BVerwG 2. Senat, Beschluss vom 07.04.2021, AZ 2 B 10/21, ECLI:DE:BVerwG:2021:070421B2B10.21.0
Leitsatz
Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) wird verletzt, wenn das Gericht (Disziplinargericht), nachdem ihm (erst) in der Schlussberatung offenbar wird, dass ein nicht (mehr) zur Entscheidung berufener ehrenamtlicher Richter (Beamtenbeisitzer) mitgewirkt hat, es unterlässt, dies den Verfahrensbeteiligten mitzuteilen und ohne Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung das beratene Urteil verkündet.
Verfahrensgang
vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein, 9. Oktober 2020, Az: 14 LB 1/19, Urteil
vorgehend Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, 14. März 2019, Az: 17 A 7/16
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts vom 9. Oktober 2020 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
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Die Beschwerde des Beklagten hat mit der Maßgabe Erfolg, dass das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit gemäß § 41 Abs. 1 LDG SH, § 69 BDG und § 133 Abs. 6 VwGO zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist. Die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO liegen vor. Die Verfahrensweise des Oberverwaltungsgerichts, den Beklagten nicht unverzüglich über den erst in der Schlussberatung bekannt gewordenen Eintritt der ehrenamtlichen Richterin D. in den Ruhestand – bereits mit Ablauf des Monats Januar 2019 – zu informieren und diesen Umstand erst im Berufungsurteil offenzulegen, hat das Recht des Beklagten auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Vor der Entscheidung über die Berufung des Beklagten hätte das Berufungsgericht diesem vielmehr Gelegenheit zur Stellungnahme geben und dementsprechend die Berufungsverhandlung wiedereröffnen müssen. Innerhalb der hiermit zwangsläufig verbundenen Unterbrechung des Verfahrens hätte das Oberverwaltungsgericht die ehrenamtliche Richterin D. von ihrem Amt entbinden müssen und können. Dadurch hätte es der gesetzlichen Vorgabe genügt, dass in einem Disziplinarklageverfahren nur solche Beamte als Beamtenbeisitzer in Betracht kommen, die zum klagenden Dienstherrn in einem aktiven Beamtenverhältnis stehen.
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1. Der 1962 geborene Beklagte steht als Studienrat im Dienst des Landes Schleswig-Holstein. Am 26. Juni 2013 wurde der Beklagte in Tuscon/Arizona bei der Einreise in die USA mit der Begründung verhaftet, zum Zwecke der Aufnahme sexueller Kontakte mit unter 12-jährigen Kindern in die USA eingereist zu sein. Anfang Oktober 2014 wurde der Beklagte aufgrund eines entsprechenden Schuldeingeständnisses durch den US District Court Tuscon/Arizona zu einer Freiheitsstrafe von 189 Monaten verbunden mit einer anschließenden lebenslangen „Führungsaufsicht“ verurteilt. Aufgrund der Informationen der amerikanischen Strafverfolgungsbehörden leitete die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen den Beklagten ein. In dessen Rahmen wurden mehrere Speichermedien des Beklagten sichergestellt und auf kinderpornographische Schriften untersucht. Mitte Juni 2016 erhob der Kläger Disziplinarklage zum einen wegen des Vorwurfs, der Beklagte habe den Versuch unternommen, im Ausland Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren sexuell zu missbrauchen. Für seinen geplanten Aufenthalt in Mexiko vom 26. bis zum 30. Juni 2013 habe er für einen Betrag von 1 025 $ mehrere Mädchen für sich „bestellt“, die bestimmten Kindern aus kinderpornographischen Serien ähneln sollten. Bei seiner Landung in den USA habe er in seinem Gepäck Damenunterwäsche in sehr kleinen Größen, Fesselungsutensilien und eine Augenbinde gehabt. Gegenstand der Disziplinarklage ist zum anderen der Vorwurf, in der Zeit vom 9. März 2005 bis zur Beschlagnahme am 8. August 2013 insgesamt 944 kinderpornographische Schriften besessen zu haben.
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Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten aus dem Beamtenverhältnis entfernt. Im ersten Berufungsverfahren hat das Oberverwaltungsgericht das Verfahren durch Beschluss vom 14. November 2019 aufgrund von § 41 Abs. 1 Satz 1 LDG SH sowie §§ 56 und 65 Abs. 1 Satz 1 BDG beschränkt und den Vorwurf, den Versuch unternommen zu haben, im Ausland Kinder im Alter von fünf bis elf Jahren sexuell zu missbrauchen, sowie den Vorwurf des Besitzes von 256 Posing-Bildern aus dem Verfahren ausgeschieden. Die Berufung des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen. Dieses erste Berufungsurteil hat das Bundesverwaltungsgericht durch Beschluss vom 18. Juni 2020 (BVerwG 2 B 24.20) wegen eines Verstoßes gegen das Gebot der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme aufgehoben; die Sache wurde zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht zurückverwiesen.
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Im zweiten Berufungsverfahren hat das Oberverwaltungsgericht durch Einnahme eines Augenscheins Beweis erhoben über den Inhalt der beim Beklagten beschlagnahmten Bild- und Videodateien. Ferner hat es durch den in der mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2020 verkündeten Beschluss seinen Beschränkungsbeschluss vom 14. November 2019 hinsichtlich des unter Punkt 2. der Klageschrift vorgeworfenen Besitzes kinderpornographischer Schriften geändert und 374 Bilder ausgeschieden, die gemäß Protokoll der Beweisaufnahme vom 5. und 6. Oktober 2020 der Kategorie 1 („sonstige Bilder, ohne Eindringen oder Berühren“) zugeordnet worden sind; im Übrigen hat es den Beschluss vom 14. November 2019 aber aufrechterhalten. Durch das hier angegriffene zweite Berufungsurteil hat es die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts wiederum zurückgewiesen. Zur Begründung hat das Oberverwaltungsgericht ausgeführt, durch sein außerdienstliches Verhalten, das den Straftatbestand des vorsätzlichen Besitzes von kinderpornographischen Schriften nach § 184b Abs. 4 StGB in der Fassung vom 31. Oktober 2008 erfülle, habe der Beklagte als Lehrer an einer allgemeinbildenden Schule das Vertrauen des Dienstherrn und der Allgemeinheit endgültig verloren.
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2. Die Verfahrensrügen des Beklagten, das Berufungsgericht habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt und das Berufungsgericht sei bei der Entscheidung über die Berufung nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, sind begründet.
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Das Recht auf rechtliches Gehör gewährleistet, dass der Einzelne nicht bloßes Objekt des Verfahrens ist, sondern vor einer seine Rechte betreffenden Entscheidung zu Wort kommt, um Einfluss auf das Verfahren und dessen Ergebnis nehmen zu können. Das Recht auf Äußerung im Verfahren setzt voraus, dass der Beteiligte überhaupt über die hierfür erforderlichen Informationen verfügt. Dementsprechend ist das Gericht verpflichtet, die Beteiligten über alle für die Entscheidungsfindung relevanten Aspekte zu unterrichten. Denn nur aufgrund der rechtzeitigen und umfassenden Information ist der Beteiligte zum sachgerechten Vortrag und damit zur Wahrung seiner Rechte in der Lage. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist geklärt, dass die Beteiligten in der Lage sein müssen, sich über den gesamten Verfahrensstoff zu informieren (BVerfG, Beschlüsse vom 29. Mai 1991 – 1 BvR 1383/90 – BVerfGE 84, 188 <190>, vom 19. Mai 1992 – 1 BvR 986/91 – BVerfGE 86, 133 <144> und vom 8. Juni 1993 – 1 BvR 878/90 – BVerfGE 89, 28 <35>). Dies gilt auch für die Frage der ordnungsgemäßen Besetzung der Richterbank mit ehrenamtlichen Richtern (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. Februar 2013 – 2 B 58.12 – Buchholz 235.1 § 48 BDG Nr. 2 Rn. 12, 15).
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Unmittelbar nach Mitteilung der ehrenamtlichen Richterin in der Schlussberatung, sie sei bereits in den Ruhestand versetzt, hätte das Oberverwaltungsgericht die Beteiligten auf diesen Umstand hinweisen müssen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. Juli 2018 – 2 B 41.18 – Buchholz 235.2 LDisziplinarG Nr. 57 Rn. 5). Denn der Eintritt in den Ruhestand betrifft unmittelbar die Frage der vorschriftsmäßigen Besetzung des erkennenden Gerichts, der besondere Bedeutung zukommt (vgl. § 138 Nr. 1 VwGO). Zu diesem Aspekt hätte der Beklagte angehört werden müssen, weil er einen Anspruch auf Beachtung der gesetzlichen Vorgaben zur Besetzung der Richterbank hat (vgl. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).
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Aus § 41 Abs. 1 Satz 1 LDG SH und § 50 Abs. 1 Nr. 4 BDG folgt, dass an einem Disziplinarurteil nur solche Personen als Beamtenbeisitzer mitwirken dürfen, die zum Zeitpunkt des Urteils zu dem betreffenden Dienstherrn in einem aktiven Beamtenverhältnis stehen. Die Systematik des Bundesdisziplinargesetzes – § 1 Satz 1 und § 2 Abs. 1 und 2 – belegt, dass Beamtenbeisitzer nur ein auf Lebenszeit ernannter aktiver Beamter sein kann; Ruhestandsbeamte werden demgegenüber gesondert erwähnt (vgl. OVG Greifswald, Beschluss vom 16. September 2011 – 10 P 2/11 – NVwZ-RR 2012, 246).
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Zum Zeitpunkt der Mitteilung der Beamtenbeisitzerin über ihren Eintritt in den Ruhestand war die mündliche Verhandlung bereits nach § 104 Abs. 3 Satz 1 VwGO geschlossen. Dementsprechend hätte die Vorsitzende des Berufungssenats die mündliche Verhandlung zum Zwecke der Information des Beklagten und damit zur Vermeidung der Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör nach § 173 Satz 1 VwGO und § 156 Abs. 2 Nr. 1 ZPO wiedereröffnen müssen.
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Da das Gesetz durch § 41 Abs. 1 Satz 1 LDG SH und § 50 Abs. 1 Nr. 4 BDG vorgibt, dass in den Ruhestand versetzte Beamte nicht als Beamtenbeisitzer an einem Disziplinarurteil mitwirken dürfen, hätte das Oberverwaltungsgericht in dem Zeitraum, der dem Beklagten zur Stellungnahme zur Frage des Ausschlusses der ehrenamtlichen Richterin von der Funktion des Beamtenbeisitzers hätte eingeräumt werden müssen, die Entscheidung des nach § 41 Abs. 1 Satz 1 LDG SH, § 50 Abs. 3 BDG und § 24 Abs. 3 VwGO zuständigen Senats des Oberverwaltungsgerichts über die zwingende Entbindung der ehrenamtlichen Richterin von ihrem Amt als Beamtenbeisitzern herbeiführen müssen.
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Die Entbindung obliegt dabei gerade dem für Disziplinarsachen (Land) zuständigen 14. Senat des Berufungsgerichts. Die Voraussetzungen für die Entbindung der in den Ruhestand getretenen Beamtenbeisitzerin hat das Oberverwaltungsgericht von Amts wegen durch eigene Maßnahmen zu klären, hier konkret durch eine unmittelbare Nachfrage beim Dienstherrn der ehrenamtlichen Richterin, dem Land Schleswig-Holstein, vertreten durch die personalverwaltende Stelle, hier das Ministerium für … Diese Behörde ist zugleich Kläger des gerichtlichen Disziplinarverfahrens.