertreter des Beklagten und dem (ehemaligen) Prozessbevollmächtigten der Kläger erörtert und auf der Grundlage der von ihnen im Termin gestellten Sachanträge am selben Tag eine Entscheidung verkündet. Dabei ging es unzutreffend davon aus, dass die angezeigte Kündigung der Vollmacht die Stellung des Rechtsanwalts als vertretungsberechtigter Prozessbevollmächtigter aufgrund der gemäß § 121 ZPO erfolgten Beiordnung unberührt lässt. Vertretungsmacht erlangt der beigeordnete Anwalt aber erst dadurch, dass ihm der Betroffene eine Vollmacht iS des § 167 BGB erteilt
(BFH vom 30.3.2011 – X B 12/10 – juris RdNr 10 mwN; Schultzky in Zöller, ZPO, 33. Aufl 2020, § 121 ZPO RdNr 12). Wenn das LSG aber meinte, mit dem vollmachtlosen (ehemaligen) Prozessbevollmächtigten der Kläger verhandeln zu dürfen, erfolgte die Ablehnung des Terminverlegungsantrags in einem wesentlichen Punkt auf Grundlage einer falschen rechtlichen Annahme und damit ermessensfehlerhaft.
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Objektivierbare Umstände, die darauf hindeuten könnten, dass der Antrag der Kläger auf Terminverlegung durch die Absicht der Prozessverschleppung getragen sein könnte, sind weder vom LSG festgestellt noch nach Aktenlage ersichtlich. Die Nichtverlegung des Termins stellt sich deshalb als Verstoß gegen die Verpflichtung des Berufungsgerichts zur Gewährung rechtlichen Gehörs dar. Die angefochtene Entscheidung kann auf diesem Verfahrensmangel beruhen. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass eine Verletzung des rechtlichen Gehörs, die einen Verfahrensbeteiligten daran gehindert hat, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, die daraufhin ergangene Entscheidung beeinflusst hat; einer Angabe, welches Vorbringen durch das beanstandete Verfahren verhindert worden ist, bedarf es dabei nicht
(vgl nur BSG vom 7.7.2011 – B 14 AS 35/11 B – RdNr 11 mwN).
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Auf die weiteren Rügen, wonach das LSG durch die Verwerfung der Berufungen der Kläger zu 1 und 3 zu Unrecht durch Prozessurteil entschieden habe, kommt es nicht mehr an.
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Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.