BGH Kartellsenat, Beschluss vom 15.12.2020, AZ KVZ 90/20, ECLI:DE:BGH:2020:151220BKVZ90.20.0
Leitsatz
Facebook II
Gegen eine Zwischenentscheidung des Kartellbeschwerdegerichts in einem anhängigen Verfahren auf vorläufigen Rechtsschutz, die bis zur endgültigen Entscheidung über den Eilantrag die aufschiebende Wirkung der Beschwerde anordnet („Hängebeschluss“), ist die Rechtsbeschwerde statthaft.
Verfahrensgang
vorgehend OLG Düsseldorf, 30. November 2020, Az: Kart 13/20 (V), Beschluss
Tenor
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 1. Kartellsenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 30. November 2020 wird zugelassen.
Gründe
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I. Die Betroffenen wenden sich mit ihrer Beschwerde gegen eine Untersagungsverfügung des Bundeskartellamts vom 6. Februar 2019. In einem vorausgegangenen Verfahren hat der Senat auf die Beschwerde des Bundes-kartellamts mit Beschluss vom 23. Juni 2020 (KVR 69/19, WuW 2020, 525 – Facebook), auf den hinsichtlich des Sachverhalts verwiesen wird, die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde durch das Beschwerdegericht aufgehoben und den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde abgelehnt. Mit Schriftsatz vom 30. November 2020 haben die Betroffenen beim Beschwerdegericht erneut einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Beschwerde gestellt. Das Beschwerdegericht hat mit Beschluss vom selben Tag die aufschiebende Wirkung der Beschwerde vorläufig bis zur endgültigen Entscheidung über den Eilantrag angeordnet (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 30. November 2020 – Kart 13/20, juris). Die Rechtsbeschwerde hat das Beschwerdegericht nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich das Bundeskartellamt mit der Nichtzulassungsbeschwerde.
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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig.
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1. Insbesondere ist sie gemäß § 75 Abs. 1 GWB statthaft. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist eröffnet, wenn die Rechtsbeschwerde statthaft ist und das Beschwerdegericht dieses Rechtsmittel mithin wirksam hätte zulassen können (BGH, Beschluss vom 11. November 2008 – KVR 18/08, WuW/E DE-R 2551 Rn. 7 – Werhahn/Norddeutsche Mischwerke). Dies ist hier der Fall.
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a) Die früher geltende Beschränkung der Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde auf in der Hauptsache erlassene Beschlüsse ist mit der am 13. Juli 2005 in Kraft getretenen Fassung von § 76 Abs. 1 GWB entfallen. Mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde anfechtbar sind insbesondere Entscheidungen über die Gewährung oder Versagung von vorläufigem Rechtsschutz (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Mai 2007 – KVZ 31/06, WuW 2007, 907 Rn. 12 – Lotto im Internet; Beschluss vom 18. Oktober 2011 – KVR 9/11, WuW/E DE-R 3498 Rn. 5 – Niederbarnimer Wasserverband; Beschluss vom 26. Januar 2016 – KVZ 41/15, WuW 2016, 249 Rn. 14 – Energieversorgung Titisee-Neustadt; WuW 2020, 525 – Facebook).
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b) Dass es sich bei dem Beschluss des Beschwerdegerichts lediglich um eine Zwischenentscheidung im Rahmen eines anhängigen Verfahrens auf vorläufigen Rechtsschutz handelt (sogenannter Hänge- oder Schiebebeschluss, vgl. BVerfG, NVwZ 2014, 363 Rn. 8; VGH München, NVwZ-RR 2019, 981 Rn. 3), steht der Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde nicht entgegen (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 9. März 2010 – VI-Kart 1/10 [V], juris Rn. 23; differenzierend: OLG Düsseldorf, Beschluss vom 7. September 2006 – VI-Kart 15/06 [V], juris Rn. 32; aA MüKoEuWettbR/Nothdurft, 3. Aufl., GWB § 74 Rn. 11; Bechtold/Bosch, GWB, 9. Aufl., § 74 Rn. 3; Schmidt in Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, 6. Aufl., § 74 Rn. 6, der insoweit nicht zwischen „Hängebeschlüssen“ und Entscheidungen nach § 65 GWB differenziert).
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aa) Allerdings ist gegen verfahrensleitende Beschlüsse, die die Endentscheidung des Beschwerdegerichts lediglich vorbereiten, die Rechtsbeschwerde nach § 76 GWB nicht statthaft (BGH, Beschluss vom 11. November 2008 – KVR 18/08, WuW/E DE-R 2551 Rn. 12 – Werhahn/Norddeutsche Mischwerke). Mit dem Zweck der Rechtsbeschwerde, die Sachentscheidung des Beschwerdegerichts in bestimmten Fällen von über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung einer rechtlichen Überprüfung zu unterziehen, wäre es unvereinbar, wenn verfahrensleitende Beschlüsse wie beispielsweise ein Beweisbeschluss, die Aufforderung der Kartellbehörde zu ergänzenden Ermittlungen oder die Ablehnung einer Anordnung nach § 72 Abs. 2 Satz 4 GWB der Rechtsbeschwerde zugänglich wären (BGH, WuW/E DE-R 2551 Rn. 12 – Werhahn/Norddeutsche Mischwerke).
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bb) Eine Zwischenentscheidung im Eilverfahren ist jedoch kein verfahrensleitender Beschluss, er ist vielmehr eine die Instanz noch nicht abschließende vorläufige Sachentscheidung (vgl. zu § 146 VwGO: OVG Koblenz, NVwZ-RR 2013, 295 f.; OVG Greifswald, NVwZ-RR 2017, 904 Rn. 7; VGH München, NVwZ-RR 2019, 981 Rn. 4; VGH Mannheim, Beschluss vom 14. Oktober 2019 – 9 S 2643/19, juris Rn. 4; OVG Lüneburg, DVBl. 2020, 826 Rn. 2; Guckelberger, NVwZ 2001, 275, 278; Schoch/Schneider VwGO/Schoch VwGO § 123 Rn. 164b; aA MüKoEuWettbR/Nothdurft, 3. Aufl., GWB § 74 Rn. 11; aA zu § 146 Abs. 2 VwGO: VGH Kassel, NVwZ-RR 1995, 302; OVG Berlin, NVwZ-RR 1999, 212). Denn sie trifft eine Regelung mit materiell-rechtlichen Wirkungen für den Zeitraum zwischen dem Eingang des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes und der Entscheidung des Gerichts über diesen Eilantrag (vgl. OVG Koblenz, NVwZ-RR 2013, 295 f., OVG Lüneburg, DVBl. 2020, 826 Rn. 2).
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cc) Auch die Besonderheiten der Zwischenentscheidung im Vergleich zu Anordnungen des Beschwerdegerichts nach § 65 GWB stehen der Statt-haftigkeit der Rechtsbeschwerde nicht entgegen.
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(1) Die Zwischenentscheidung hat im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen zwar keine gesetzliche Grundlage, da vor ihrem Erlass eine summarische Prüfung der Voraussetzungen nach § 65 GWB nicht erfolgt. Die Befugnis zu einer solchen Entscheidung kann deshalb lediglich aus der Garantie des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG hergeleitet werden (BVerfG, NVwZ 2014, 363). Dies rechtfertigt es jedoch nicht, die Zwischenentscheidung im Hinblick auf die Rechtsschutzmöglichkeiten anders zu behandeln als Entscheidungen der Oberlandesgerichte nach § 65 GWB (aA zu § 146 VwGO: VGH Mannheim, NVwZ-RR 2018, 509 Rn. 7). Dies ergibt sich aus dem Zweck, den der Gesetzgeber mit der durch die 7. GWB-Novelle eingeführten Erstreckung der Rechtsbeschwerdemöglichkeit auf Entscheidungen der Oberlandesgerichte gemäß § 65 GWB verfolgt. Der Änderungsvorschlag wurde unter anderem damit begründet, dass auf ein wettbewerbswidriges Marktverhalten eines Unternehmens Wettbewerber und Kartellbehörden möglichst schnell und effektiv reagieren müssten. Auch kartellrechtsgemäßes unternehmerisches Handeln (z.B. eine Fusion) vertrage meist keine langen Wartezeiten. Ein zeitnaher höchstrichterlicher Rechtsschutz im Eilverfahren sei daher unabdingbar. Spätere Entscheidungen in der Hauptsache über Sachverhalte, die möglicherweise Jahre zurückliegen, befriedigten die Beteiligten oft nicht mehr (Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur 7. GWB-Novelle, BT-Drucks. 15/3640, S. 81; zur Ent-stehungsgeschichte vgl. BGH, WuW/E DE-R 2551 Rn. 17 – Werhahn/Norddeutsche Mischwerke). Dieselben Erwägungen gelten für Zwischenentscheidungen (Hängebeschlüsse), die ohne eine Prüfung am Maßstab des § 65 GWB ergehen. Denn sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Wirkungen nicht von Entscheidungen nach § 65 GWB. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass sie in zeitlicher Hinsicht stets weniger einschneidend und deshalb ohne Rechtsschutzmöglichkeiten hinnehmbar sind als Entscheidungen nach § 65 GWB. Dies zeigt sich hier darin, dass das Beschwerdegericht angekündigt hat, „die Sach- und Rechtsprüfung im Hauptsacheverfahren bis zum Verhandlungstermin am 24. März 2021 und damit binnen etwa vier Monaten zumindest insoweit vorzunehmen, dass [es] bis dahin über den neuen Eilantrag zu 1 entscheiden kann“. Selbst wenn mit den Betroffenen davon auszugehen wäre, dass mit einer Entscheidung des Beschwerdegerichts nach Eingang der Stellungnahme des Bundeskartellamts und vor dem Verhandlungstermin am 24. März 2021 zu rechnen ist, handelte es sich nicht um einen unwesentlichen Zeitraum. Für den Fall, dass das Bundeskartellamt die bis zum 23. Januar laufende Frist zur Stellungnahme voll ausschöpft, könnte eine Entscheidung des Beschwerdegerichts nach § 65 GWB nicht vor Februar 2021 ergehen.
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(2) Die Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen Zwischenentscheidungen in Eilverfahren bringt entgegen der Auffassung der Betroffenen auch nicht die Gefahr einer nicht mehr hinnehmbaren Verzögerung des Beschwerdeverfahrens mit sich, was der Effektivität des Rechtsschutzes (Prozessökonomie) abträglich wäre (aA VGH Mannheim, NVwZ-RR 2018, 509 Rn. 7). Denn auch insoweit unterscheiden sich die Auswirkungen einer gegen eine Entscheidung nach § 65 GWB eingelegten Rechtsbeschwerde auf den Fortgang des Beschwerdeverfahrens nicht grundsätzlich von denen einer gegen einen Zwischenbeschluss eingelegten Rechtsbeschwerde, über die der Senat auch ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann.
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2. Da nach alledem eine vorläufigen Rechtsschutz sicherstellende Zwischenentscheidung sich hinsichtlich der Rechtsschutzmöglichkeiten nicht von Entscheidungen nach § 65 GWB unterscheidet, setzt entgegen der Auffassung der Betroffenen die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde und damit auch der Nichtzulassungsbeschwerde kein besonderes Rechtsschutzinteresse voraus, der Beschwerdeführer/Rechtsbeschwerdeführer muss insbesondere nicht glaubhaft machen, dass infolge der Zwischenentscheidung der Beschwerdeinstanz schwere, irreparable Nachteile entstehen können (anders für das Verwaltungsprozessrecht OVG Koblenz, NVwZ-RR 2013, 295, 296).
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III. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist auch begründet. Die Rechtsbeschwerde ist wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen, § 74 Abs. 2 Nr. 1 GWB.
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1. Entgegen der Auffassung des Bundeskartellamts kann ein Zulassungsgrund allerdings nicht damit begründet werden, dass die Frage der Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde von grundsätzlicher Bedeutung sei. Die Frage der Statthaftigkeit muss das Rechtsbeschwerdegericht stets prüfen. Ist bereits die Statthaftigkeit zu verneinen, kommt es nicht mehr zur Prüfung, ob ein Zulassungsgrund vorliegt (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Mai 2002 – V ZB 11/02, BGHZ 151, 42, 43 f.).
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2. Die von der Beschwerde aufgeworfene Frage, ob „Hängebeschlüsse“ nur bei drohenden schweren und unabwendbaren Nachteilen, die unmittelbar durch Vollstreckungshandlungen drohen, die vor Erlass der Eilent-scheidung ergehen, zulässig sind, hat grundsätzliche Bedeutung.
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a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat eine Rechtssache grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine entscheidungserhebliche, klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfrage aufwirft, die sich in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen stellen kann und deswegen das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt (BGH, Beschluss vom 15. Mai 2012 – KVR 34/11, juris Rn. 14; Beschluss vom 12. Dezember 2017 – KVZ 41/17, WRP 2018, 337 Rn. 9 – Vertriebssystem 1.0).
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b) Die Frage ist ungeklärt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts liegt es von Verfassungs wegen unter Berücksichtigung der Effektivität verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutzes jedenfalls nahe, für die Dauer des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens – zumindest soweit ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO (entsprechend § 65 GWB) nicht offensichtlich aussichtslos oder rechtsmissbräuchlich ist – von Maßnahmen der Vollstreckung einer Verwaltungsentscheidung abzusehen, wenn anderenfalls schwere und unabwendbare Nachteile drohen (BVerfG, NJW 1987, 2219; NVwZ 2014, 363 Rn. 7). Weigert sich eine Verwaltungsbehörde in diesen Fällen trotz formloser gerichtlicher Aufforderung ohne ersichtlichen Grund, bis zur endgültigen Entscheidung im Eilverfahren auf Vollstreckungsmaßnahmen zu verzichten, gebietet es die Garantie effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG, dies der Behörde durch Beschluss förmlich aufzugeben (BVerfG, NVwZ 2014, 363 Rn. 8). Ob diese Voraussetzungen notwendige oder nur hinreichende Bedingung für den Erlass eines Hängebeschlusses sind, ist insbesondere für das Kartellverwaltungsverfahren höchstrichterlich noch nicht geklärt. Der Senat hatte bisher keine Gelegenheit, sich mit den Voraussetzungen eines „Hängebeschlusses“ zu befassen.
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c) Die Frage ist auch entscheidungserheblich. Das Beschwerdegericht hat bei seiner Folgenabwägung nicht gewürdigt, dass mit Vollstreckungsmaßnahmen des Bundeskartellamts nicht vor Ablauf der Frist zur Vorlage des Umsetzungsplanes am 29. März 2021 zu rechnen ist. Das Beschwerdegericht hat auch keine schweren und unabwendbaren Nachteile durch einen (drohenden) Vollzug festgestellt, sondern es genügen lassen, dass es „wirtschaftlich unsinnig“ wäre, wenn die Betroffenen die Änderungen ihrer Nutzungsbedingungen ausarbeiten müssten, ihr Eilantrag aber in spätestens vier Monaten Erfolg hätte.
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d) Das Bundeskartellamt hat in ausreichender Form dargelegt, dass sich die Rechtsfrage in einer Vielzahl von Fällen stellt. Die Rechtsfrage kann sich, wie das Bundeskartellamt zu Recht geltend macht, angesichts des gesetzlichen Sofortvollzugs von Untersagungsverfügungen nach § 32 Abs. 1 GWB (vgl. § 64 Abs. 1 GWB) und der Komplexität der Materie, welche eine kurzfristige Bescheidung eines Antrags nach § 65 Abs. 3 Satz 2 GWB nicht immer ermöglicht, in einer unbestimmten Vielzahl von Kartellverwaltungsverfahren für eine Vielzahl von Personen und Unternehmen stellen (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Juni 2010 – KVZ 46/09, NJOZ 2010, 1923 Rn. 10 – Boykott der Milchbauern).
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