BVerwG Fachsenat für Entscheidungen nach § 99 Abs 2 VwGO, Beschluss vom 04.11.2020, AZ 20 AV 2/20, ECLI:DE:BVerwG:2020:041120B20AV2.20.0
Tenor
Der Fachsenat hält an seiner Rechtsauffassung fest, dass die Verpflichtung zur alsbaldigen Offenlegung der Namen verstorbener Informanten die Funktionsfähigkeit der Geheimdienste des Bundes gefährden und damit dem Wohl des Bundes im Sinne von § 99 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 VwGO Nachteile bereiten würde. Da die Geheimdienste des Bundes Vertraulichkeitszusagen über den Tod hinaus gewähren, liegt deren zeitlich begrenzte Einhaltung im öffentlichen Interesse. Daher kann eine Offenlegung der Namen verstorbener Informanten nur im Rahmen einer strukturierten Einzelfallprüfung erfolgen, bei der der Zeitablauf von 30 Jahren ein bedeutsamer, aber nicht der allein entscheidende Umstand ist.
Gründe
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1. Im Ausgangsverfahren begehrte das Verlagshaus „Der Spiegel“ auf presserechtlicher Grundlage Auskunft über sämtliche sogenannte konspirative Linien zum Bundesnachrichtendienst während und nach der Spiegel-Affäre. Die Akten wurden größtenteils offengelegt. Einige Textstellen wurden allerdings aufgrund einer Sperrerklärung des Bundeskanzleramts geschwärzt, die der Fachsenat im In-camera-Verfahren überprüfte und mit Beschluss vom 3. Januar 2020 – 20 F 13.17 – größtenteils billigte. Dabei ging es beispielsweise um vertrauliche Informationen oder Informanten ausländischer Geheimdienste (Partnerdienste). Ferner wurden die Klar- oder Tarnnamen von tatsächlich oder mutmaßlich noch lebenden Informanten des Bundesnachrichtendienstes unkenntlich gemacht. Einige Schwärzungen wurden mit dem Argument begründet, dass eine über den Tod hinausgehende Vertraulichkeitszusage vorliege und daher der Name des Informanten auch nach seinem Ableben geheim gehalten werden müsse.
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Nur diese Fälle sind Gegenstand der Anfrage. Es geht weder um eine Zurückhaltung der gesamten Spiegel-Akten noch um eine Offenlegung aller Schwärzungen. Umstritten ist lediglich die Preisgabe der Personalien verstorbener Informanten, denen der Bundesnachrichtendienst zuvor Verschwiegenheit über den Tod hinaus zugesichert hat. Bei dieser Rechtsfrage besteht Einvernehmen darüber, dass der postmortale Ehrenschutz aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG die Preisgabe des Namens eines verstorbenen Informanten nicht hindert. Denn die Veröffentlichung wahrer Tatsachen über einen Verstorbenen verletzt seine Menschenwürde grundsätzlich nicht (BVerwG, Beschluss vom 24. Oktober 2018 – 20 F 15.16 – BVerwGE 163, 271 Rn. 21 und Urteil vom 30. Januar 2019 – 6 A 1.17 – BVerwGE 164, 269 Rn. 45). Fraglich ist allein, welche Auswirkungen eine über den Tod hinausgehende Vertraulichkeitszusage auf die Geheimhaltung der persönlichen Daten eines verstorbenen Informanten hat und in welchem Umfang dabei das Wohl des Bundes im Sinne des § 99 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 VwGO eine über den Tod des Informanten hinausgehende Geheimhaltung erfordert. Es geht also um die Reichweite allein des im öffentlichen Interesse der Nachrichtendienste bestehenden postmortalen Vertraulichkeitsschutzes.
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2. Das Bundesverwaltungsgericht behandelte den Schutz von Informanten zunächst vorwiegend unter dem Aspekt des Grundrechtsschutzes. Die Personalien eines noch lebenden Informanten wurden im Hinblick auf dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) als ihrem Wesen nach geheimhaltungsbedürftig im Sinne von § 99 Abs. 1 Satz 2 Alt. 3 VwGO angesehen (vgl. Neumann, In-camera-Verfahren vor den Verwaltungsgerichten, DVBl 2016, 473 <479>).
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a) Später fügte der Fachsenat hinzu, dass neben das grundrechtlich gesicherte Interesse des Informanten, seine persönlichen Daten geheim zu halten, auch das öffentliche Interesse an der Geheimhaltung von Informationsquellen trete (BVerwG, Beschluss vom 22. Juli 2010 – 20 F 11.10 – BVerwGE 137, 318 Rn. 10 f.). Behörden und Nachrichtendienste erhielten Informationen, die sie für ihre effektive Aufgabenerfüllung benötigten, in der Regel nur, wenn sie dem Informanten Vertraulichkeit zusicherten. Der Bruch einer zugesagten lebenslangen Vertraulichkeit sei generell geeignet, die Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden zu beeinträchtigen, weil dies die künftige Anwerbung von Informanten erschwere (BVerwG, Beschlüsse vom 19. April 2010 – 20 F 13.09 – BVerwGE 136, 345 Rn. 17 und vom 21. Januar 2014 – 20 F 1.13 – juris Rn. 23).
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Daran anknüpfend entschied der Fachsenat Ende 2016 im Fall Adolf Eichmann in einer früheren Besetzung, dass diese nachrichtendienstlichen Belange neben dem grundrechtlichen Schutz des Informanten keine eigenständige Bedeutung hätten. Sie führten nicht zu einer Schutzverstärkung in dem Sinne, dass die verfassungsrechtlichen Grenzen des Persönlichkeitsschutzes, der postmortal allein auf die Achtung der Menschenwürde zurückzuführen sei, die Reichweite des Informantenschutzes nicht mehr beschränke (BVerwG, Beschluss vom 20. Dezember 2016 – 20 F 10.15 – Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 70 Rn. 24). Da Informanten in der Regel keinen postmortalen Ehrenschutz genießen, hatte diese Entscheidung zur Folge, dass es auch keinen zeitlich darüber hinaus reichenden postmortalen Vertraulichkeitsschutz im öffentlichen Interesse gab.
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b) Diese Rechtsprechung wurde wenig später durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Fall Lembke in Frage gestellt (BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2017 – 2 BvE 1/15 – BVerfGE 146, 1 Rn. 122 ff.). In diesem Verfahren ging es um eine kleine Anfrage mehrerer Bundestagsfraktionen aus dem Jahr 2014 zum Oktoberfest-Attentat von 1980. Die Bundesregierung wurde um Auskunft gebeten, ob der im Verdacht der Mitwirkung stehende Heinz Lembke ein V-Mann einer Sicherheitsbehörde des Bundes oder eines Landes gewesen sei. Heinz Lembke hatte sich 1981 in der Untersuchungshaft erhängt. In diesem Zusammenhang führte das Bundesverfassungsgericht aus, eine Vertraulichkeitszusage begründe einen Vertrauenstatbestand (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG), auf den sich ein Informant grundsätzlich berufen könne (a.a.O. Rn. 104). Unabhängig von der Gefährdung grundrechtlicher Belange in einem konkreten Einzelfall und ungeachtet des Zeitablaufs könne die Enttarnung verdeckt handelnder Personen die Arbeitsfähigkeit und Aufgabenerfüllung der Sicherheitsbehörden gefährden, da durch die Herausgabe von Informationen über V-Leute oder sonstige verdeckte Quellen das Vertrauen in die Wirksamkeit von Geheimhaltungszusagen geschwächt und damit noch aktive Quellen von einer weiteren Zusammenarbeit abgehalten und die Gewinnung neuer Quellen erschwert werden könne (a.a.O. Rn. 123). Selbst bei Fragen zum Einsatz konkreter Personen als V-Leute seien jedoch eng begrenzte Ausnahmefälle denkbar, in denen das parlamentarische Informationsinteresse überwiege. Dies sei insbesondere der Fall, wenn aufgrund besonderer Umstände eine Gefährdung grundrechtlich geschützter Belange ausgeschlossen sei oder zumindest fernliegend erscheine und eine Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste nicht ernsthaft zu befürchten sei. Bei dieser Abwägung sei der Zeitablauf ein bedeutsamer – wenn auch nicht allein ausschlaggebender – Faktor. So könne sich im Einzelfall bei weit zurückliegenden Vorgängen die Geheimhaltungsbedürftigkeit erheblich vermindern oder erledigt haben (a.a.O. Rn. 124). Eine solche Ausnahme wurde im Fall Lembke angenommen.
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c) Diese Entscheidung gab dem Fachsenat Anlass zur Überprüfung der bisherigen Rechtsprechung. Denn das Bundesverfassungsgericht hatte darin einen über den postmortalen Ehrenschutz zeitlich hinausgehenden postmortalen Vertraulichkeitsschutz im Interesse der Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste anerkannt. Außerdem verstand es bei einer entsprechenden Zusage die postmortale Geheimhaltung gleichsam als Regel, während es die Offenlegung als begründungsbedürftige Ausnahme behandelte.
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Dementsprechend hat der Fachsenat mit Beschluss vom 24. Oktober 2018 – 20 F 15.16 – (BVerwGE 163, 271 Rn. 26 ff.) die bisherige Rechtsprechung zum postmortalen Informantenschutz geändert und bei einer über den Tod hinausgehenden Geheimhaltungszusage eine strukturierte Einzelfallprüfung im Rahmen des § 99 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 VwGO vorgesehen. Danach ist zunächst zu fragen, ob besondere Umstände vorliegen, die eine vorzeitige Bekanntgabe des Namens der nachrichtendienstlichen Verbindung rechtfertigen. Dies ist etwa bei der Verstrickung in NS-Verbrechen oder Terroranschläge der Fall. Liegen keine besonderen Umstände vor, erscheint eine Freigabe der persönlichen Daten des Informanten erst 30 Jahre nach dessen Ableben oder mutmaßlichen Ableben gerechtfertigt. Sind 30 Jahre abgelaufen, ist eine weitere Geheimhaltung grundsätzlich nur zulässig, wenn dafür wiederum besondere Umstände vorliegen. Bei dieser strukturierten Einzelfallprüfung wird dem Allgemeininteresse der Nachrichtendienste an der Einhaltung postmortaler Vertraulichkeitszusagen durch die typische Geheimhaltungsfrist von 30 Jahren Rechnung getragen. Zugleich bleibt Flexibilität für vom Normalfall abweichende Einzelfälle in dem Sinne, dass der Zeitablauf ein bedeutsamer – aber nicht der allein entscheidende – Faktor ist.
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d) Zu dieser Rechtsprechungsänderung nahm der 6. Senat alsbald Stellung. Am 30. Januar 2019 verhandelte er noch einmal über die Offenlegung quellenbezogener Informationen im Fall Eichmann, über den der Fachsenat in seiner früheren Besetzung im Dezember 2016 entschieden hatte. Das Bundeskanzleramt hatte zwei Tage vor der mündlichen Verhandlung im Hinblick auf die neuere Rechtsprechung des Fachsenats eine weitere Sperrerklärung abgegeben. Der 6. Senat gab dem Antrag auf Offenlegung bestimmter Schwärzungen ohne erneute Durchführung eines Zwischenverfahrens statt (BVerwG, Urteil vom 30. Januar 2019 – 6 A 1.17 – BVerwGE 164, 269). Die Preisgabe bestimmter Namen verstorbener Informanten führe nicht zu einer Gefährdung des Wohls der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des § 13 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BArchG.
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Bei der Prüfung dieses archivrechtlichen Nutzungsausschlussgrundes sei eine Einzelfallprüfung geboten, bei der der Zeitablauf ein bedeutsamer – wenn auch nicht allein ausschlaggebender – Faktor sei. Im Einzelfall könne sich bei weit zurückliegenden abgeschlossenen Vorgängen die Geheimhaltungsbedürftigkeit erheblich vermindern oder erledigt haben. In diesen Fällen reiche die bloße Geltendmachung des Weigerungsgrundes nicht aus; vielmehr müssten Anhaltspunkte für konkret befürchtete Nachteile vorliegen, dass die Bekanntgabe der persönlichen Daten unter Berücksichtigung des Umfelds, in dem die Informanten eingesetzt gewesen seien, auch heute noch zu einer Erschwerung der Aufgabenerfüllung führe (BVerwG, Urteil vom 30. Januar 2019 – 6 A 1.17 – BVerwGE 164, 269 Rn. 52). Die Norm lasse – anders als der (gegenwärtige) Fachsenat zu § 99 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 VwGO ausführe – im Rahmen der gebotenen Einzelfallprüfung keinen Raum für eine 30-Jahre-Regel (a.a.O. Rn. 53). Eine Bindung an die vom früheren Fachsenat getroffene Entscheidung bestehe – anders als in ständiger Rechtsprechung bisher angenommen – gleichfalls nicht, weil die vom früheren Fachsenat verwendeten Maßstäbe nicht inhaltsgleich zur fachgesetzlichen Vorschrift (sic!) seien. Mangels Maßstabsidentität entfalle die präjudizielle Wirkung (a.a.O. Rn. 54). Im Rahmen der archivrechtlichen Einzelfallprüfung lehnte der 6. Senat dann das Vorliegen einer über den Tod hinausgehenden Geheimhaltungszusage als unglaubhaft ab (a.a.O. Rn. 56 ff.).
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e) Mit der vorliegenden Anfrage und einem Parallelbeschluss vom 13. Mai 2020 hat der 6. Senat seine These, über einen anderen normativen Prüfungsmaßstab zu verfügen, aufgegeben. Er führt jetzt aus, § 13 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BArchG und § 99 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 VwGO enthielten im Hinblick auf das Staatswohl nach bisheriger Rechtsprechung (sic!) dieselben Anforderungen (BVerwG, Beschluss vom 13. Mai 2020 – 6 A 14.19 – juris Rn. 6). Das gelte auch für den allgemeinen presserechtlichen Auskunftsanspruch (BVerwG, Beschluss vom 13. Mai 2020 – 6 A 3.20 – NVwZ 2020, 1360 Rn. 7).
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Er wiederholt und bekräftigt seine zum postmortalen Vertraulichkeitsschutz von Informanten gebildeten Obersätze, wonach eine reine Einzelfallprüfung ohne zeitliche „Regelvermutung“ stattzufinden habe. Bei weit zurückliegenden abgeschlossenen Vorgängen könne sich die Geheimhaltungsbedürftigkeit erheblich vermindern oder erledigt haben. Dabei stellt der 6. Senat maßgeblich auf den Zeitpunkt des Abschlusses der nachrichtendienstlichen Akte, nicht auf den Zeitpunkt des Todes des Informanten ab. Bei der Frage, ob in diesen Fällen durch den Bruch der postmortalen Vertraulichkeitszusage negative Auswirkungen auf die Geheimdiensttätigkeit zu erwarten sind, sieht er die Nachrichtendienste bei entsprechendem Alter des Aktenvorgangs in einer einzelfallbezogenen Darlegungslast für auch heute noch konkret zu befürchtende Nachteile. In der Einhaltung staatlicher Zusagen erkennt der 6. Senat keinen Eigenwert und er erörtert auch nicht die Frage, ob eine generelle Praxis, gegebene Vertraulichkeitszusagen einzuhalten, zum Erhalt der Glaubwürdigkeit eines Nachrichtendienstes notwendig ist. Man kann von einer isoliert auf den Zeitablauf des nachrichtendienstlichen Geschehens und auf die konkret drohenden Folgen des Bruchs der einzelnen Geheimhaltungszusage fokussierten Einzelfallprüfung sprechen (isolierte Einzelfallprüfung).
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Zur Erläuterung der eigenen Obersätze verweist der 6. Senat im Wesentlichen auf seine bisherige Rechtsprechung. Der Rechtsprechungsänderung des Fachsenats zu § 99 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 VwGO könne er sich für den Bereich des verfassungsunmittelbaren presserechtlichen Auskunftsanspruchs nicht anschließen. Der 6. Senat kritisiert vor allem die „Regelvermutung“ von 30 Jahren. Für sie bestehe kein Bedarf, weil der Fachsenat auf der Grundlage der ihm vorliegenden, ungeschwärzten Akten den vollen Zugriff für eine eigene tatrichterliche Einzelfallwürdigung habe. Die dem zugrunde liegende Typusbildung des „durchschnittlichen Informanten“ sei wirklichkeitsfremd und nicht problemangemessen. Die insoweit vom Fachsenat postulierte Ausnahme in Bezug auf NS-Täter und Schwerkriminelle sei inkonsistent. Das Prüfprogramm des Fachsenats lasse keinen Raum für eine ausreichende Berücksichtigung kollidierender Interessen.
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3. Bevor auf diese Kritik im Einzelnen eingegangen wird, ist zum besseren Verständnis darauf hinzuweisen, dass es ungeachtet der Meinungsunterschiede zwischen den beiden Senaten eine erhebliche Übereinstimmung in wesentlichen Vorfragen gibt.
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a) Zunächst dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass es grundsätzlich eine Frage der Feststellung des Sachverhalts ist, ob eine Sicherheitsbehörde einem Informanten bei der Anwerbung die strikte Geheimhaltung seiner Personalien zugesagt hat, ob nur eine auf die Lebenszeit beschränkte und mit dem Tod endende Zusicherung vorliegt („auflösend bedingte Vertraulichkeitszusage“) oder ob eine über den Tod hinausgehende, „unbeschränkte und unbedingte Vertraulichkeitszusage“ abgegeben worden ist. Gelegentlich finden sich dazu Aufzeichnungen in den Akten. Ansonsten muss der Tatrichter auf die Angaben der Sicherheitsbehörde zurückgreifen, ob sie im maßgeblichen Zeitraum in ihrer allgemeinen Anwerbungspraxis bedingte oder unbedingte Vertraulichkeitszusagen abgegeben hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Januar 2019 – 6 A 1.17 – BVerwGE 164, 269 Rn. 56 ff.). Jedenfalls kann die Tatsachenfrage nicht Gegenstand einer rechtlichen Anfrage an den Großen Senat sein.
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b) Ferner stellt der 6. Senat in seiner Anfrage die Aussage der Bundesregierung nicht in Frage, dass eine Anwerbung von Informanten in der Vergangenheit und in der Gegenwart nur bei Zusage strikter Geheimhaltung ihrer persönlichen Daten möglich ist, dass dabei oftmals auch ausdrücklich eine Geheimhaltung über den Tod hinaus zugesichert werden muss und dass dies auch häufig stillschweigend Geschäftsgrundlage einer Anwerbung ist. Müsste der Bundesnachrichtendienst bei Anwerbungsgesprächen mitteilen, dass er auf eine beliebige Presseanfrage hin die Personalien des Informanten gleich nach dessen Tode bekanntzugeben hat, würde dies die Anwerbung neuer Informanten und die weitere Zusammenarbeit mit den vorhandenen Informanten gravierend erschweren. Trifft diese auf allgemein bekannten Tatsachen beruhende Prognose zu, liegt es im öffentlichen Interesse des Bundes, über den Tod hinausgehende unbedingte Geheimhaltungszusagen abzugeben und einen entsprechenden postmortalen Vertraulichkeitsschutz zu gewährleisten. Daher besteht Konsens darüber, dass die frühere Rechtsprechung des Fachsenats (BVerwG, Beschluss vom 20. Dezember 2016 – 20 F 10.15 – Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 70 Rn. 24) nicht fortgeführt werden kann, wonach das öffentliche Interesse einer Offenlegung persönlicher Daten von Informanten unmittelbar nach deren Tod nicht entgegensteht.
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c) Zwischen dem 6. Senat und dem Fachsenat besteht auch Einigkeit darüber, dass die diesbezüglichen Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im Fall Lembke auf die vorliegende Problemlage übertragbar sind (BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2017 – 2 BvE 1/15 – BVerfGE 146, 1 Rn. 104, 123 f.). Zwar beschäftigt sich diese Entscheidung mit der Abgrenzung des parlamentarischen Fragerechts gegenüber den Geheimhaltungsbelangen der Verfassungsschutzbehörden. Das Auskunftsrecht der Presse und die archivrechtlichen Ansprüche von Wissenschaftlern können gegenüber den Belangen der Nachrichtendienste inhaltlich jedoch nicht weiterreichen als das parlamentarische Fragerecht. Auch erfolgt die von § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO bei der gerichtlichen Aktenbeiziehung geforderte Abwägung zwischen dem Interesse des Einzelnen an effektivem Rechtsschutz und dem Geheimhaltungsinteresse des Staates nach vergleichbaren Maßstäben.
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d) Unstreitig ist ferner, dass weder § 99 VwGO noch andere Vorschriften des Bundesrechts die Geheimhaltung persönlicher Daten verstorbener Informanten explizit regeln und dass es darum keine gesetzliche „Regelvermutung“ für eine 30-jährige Geheimhaltung gibt. Der Fachsenat hat sich darum nie auf eine entsprechende Regelvermutung berufen und auch keine entsprechende Formulierung verwendet. Vielmehr ist er stets wie der 6. Senat davon ausgegangen, dass bei der Geheimhaltungsprüfung nach § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO eine einzelfallbezogene Gewichtung der für und gegen die weitere Geheimhaltung sprechenden öffentlichen Belangen stattfinden muss. Der Fachsenat hat lediglich eine typisierende Rechtsfortbildung vorgenommen und ausgeführt, welche Auswirkungen unbedingte Vertraulichkeitszusagen typischerweise in welchen Fällen haben und dass in den durch keine Besonderheiten gekennzeichneten Standardfällen eine Preisgabe persönlicher Daten nicht vor Ablauf von 30 Jahren in Frage kommt.
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e) Dass auch bei Vorliegen einer unbedingten Vertraulichkeitszusage eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen den für die Geheimhaltung und den gegen eine Geheimhaltung sprechenden öffentlichen Interessen erforderlich bleibt, ist gleichfalls unstreitig. Auch der Fachsenat teilt nicht den Standpunkt der Bundesregierung, dass bei Vorliegen einer unbedingten Geheimhaltungszusage eine Offenlegung der persönlichen Daten – von Sonderfällen abgesehen – auf unbeschränkte Dauer nicht in Betracht kommt. Vielmehr ist seine Rechtsprechung um die Herstellung praktischer Konkordanz zwischen den divergierenden Interessen bemüht. Auf der einen Seite sind das Geheimhaltungsinteresse der Nachrichtendienste und das Vertrauensschutzinteresse des Informanten zu gewichten. Auf der anderen Seite ist das öffentliche und private Interesse an einer möglichst freien, staatlich nicht reglementierten Erforschung historischer Sachverhalte durch Presse, Medien und Wissenschaft in die Abwägung einzustellen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese gegenläufigen öffentlichen und privaten Interessen mit zunehmender Zeitdauer an Gewicht gewinnen, sodass es nach Ansicht beider Senate keine zeitlich unbeschränkte Geheimhaltung der Personalien von Informanten gibt.
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f) Im Übrigen unterscheiden sich die von den Senaten bei der Abwägung für relevant angesehenen Kriterien. Während der 6. Senat für die relevante Zeitdauer keinerlei Angaben macht und beim Beginn des maßgeblichen Zeitablaufs an den Abschluss der Informantentätigkeit anknüpft, stellt der Fachsenat auf den Tod des Informanten als das für den Zeitablauf im Normalfall maßgebliche Anfangsdatum ab. Denn zu diesem Zeitpunkt beginnt die mit der unbedingten Geheimhaltungszusage verbundene Verpflichtung zum Stillschweigen nach dem Tod. Der 6. Senat trifft keinerlei verallgemeinerungsfähige Aussagen dazu, in welchen Fällen das eine oder das andere Interesse überwiegt. Hingegen hat der Fachsenat ein gestuftes (strukturiertes) Abwägungsverfahren entwickelt, das zwischen Fällen mit einem besonderen Offenlegungsinteresse, Standardfällen und Fällen mit einem besonderen Geheimhaltungsinteresse unterscheidet und für die Standardfälle einen Orientierungsrahmen für die regelmäßige Einlösung der postmortalen Vertraulichkeitszusage von 30 Jahren aufzeigt.
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4. Auch unter Berücksichtigung der vom 6. Senat vorgetragenen Kritik hält der Fachsenat sein Modell einer strukturierten und typisierenden Einzelfallprüfung für sachgerecht.
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a) Das Modell bewegt sich im Rahmen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 14. Februar 1973 – 1 BvR 112/65 – BVerfGE 34, 269 <286 ff.> und vom 25. Januar 2011 – 1 BvR 918/10 – BVerfGE 128, 193 <210 f.>). Die in § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO genannten Geheimhaltungsgründe sind teilweise von generalklauselartiger Weite. Insbesondere die Geheimhaltung für den Fall, dass die Offenlegung einer Information dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde (§ 99 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 VwGO), ist ähnlich wie der Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) in hohem Maße konkretisierungsbedürftig. Enthält ein Gesetz ein weitgehend offenes Rechtsprinzip ist es Aufgabe der Rechtsprechung, dessen Inhalt und Tragweite in Einzelfallentscheidungen zu entfalten. Dabei legen die Gerichte für in tatbestandlicher Hinsicht vergleichbare Lebenssituationen (Fallgruppen) unter Beachtung des normativen Prinzips regelmäßige Rechtsfolgen fest und wenden diese abstrakten Obersätze im Einzelfall gleichmäßig an. So hat die Rechtsprechung beispielsweise aus dem allgemeinen Grundsatz von Treu und Glauben konkrete Regeln für die Verwirkung eines über einen längeren Zeitraum nicht in Anspruch genommenen Rechtes hergeleitet (vgl. BVerwG, Beschluss vom 11. September 2018 – 4 B 34.18 – Buchholz 310 § 70 VwGO Nr. 28 Rn. 4 ff. m.w.N. für materielle und prozessuale Nachbarrechte im Baurecht).
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Im Rahmen des § 99 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 VwGO hat der Fachsenat in der Vergangenheit das allgemeine Gebot der Geheimhaltung im Gemeinwohlinteresse für diverse Fallgruppen näher bestimmt, z. B. für Partnerdienstinformationen, für Angaben über die Arbeitsweise und Organisation der Sicherheitsbehörden oder für Akteninhalte im Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung (vgl. Neumann, In-camera-Verfahren vor den Verwaltungsgerichten, DVBl 2016, 473 <476 f.> m.w.N.). Bei der Entscheidung vom 24. Oktober 2018 hat der Fachsenat seine Rechtsprechung für die Fallgruppe der unbeschränkten und unbedingten Vertraulichkeitszusage überprüft und unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Fall Lembke durch Bildung neuer Obersätze abgeändert (BVerwG, Beschluss vom 24. Oktober 2018 – 20 F 15.16 – BVerwGE 163, 271). Dass er dabei für die Normalfälle einen zeitlichen Orientierungsrahmen von 30 Jahren nach dem Tode für die weitere Geheimhaltung vorgegeben hat, überschreitet die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung ebenfalls nicht. Die Festlegung eines Zeitmoments hat sich nicht nur bei der Verwirkung, sondern auch in anderen Fällen als hilfreich erwiesen. So hat die Rechtsprechung beispielsweise aus dem allgemeinen Prinzip der Rechtssicherheit und dem rechtsstaatlichen Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit den Grundsatz entwickelt, dass vorläufige Bewilligungsbescheide für Dotationen jedenfalls nach 30 Jahren nicht mehr abgeändert werden können (BVerwG, Urteil vom 15. März 2017 – 10 C 1.16 – Buchholz 451.55 Subventionsrecht Nr. 116 Rn. 29).
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b) Der 6. Senat moniert, es habe für die Aufstellung einer solchen „Regelvermutung“ keinen Bedarf gegeben, weil der Fachsenat auf der Grundlage der ihm vorliegenden ungeschwärzten Akten den vollen Zugriff für eine eigene tatrichterliche Feststellung und Würdigung der Umstände des Einzelfalls habe. Dieser Einwand der mangelnden Notwendigkeit einer Typisierung lässt zum einen das Bedürfnis der noch lebenden Informanten und der Nachrichtendienste nach einer hinreichenden Vorhersehbarkeit der von den Gerichten anerkannten Geheimhaltungsdauer außer Acht. Zum anderen berücksichtigt er die bei der Sperrung von Akteninhalten stattfindenden Arbeitsprozesse nicht.
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Der Fachsenat umschreibt die Fallgruppen, die eine Zurückhaltung oder Schwärzung von Aktenbestandteilen zulassen, in seiner Rechtsprechung auch deswegen eingehend, weil es zunächst Aufgabe der obersten Aufsichtsbehörde ist, über eine teilweise oder völlige Sperrung der Akten zu entscheiden. Sie hat am Anfang des Verfahrens das Vorliegen von Geheimhaltungsgründen im Sinne des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO zu prüfen und eine Ermessensentscheidung darüber zu treffen, ob sie Aktenbestandteile bei Abwägung mit dem Grundrecht des Antragstellers auf effektiven Rechtsschutz und dem öffentlichen Interesse an einer umfassenden Sachaufklärung teilweise oder ganz zurückhält. Sie muss im Rahmen der Sperrerklärung die Geheimhaltungsgründe für jede Auslassung und jede Schwärzung im Einzelnen darlegen. Dazu muss sie etwa nachforschen, wann ein Informant verstorben und ob ihm eine über den Tod hinausgehende Vertraulichkeitszusage erteilt worden ist. Der Fachsenat kontrolliert diese Entscheidung lediglich.
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Darum ist es wichtig, der Aufsichtsbehörde operationale Handlungsanweisungen zu geben. Sind in einem Verfahren etwa sieben verstorbene Informanten erwähnt und liegen für alle unbedingte Vertraulichkeitszusagen vor, dann erleichtert und beschleunigt eine strukturierte Einzelfallprüfung mit einem zeitlichen Orientierungsrahmen für Standardfälle die Arbeit der Aufsichtsbehörde und des Fachsenats. Hingegen würde die rein abstrakte und vage Anweisung, bei jedem Informanten nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls zu entscheiden, den Entscheidungsprozess nicht erleichtern.
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c) Der Aspekt der Verwaltungspraktikabilität ist aber nicht der maßgebliche Grund dafür, dass der Fachsenat bei Vorliegen einer unbeschränkten Vertraulichkeitszusage im Normalfall eine 30-jährige Geheimhaltung nach dem Tod für angemessen hält. Vielmehr geht und ging es dem Fachsenat darum, dass der Staat gegenüber dem Informanten eine gesetzlich zulässige Verpflichtung eingegangen ist, auf deren Einhaltung der Informant vertraut hat und im Normalfall vertrauen durfte. Auch das Bundesverfassungsgericht hebt hervor, dass mit der Geheimhaltungszusage ein Vertrauensschutztatbestand im Sinne des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG gesetzt worden ist (BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2017 – 2 BvE 1/15 – BVerfGE 146, 1 Rn. 104). Hat aber eine Behörde aus sachlichen Gründen eine Zusage erteilt, dann entspricht es dem Grundsatz „pacta sunt servanda“, sie einzuhalten. Die Einlösung des gegebenen Wortes hat daher unter dem Aspekt des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes einen eigenen Stellenwert, sodass es bei der Gewichtung der für eine Geheimhaltung sprechenden öffentlichen und privaten Belange nicht nur um die Frage gehen kann, welche vorhersehbaren konkreten Folgen der Bruch des gegebenen Wortes im Einzelfall hat.
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Die regelhafte Einhaltung der Geheimhaltungszusagen liegt aber auch deswegen im öffentlichen Interesse, weil von der verlässlichen Erfüllung solcher Versprechen die Glaubwürdigkeit eines Nachrichtendienstes abhängt. Wie das Bundesverfassungsgericht anschaulich erläutert hat, schwächt die Herausgabe der persönlichen Daten von erst kürzlich verstorbenen Informanten das generelle Vertrauen in die Wirksamkeit von Geheimhaltungszusagen, erschwert in der Regel die Anwerbung neuer Informanten und belastet die Zusammenarbeit mit vorhandenen Quellen (BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2017 – 2 BvE 1/15 – BVerfGE 146, 1 Rn. 123). Die Enttarnung vor kurzem verstorbener Informanten hat naturgemäß im Einzelfall besonders nachteilige Wirkungen auf die Zusammenarbeit des Nachrichtendienstes mit anderen Informanten aus seinem näheren oder weiteren Umfeld. Daraus kann aber nach Ansicht des Fachsenats nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass in allen Fällen, in denen aus dem ehemaligen Umfeld keine Informanten mehr aktiv sind, in beliebiger Anzahl unmittelbar nach dem Tod der Informanten deren persönlichen Daten offengelegt werden können. Denn auch eine solche Offenlegungspraxis würde zwangsläufig bekannt werden und müsste sich in gleicher Weise negativ auf die Anwerbungspraxis der Nachrichtendienste auswirken.
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Die beiden Aspekte – das Vertrauensschutzinteresse und das Anwerbungsinteresse – sprechen dafür, dass die Nachrichtendienste im Normalfall bei über den Tod hinausgehenden Geheimhaltungszusagen ihr Wort auch einhalten. Da die Betroffenen gleichartige Zusagen erhalten haben und das Interesse der Nachrichtendienste auf deren gleichmäßige Einhaltung gerichtet ist, geht der Fachsenat davon aus, dass die Abwägung der Geheimhaltungsinteressen mit den gegenläufigen Interessen im Normalfall auch zu dem gleichen Ergebnis führt. Er sieht eine adäquate Einlösung dieser Zusagen darin, dass die Vertraulichkeit grundsätzlich über einen Zeitraum von 30 Jahren über den Tod hinaus gewährleistet wird. In dieser Zeitspanne von einer Generation ist die Erinnerung an den Verstorbenen typischerweise in dessen Umfeld noch präsent und lebendig, sodass auf die Wahrung der Vertraulichkeit in diesem Zeitraum typischer Weise besonderer Wert gelegt wird (BVerwG, Beschluss vom 24. Oktober 2018 – 20 F 15.16 – BVerwGE 163, 271 Rn. 33).
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d) Soweit der 6. Senat einwendet, dass in diesem Normalfall die gegenläufigen grundrechtsfundierten Interessen an einer Offenlegung der Namen der Informanten unberücksichtigt blieben, geht dies fehl. Wie bereits ausgeführt, ist die unbedingte und unbefristete Geheimhaltungszusage ihrem wörtlichen Verständnis nach auf eine dauerhafte Unzugänglichmachung der Klarnamen der Informanten gerichtet. Die gegenläufigen öffentlichen und privaten Interessen an der von staatlicher Seite unbeschränkten Erforschung und Publikation der historischen Zusammenhänge lassen eine zeitlich unbefristete Geheimhaltung jedoch nicht zu. Da diese Belange mit zunehmender zeitlicher Entfernung zum Tod des Informanten ein Übergewicht gegenüber deren Vertrauensschutzinteressen und dem Anwerbungsinteresse der Nachrichtendienste gewinnen, lässt der Fachsenat eine Offenlegung der Namen 30 Jahre nach dem Tod grundsätzlich zu, soweit nicht ausnahmsweise besondere Umstände eine weitere Geheimhaltung rechtfertigen.
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Damit sind die gegenläufigen Interessen nach Einschätzung des Fachsenats nicht nur im Normalfall, sondern auch im vorliegenden Fall ausreichend gewichtet. Denn es geht nicht darum, dass der Presse oder der Wissenschaft sämtliche Informationen des Bundesnachrichtendienstes zur zeitgeschichtlich bedeutsamen „Spiegel-Affäre“ vorenthalten werden. Vielmehr geht es nur darum, dass die Namhaftmachung einzelner Informanten für einen längeren Zeitraum verwehrt wird. Auch ohne die Kenntnis der Klarnamen dieser Informanten können sich die Presse und die historische Forschung bereits aus den geschwärzten Unterlagen in erheblichem Umfang ein Bild von der Rolle des Bundesnachrichtendienstes in der Spiegel-Affäre machen, sodass die zeitlich limitierte Zurückhaltung der Personalien beteiligter Informanten hingenommen werden kann. Dieser Ansatz einer zeitlich begrenzten weiteren Zurückhaltung ist auch im vorliegenden Verfahren konsequent verfolgt worden. Die vom Bundesnachrichtendienst geltend gemachten besonderen Umstände für eine weitere Geheimhaltung wurden bei einem seit mehr als 40 Jahren verstorbenen Informanten nicht anerkannt.
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e) Einer ausreichenden Berücksichtigung der entgegenstehenden öffentlichen und privaten Interessen dient auch die „Ausnahme“ von der 30-jährigen Geheimhaltung bei NS-Tätern und Schwerkriminellen. Dass darin Umstände liegen, die bei der gebotenen Einzelfallprüfung eine vorzeitige Offenlegung der Personalien verstorbener Informanten rechtfertigen, ist nicht – wie der 6. Senat annimmt – inkonsistent, sondern der Notwendigkeit einer Einzelfallprüfung unter Auswertung des Akteninhalts geschuldet. Zum einen ist das Vertrauen von Informanten auf die zugesagte Geheimhaltung wenig schutzwürdig, wenn sie ihrerseits den Nachrichtendiensten gegenüber eigene Verstrickungen in das NS-Regime oder in schwerkriminelle bzw. terroristische Aktivitäten verschwiegen und damit einen gravierenden Vertrauensbruch begangen haben. Zum anderen ist das Interesse von Presse, Medien und Geschichtsforschung an der Aufklärung der Verbindungen früherer NS-Täter oder Schwerkrimineller zu den Nachrichtendiensten im Vergleich zum Normalfall höher zu gewichten. Daher trägt die Rechtsprechung des Fachsenats genau in diesen Fällen dem höheren Gewicht der gegenläufigen öffentlichen und privaten Interessen dadurch Rechnung, dass nach Prüfung der Umstände des Einzelfalls eine vorzeitige Offenlegung befürwortet wird.
34
Soweit der Fachsenat zur weiteren Begründung dieser Ansicht ausgeführt hat, den durchschnittlichen Informanten würde die posthume Offenlegung der Quellentätigkeit eines NS-Täters oder Terroristen nicht von der (weiteren) Zusammenarbeit mit dem Bundesnachrichtendienst abhalten (BVerwG, Beschluss vom 24. Oktober 2018 – 20 F 15.16 – BVerwGE 163, 271 Rn. 31), erscheint auch dies bei nochmaliger Prüfung stichhaltig. Dem Fachsenat ging es dabei nicht – wie der 6. Senat kritisiert – um die Typusbildung eines „durchschnittlichen Informanten“, sondern um die Prognose, dass die vorzeitige Offenlegung der persönlichen Daten solcher Informanten für die überwiegende Zahl der übrigen („durchschnittlichen“) Informanten nicht als Kooperationshindernis angesehen werden wird. Davon ging – wie ausgeführt – im Ergebnis auch das Bundesverfassungsgericht im Fall Lembke aus.
II
35
Die beabsichtigte Anrufung des Großen Senats dürfte auch nicht statthaft sein. Die Besonderheiten des In-camera-Verfahrens, das mit einer rechtskräftigen Zwischenentscheidung endet, schließt die nachfolgende Anrufung des Großen Senats zum Zwecke der Kontrolle der zuvor verwendeten rechtlichen Maßstäbe aus. Dafür spricht insbesondere der lex-specialis-Grundsatz (1.). Zudem erscheint es äußerst fraglich, ob die Voraussetzungen der Divergenz nach § 11 Abs. 2 VwGO vorliegen (2.) und ob – wie der 6. Senat andeutet – bei deren Fehlen die Anrufung des Großen Senats wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 11 Abs. 4 VwGO möglich ist (3.).
36
1. Die gegen eine Statthaftigkeit der Anrufung des Großen Senats sprechende Spezialität des in § 99 VwGO geregelten In-camera-Verfahrens erschließt sich bei näherer Betrachtung von Zweck und Zuschnitt des Verfahrens nach § 99 VwGO (a), des Normzwecks und des Ablaufs des Anrufungsverfahrens nach § 11 VwGO (b) und beim Vergleich der beiden Zwischenverfahren (c).
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a) Das In-camera-Verfahren ist gesetzlich eingebettet in das Beweismittelrecht der Verwaltungsgerichtsordnung. Es geht davon aus, dass die Verwaltungsgerichte bei der Kontrolle der Verwaltung deren Akten und elektronische Dokumente beiziehen und die Verwaltung zur Abgabe wahrheitsgemäßer Auskünfte verpflichten können. Bei triftigen Geheimhaltungsgründen kann (Ermessen) die oberste Aufsichtsbehörde die Vorlage von Akten, elektronischen Dokumenten und Auskünften (ganz oder teilweise) verweigern (sogenannte Sperrerklärung). Wenn ein Beteiligter dies beantragt und das Hauptsachegericht die verweigerten Unterlagen nach den für den materiell-rechtlichen Streit maßgeblichen Normen für entscheidungserheblich erklärt, beginnt ein Zwischenverfahren: das In-camera-Verfahren.
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Dafür begründet das Gesetz eine ausschließliche Zuständigkeit. Nicht das in der Hauptsache zuständige Gericht, sondern ein spezieller Spruchkörper des Oberverwaltungsgerichts oder des Bundesverwaltungsgerichts sichtet die zurückgehaltenen (ungeschwärzten) Unterlagen und entscheidet, ob die Geheimhaltungsgründe des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO vorliegen. Es gibt für jedes Land und den Bund nur einen für die Prüfung der Geheimhaltungsfragen zuständigen Senat („camera“), den § 189 VwGO als Fachsenat bezeichnet. Die Mitglieder dieses Fachsenats werden auf vier Jahre bestellt und sind zur Geheimhaltung verpflichtet. Der Zweck der Übertragung auf wenige langfristig zusammengesetzte Spruchkörper besteht darin, den Kreis der Geheimnisträger klein zu halten und eine Spezialisierung und besondere Expertise im Bereich der Geheimhaltungsprüfung zu erreichen. Die Fachsenate entscheiden nach § 99 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss; dessen Begründung darf keine Rückschlüsse auf geheim zu haltende Aktenteile zulassen.
39
Für diese Entscheidungen gibt es auch einen ausschließlichen Rechtsmittelzug. Gemäß § 99 Abs. 2 Satz 12 VwGO können Entscheidungen der Fachsenate der Oberverwaltungsgerichte mit der Beschwerde angefochten werden. Der Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts prüft dann die von den Vorinstanzen angelegten rechtlichen Maßstäbe und deren Anwendung auf die tatsächlichen Umstände des Einzelfalls (Sach- und Rechtsprüfung). Die Verlagerung der Geheimhaltungsprüfung auf spezialisierte Fachsenate und der spezielle Beschwerdeweg zum Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts dienen der Vereinheitlichung der Rechtsprechung. Dabei kommt dem Fachsenat des Bundesverwaltungsgerichts als letzte Instanz in besonderem Maße die Aufgabe der Rechtsfortbildung auf diesem eng umrissenen Gebiet zu, weil die in § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO genannten Geheimhaltungsgründe (Wohl des Bundes oder eines Landes, wesensmäßiges Geheimnis, gesetzliche Geheimhaltungsgründe) von generalklauselartiger Weite und in hohem Maße konkretisierungsbedürftig sind.
40
Die Beschlüsse der Fachsenate erwachsen in materielle Rechtskraft. Sie sind für die Beteiligten und das Hauptsachegericht wie rechtskräftige Zwischenurteile bindend (BVerwG, Beschlüsse vom 26. Januar 1968 – 7 B 75.67 – BVerwGE 29, 72 <73> und vom 24. November 2003 – 20 F 13.03 – BVerwGE 119, 229 <231>). Diese Bindungswirkung bezieht sich nur auf die prozessuale Frage, ob und in welchem Umfang Akten, elektronische Dokumente oder Auskünfte dem Hauptsachegericht als Beweismittel zur Verfügung stehen (BVerwG, Beschlüsse vom 26. Januar 1968 – 7 B 75.67 – BVerwGE 29, 72 <73> und vom 24. November 2003 – 20 F 13.03 – BVerwGE 119, 229 <231>). Da die darin liegende Beschwer im Hauptsacheverfahren nicht mehr aufgehoben werden kann, kann ein Prozessbeteiligter gegen die Zwischenentscheidung des Fachsenats unmittelbar Verfassungsbeschwerde erheben (BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 1999 – 1 BvR 385/90 – BVerfGE 101, 106 <120>; BVerwG, Urteil vom 27. Juni 2013 – 7 A 15.10 – Buchholz 310 § 108 Abs. 1 Nr. 78 Rn. 25).
41
Aus der Rechtskraft der Fachsenatsentscheidungen und aus der Ausschließlichkeit des Rechtsmittelweges folgt, dass im nachfolgenden Hauptsacheverfahren nicht mehr geprüft wird, ob der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts oder des Bundesverwaltungsgerichts zu Recht Geheimhaltungsgründe im Sinne des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO angenommen hat. Ein Rechtsmittel des Gerichts der Hauptsache gegen den Beschluss des Fachsenats im Zwischenverfahren sieht die Verwaltungsgerichtsordnung nicht vor. Ebenso wenig kann eine Nichtzulassungsbeschwerde oder eine Revision darauf gestützt werden, dass der Fachsenat § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO verfahrensfehlerhaft angewandt hätte oder dass die von ihm aufgestellten Geheimhaltungsgrundsätze im Rahmen einer Grundsatzrevision kontrolliert werden müssten. § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 557 Abs. 2 ZPO schließt unanfechtbare Zwischenentscheidungen von der Beurteilung des Revisionsgerichts aus. Damit ist die Auslegung und Anwendung des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO nach dem Willen des Gesetzgebers dem Revisionsverfahren entzogen, also im Ergebnis nicht revisibel.
42
Das In-camera-Verfahren stellt sich insgesamt als ein Zwischenverfahren dar, dass aus Gründen der Geheimhaltung und der Rechtsvereinheitlichung auf spezialisierte Senate und einen eigenen Rechtsmittelzug verlagert worden ist. Den Fachsenaten obliegt die abschließende Entscheidung einer rein prozessualen, beweismittelrechtlichen Vorfrage. Welche Auswirkungen die teilweise oder völlige Sperrung von Akten, elektronischen Dokumenten oder Auskünften auf die materiell-rechtlichen Ansprüche hat, ist vom Hauptsachegericht zu entscheiden. Je nach Streitgegenstand und materiell-rechtlicher Regelung wird das damit verbundene Aufklärungsdefizit im Hauptsacheverfahren mit Hilfe von Beweislastgrundsätzen oder durch Annahme einer präjudiziellen Bedeutung des Fachsenatsbeschlusses geschlossen (vgl. Neumann, In-camera-Verfahren vor den Verwaltungsgerichten, DVBl 2016, 473 <482>). Diese Folgerungen ergeben sich aus dem materiellen Recht, nicht aus dem Zwischenverfahren nach § 99 VwGO.
43
b) Auch die Anrufung des Großen Senats nach § 11 VwGO ist ein Zwischenverfahren. Ihm liegt die Erfahrung zugrunde, dass die rechtsprechende Gewalt konstitutionell uneinheitlich ist. Die mit richterlicher Unabhängigkeit ausgestatteten Senate des Bundesverwaltungsgerichts können bei der Entscheidung derselben Rechtsfrage unterschiedlicher Meinung sein, sodass es aus Gründen der Rechtseinheit eines Verfahrens zur Zusammenführung dieser unterschiedlichen Rechtsauffassungen bedarf. Das Gesetz hat dabei zwei Fälle im Blick. Im ersten Fall will ein Senat von der bestehenden Rechtsprechung eines anderen Senats abweichen (Divergenzverfahren nach § 11 Abs. 2 VwGO). Im zweiten Fall will er zum Zwecke der Rechtsfortbildung oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung geklärt wissen (Grundsatzverfahren gemäß § 11 Abs. 4 VwGO).
44
Das Verfahren der Vereinheitlichung beginnt damit, dass der erkennende (vorlegende) Senat sich in der für Urteile erforderlichen Besetzung (große Besetzung mit fünf Richtern) trifft. Auch wenn im Beschlusswege eine kleinere Sprucheinheit zuständig wäre, muss für die Vorlage eine große Besetzung zusammentreten und beschließen (allg. M., vgl. Pietzner/Bier, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Januar 2020, § 11 Rn. 37 m.w.N.). Das Gleiche gilt für den Senat, von dessen Rechtsprechung abgewichen werden soll (§ 11 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Nur wenn in diesen großen Spruchkörpern jeweils unterschiedliche Rechtsauffassungen eine Mehrheit finden, tritt der Große Senat zusammen.
45
Der Große Senat setzt sich aus je einem Mitglied der Revisionssenate zusammen. Legt ein anderer als ein Revisionssenat vor oder soll von dessen Rechtsprechung abgewichen werden, ist auch ein Mitglied dieser Senate zu beteiligen (§ 11 Abs. 5 Satz 1 und 2 VwGO). Die Vereinheitlichung der Rechtsprechung erfolgt dadurch, dass der Große Senat über die Rechtsfrage – nicht über den Fall – entscheidet und der erkennende Senat daran gebunden ist (§ 11 Abs. 7 Satz 3 VwGO). Eine Bindungswirkung über den Einzelfall hinaus besteht nicht. Das Gesetz setzt darauf, dass durch die Einbindung einer großen Zahl von fachkundigen Richtern und durch den Austausch der Argumente in dem Diskussionsprozess die Bereitschaft zur künftigen Akzeptanz und Fortführung des gewonnenen Ergebnisses in vergleichbaren Fällen erwächst.
46
c) Der Vergleich der beiden Verfahren ergibt, dass es sich bei § 11 VwGO und § 99 VwGO um Zwischenverfahren handelt, in denen eine Teilfrage des Rechtsstreits separat entschieden wird und in denen diese Zwischenentscheidung für das Folgeverfahren verbindlich ist. Beide Verfahren dienen auf unterschiedliche Weise der Vereinheitlichung der Rechtsprechung. Im Verfahren des § 11 VwGO wird Einheitlichkeit über eine Rechtsfrage durch Diskurs und Übertragung auf einen größeren Spruchkörper erzielt. Im Verfahren des § 99 VwGO erfolgt die Vereinheitlichung durch die ausschließliche Zuweisung der Entscheidungsbefugnis über eine prozessuale Vorfrage an kleine spezialisierte Senate mit einem spezialisierten Rechtsmittelzug. Während die Anrufung des Großen Senats nach § 11 VwGO das allgemeine Verfahren der Rechtsvereinheitlichung in Fragen des Verwaltungs- und des Verwaltungsprozessrechts ist, stellt das In-camera-Verfahren nach § 99 VwGO ein spezielles Vereinheitlichungsverfahren für eine beweismittelrechtliche Vorfrage dar. Das legt die Annahme nahe, dass § 99 VwGO als spezielle und vorrangige Bestimmung, den Rückgriff auf das allgemeine Verfahren des § 11 VwGO ausschließt.
47
Für die Annahme einer solchen Spezialität spricht, dass das Vorlageverfahren zum Großen Senat auch in anderen Fällen nicht vorgesehen ist, in denen die Rechtsvereinheitlichung durch Vorlage an einen anderen Spruchkörper oder ein anderes Gericht gesetzlich geregelt ist. Ist etwa die Verfassungswidrigkeit einer Norm im Streit, sieht Art. 100 Abs. 1 GG die Vorlage an das Bundesverfassungsgericht vor. Geht es um die Vereinbarkeit mit Europarecht, gebietet Art. 267 AEUV die Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union. Will ein Senat des Bundesverwaltungsgerichts von der Rechtsprechung eines Senats eines anderen obersten Bundesgerichts abweichen, ist nach Art. 95 Abs. 3 GG i.V.m. dem Rechtsprechungs-Einheitlichkeitsgesetz der Gemeinsame Senat der obersten Bundesgerichte zuständig. In all diesen Fällen ist eine Vor- oder Nachschaltung der Anrufung des Großen Senats grundsätzlich nicht vorgesehen (vgl. Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 11 Rn. 4; Pietzner/Bier, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Januar 2020, § 11 Rn. 11 bis 13 – Ausnahme: Doppeldivergenz). Es ist nicht erkennbar, warum dies beim Verfahren nach § 99 VwGO anders gehandhabt werden sollte.
48
Es ist auch nicht ersichtlich, aus welchen Gründen nach dem In-camera-Verfahren eine weitere Rechtsvereinheitlichung notwendig wäre. Das gesamte Verfahren des § 11 VwGO fußt auf der Annahme, dass mehrere Senate mit derselben Problematik befasst werden und unterschiedlich entscheiden können. Genau dies verhindert § 99 VwGO, indem er nur einen speziellen Senat des Bundesverwaltungsgerichts mit der Frage der Verfügbarkeit von Beweismitteln bei Geltendmachung ihrer Geheimhaltungsbedürftigkeit befasst. Zu den dafür maßgeblichen Grundsätzen des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO muss kein anderer Senat judizieren. Die Revisionssenate werden damit nicht befasst, weil die Überprüfung dieser Rechtsfrage aus dem Revisionsverfahren ausgeklammert ist. Die erstinstanzlich als Ausgangsgericht angerufenen Senate des Bundesverwaltungsgerichts müssen die Geheimhaltungsbedürftigkeit nach der gesetzlichen Konstruktion ebenfalls nicht prüfen, sondern die Frage dem Fachsenat zur Entscheidung vorlegen und nach dessen rechtskräftiger Entscheidung über die Verfügbarkeit des Beweismittels daraus lediglich die Konsequenzen ziehen. Es ist anerkannt, dass die Anrufung des Großen Senats für die Rechtsfortbildung entbehrlich ist, wenn nach der Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichts nur ein Senat für eine Materie zuständig ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. Juni 1986 – 3 C 14.85 – BVerwGE 74, 251 <254>). Dies gilt erst recht, wenn bereits das Gesetz eine ausschließliche Zuständigkeit vorsieht.
49
Schließlich ist die Regelung des § 11 VwGO nicht auf den Fall zugeschnitten, dass ein und dasselbe Verfahren zunächst im Zwischenverfahren vor dem Fachsenat nach § 99 VwGO entschieden wird und dass danach der Große Senat über die bei der Prüfung nach § 99 VwGO anzuwendenden rechtlichen Maßstäbe befindet. Denn das Verfahren nach § 11 VwGO sieht vor, dass zunächst der Große Senat über die Rechtsfrage entscheidet und dass diese bindende Entscheidung dann im weiteren Verfahren zugrunde gelegt wird. § 11 VwGO enthält keine Regelung für den Fall, dass schon vor der Anfrage an den Großen Senat über die vorgelegte Rechtsfrage anderweitig durch ein Zwischenverfahren des Fachsenats rechtskräftig entschieden ist. Ansonsten enthielte § 11 Abs. 7 Satz 3 VwGO dafür eine Kassationsregelung. Der Fachsenat könnte auch nicht, wenn der Große Senat nach dem rechtskräftigen Abschluss des In-camera-Verfahrens für § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO andere Auslegungsmaßstäbe vorgeben würde, das Verfahren wiederaufnehmen. Denn eine Rechtsprechungsänderung stellt keinen Wiederaufnahmegrund im Sinne des § 153 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 578, 579, 583 ZPO dar (vgl. Rennert, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 153 Rn. 3 m.w.N.).
50
Auch ansonsten hat der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Rechtsvereinheitlichungsverfahrens nach § 11 VwGO die Einbeziehung des Fachsenats nicht vorgesehen. Er hat in erster Linie an eine Divergenz im Bereich der Rechtsprechung der Revisionssenate gedacht, die darum nach § 11 Abs. 5 Satz 1 VwGO stets im Großen Senat vertreten sind. In zweiter Linie hat er auch eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung der Revisionssenate mit den sonstigen, dem Bundesverwaltungsgericht angegliederten Senaten beabsichtigt. Die anderen Senate sind darum im Großen Senat nur vertreten, wenn sie selbst vorlegen oder wenn von ihren Entscheidungen abgewichen werden soll (§ 11 Abs. 5 Satz 2 VwGO).
51
Nach dem Wortlaut der Norm kann man zwar auch den Fachsenat oder den Großen Senat als anderen Senat begreifen. An sie hat der Gesetzgeber aber nicht gedacht. § 11 VwGO erhielt seine derzeitige Fassung durch das Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz vom 17. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2847), das am 1. Januar 1992 in Kraft trat. Mit „anderen Senaten“ im Sinne des § 11 Abs. 5 Satz 2 VwGO waren nach den Erläuterungen im Gesetzentwurf allein die seinerzeit bestehenden vier Senate des Bundesverwaltungsgerichts, die nicht Revisionssenate waren, gemeint (vgl. BT-Drs. 11/3621 S. 57 f.). Dies waren die beiden damaligen Disziplinarsenate und die beiden Wehrdienstsenate. Sowohl die mittlerweile aufgelösten Disziplinarsenate als auch die weiter fortbestehenden Wehrdienstsenate konnten bzw. können – wie es § 11 Abs. 3 Satz 3 VwGO vorgibt – in der „für Urteile erforderlichen Besetzung“ (d.h. durch fünf Richter, vgl. § 10 Abs. 3 VwGO, § 80 Abs. 3 WDO, § 55 Abs. 2 Satz 1 BDO a.F.) über eine Anfrage oder eine Antwort im Sinne des § 11 VwGO entscheiden.
52
Nach Einführung des In-camera-Verfahrens und der Vorschrift des § 189 VwGO über die Bildung des Fachsenats, welcher in den Gesetzesmaterialien als „Spezialsenat“ bezeichnet wird (BT-Drs. 14/7474 S. 14 und 15) und nach § 99 Abs. 2 VwGO ausschließlich in Beschlussform entscheidet, hat der Gesetzgeber § 11 VwGO nicht geändert. Daraus ist zu schließen, dass mit „anderen Senaten“ weiterhin nur solche gemeint sind, die in Urteilsform entscheiden. Hätte der Gesetzgeber auch den Fachsenat in § 11 VwGO einbeziehen wollen, hätte es nahegelegen, § 11 Abs. 5 Satz 2 VwGO anzupassen. Denn der Fachsenat fällt – wie der Große Senat – keine Urteile. Er fasst nach § 99 Abs. 2 VwGO nur Beschlüsse in der kleinen Besetzung aus drei Berufsrichtern und hat darum keine Urteilsbesetzung. Dementsprechend kann der Fachsenat auch die vorliegende Stellungnahme nur in Beschlussbesetzung abgeben. Es ist nicht davon auszugehen, dass dem Gesetzgeber dies nicht bekannt war oder dass er nur versehentlich für den Fachsenat oder den Großen Senat keine Besetzungsregelung getroffen hat. Vielmehr hat er für die Beteiligung des Fachsenats am Divergenzverfahren angesichts des ihm ausschließlich zugewiesenen Sonderbereichs ebenso wenig einen Bedarf gesehen wie für die Beteiligung des Großen Senats.
53
Demzufolge kann – anders als es der 6. Senat bislang beabsichtigt – nach der Durchführung des Zwischenverfahrens nach § 99 VwGO nicht noch ein zweites Zwischenverfahren nach § 11 VwGO durchgeführt werden. Dies käme dem in der Verwaltungsgerichtsordnung gerade nicht vorgesehenen Rechtsmittel des Hauptsachegerichts gegen Entscheidungen des Fachsenats gleich.
54
2. Außerdem ist fraglich, ob die Voraussetzungen eines Divergenzverfahrens nach § 11 Abs. 2 VwGO vorliegen. Nach dem Wortlaut der Norm kommt eine Vorlage in Betracht, wenn ein Senat von der Rechtsprechung des anderen Senats abweichen will. Es muss also eine Divergenz der Rechtsauffassungen (a), ein subjektiver Abweichungswille und die in der Norm mitgedachte objektive Abweichungsmöglichkeit bestehen (b).
55
a) Der 6. Senat hat selbst Zweifel am Vorliegen eines Divergenzfalles. Denn er deutet an, gegebenenfalls auf das Grundsatzverfahren auszuweichen. Der Grund für die Unsicherheit besteht darin, dass der Große Senat noch nicht abschließend darüber entschieden hat, wie der Begriff der Abweichung im Sinne des § 11 Abs. 2 VwGO auszulegen ist. Es liegt jedoch nahe, auf die im Revisionsrecht für die Divergenzrevision nach § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO entwickelten Maßstäbe zurückzugreifen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Juni 2018 – 4 BN 34.17 – juris Rn. 13). Denn der Wortlaut beider Vorschriften ist ähnlich und es gibt in beiden Fällen die Möglichkeit, bei mangelnder Erfüllung der Divergenzvoraussetzungen das Verfahren wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache einzuleiten.
56
Im Revisionsrecht ist geklärt, dass eine Divergenzrüge nur zulässig ist, wenn eine Abweichung der Rechtsauffassungen hinsichtlich derselben Rechtsvorschrift vorliegt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. August 1997 – 7 B 261.97 – Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26 S. 14; Kraft, in: Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 132 Rn. 32). Dementsprechend hat der 9. Senat bereits ausgeführt, dass in der Vorschrift des § 11 Abs. 2 VwGO in gleicher Weise nur diese Binnendivergenz, d.h. die Unterschiedlichkeit der Rechtsauffassungen zur selben Vorschrift, gemeint ist (BVerwG, Beschluss vom 14. September 2016 – 9 B 2.06 – Buchholz 401.9 Beiträge Nr. 44 Rn. 14; ähnlich, Beschluss vom 21. Januar 2003 – 1 C 5.02 – BVerwGE 117, 332 <345>; ebenso Pietzner/Bier, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Januar 2020 § 11 Rn. 18). Im vorliegenden Fall hat der Fachsenat ausschließlich zu § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO judiziert, während der 6. Senat nur zu § 13 BArchG und zum allgemeinen presserechtlichen Auskunftsanspruch entscheiden kann. Eine Abweichung im Sinne des § 11 Abs. 2 VwGO liegt darum schon mangels gemeinsamer normativer Regelung nicht vor.
57
b) Für die Anrufung des Großen Senats im Divergenzverfahren fehlt es zudem an der von § 11 Abs. 2 VwGO vorausgesetzten objektiven Abweichungsmöglichkeit. Über den unvollständigen Wortlaut des § 11 Abs. 2 VwGO hinaus ist neben dem subjektiven Willen zur Abweichung von einer anderen Rechtsauffassung auch objektiv die konkrete Möglichkeit zu einer entsprechenden anderweitigen Entscheidung vonnöten. Dies folgt aus dem Sinn und Zweck des Anrufungsverfahrens und aus dem normativen Zusammenhang der Anrufung nach § 11 Abs. 2 VwGO und der Entscheidung gemäß § 11 Abs. 7 VwGO. Folgt nämlich der Große Senat der abweichenden Meinung des vorlegenden Senats, dann schreibt er die Anwendung dieser neuen Rechtsauffassung für den konkreten Einzelfall bindend vor (§ 11 Abs. 7 Satz 3 VwGO). Dies beruht auf der Vorstellung, dass der vorlegende Senat dann auf der Grundlage dieser Rechtsauffassung abweichend entscheiden wird. Dazu muss es aber auf diese Rechtsauffassung auch entscheidungserheblich ankommen (BVerwG, Urteil vom 29. August 1963 – 8 C 79.62 – BVerwGE 16, 273 <277> und Beschluss vom 16. März 1964 – GrSen 1.63 – Buchholz 310 § 11 VwGO Nr. 6 S. 12 f.). Ansonsten hat die Anrufung des Großen Senats keinen Sinn. Die Anrufung des Großen Senats ist zur Vorbereitung einer offenen Entscheidung des vorlegenden Senats geschaffen worden. Sie dient nicht dazu, einen anderen Senat rückwirkend über die Unrichtigkeit der in einem abgeschlossenen Verfahren vertretenen Rechtsauffassung zu belehren.
58
Im vorliegenden Fall hat der 6. Senat jedoch nicht die Möglichkeit, auf der Grundlage seiner ausführlich referierten Rechtsauffassung zu entscheiden. Sie ist für den Ausgang des Verfahrens nicht entscheidungserheblich. Soweit es um die Auslegung und Anwendung des § 99 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 VwGO geht, liegt es auf der Hand, dass der 6. Senat nicht selbst abweichend darüber entscheiden kann, in welchem Umfang die Akten im Hauptsacheverfahren geschwärzt oder ungeschwärzt vorgelegt werden. Denn darüber entscheidet nach § 99 i.V.m. § 189 VwGO allein der Fachsenat. Auch wenn der Große Senat die vom 6. Senat dazu aufgestellten Rechtsgrundsätze zu § 99 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 VwGO für verbindlich erklären würde, könnte der 6. Senat nicht anstelle des Fachsenats über die prozessuale Offenlegung entscheiden. Hinzu kommt, dass der Fachsenat im vorliegenden Fall schon mit Beschluss vom 3. Januar 2020 im In-camera-Verfahren abschließend entschieden hat. Die Beteiligten und der 6. Senat sind rechtskräftig daran gebunden, dass diese Beweismittel für die materiell-rechtliche Entscheidung nur in teilweise geschwärzter Form zur Verfügung stehen.
59
Der 6. Senat kann auch die noch ausstehende presserechtliche Entscheidung nicht auf der Grundlage der von ihm befürworteten Rechtsauffassung treffen. Denn danach kommt es für die Frage, ob Gründe des öffentlichen Wohls dem presserechtlichen Auskunftsbegehren auf Mitteilung der Personalien verstorbener Informanten entgegenstehen, auf eine umfassende Abwägung aller Umstände des Einzelfalls an. Dies setzt die Kenntnis der Person des Informanten, der Dauer seines Einsatzes, des Umfelds, in dem er mitgewirkt hat und der seit seinem Versterben verstrichenen Zeit voraus. Diese Informationen liegen dem 6. Senat aufgrund einer rechtskräftigen Sperrerklärung des Beklagten nicht vor. Dem 6. Senat fehlt damit das erforderliche Tatsachenwissen für die von ihm geforderte umfassende Einzelfallabwägung. Er könnte somit aus prozessualen Gründen nicht auf der Grundlage der von ihm vertretenen Rechtsauffassung entscheiden. Er könnte nur entweder nach Beweislastgrundsätzen (vgl. z.B. BVerwG, Urteil vom 27. September 2006 – 3 C 34.05 – BVerwGE 126, 365 Rn. 19 ff.) entscheiden oder dem Beschluss des Fachsenats – wie bisher – eine präjudizielle Bedeutung beimessen (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Juli 2013 – 7 A 15.10 – Buchholz 310 § 108 Abs. 1 VwGO Nr. 78 Rn. 23 f.).
60
3. Aus demselben Grund begegnet die vom 6. Senat alternativ erwogene Anrufung des Großen Senats wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Auch bei § 11 Abs. 4 VwGO liegt es nahe, bei der Auslegung des Begriffs der grundsätzlichen Bedeutung auf die zur Grundsatzrevision im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO entwickelten Maßstäbe zurückzugreifen (vgl. Pietzner/Bier, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Januar 2020, § 11 Rn. 53). Dafür spricht nicht nur die Ähnlichkeit des Wortlauts der beiden Bestimmungen, sondern auch der Umstand, dass der Große Senat im Fall der Grundsatzanrufung ausschließlich mit Vertretern der Revisionssenate besetzt ist.
61
Bei der Grundsatzrevision ist es jedoch geklärt, dass es für die Durchführung des Revisionsverfahrens auf die Entscheidungserheblichkeit der als grundsätzlich bezeichneten Rechtsfrage ankommt (stRspr, vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 2. Oktober 1961 – 8 B 78.61 – BVerwGE 13, 90 <91 f.> und vom 30. März 2005 – 1 B 11.05 – NVwZ 2005, 709 <709>). In gleicher Weise ist nach der Rechtsprechung anderer oberster Bundesgerichte die Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage Voraussetzung für die Grundsatzanrufung des Großen Senats (BSG, Beschluss vom 19. Dezember 1996 – GS 2/95 – BSGE 80, 24 <27>; BGH, Beschluss vom 3. Mai 1994 – GSSt 2/93, 3/93 – BGHSt 40, 138 <144>; BFH, Beschluss vom 12. Mai 2003 – GrS 1/00 – BFHE 202, 464 <467>).
62
Daran fehlt es hier aus den dargelegten Gründen. Darum bedarf es auch keiner weiteren Vertiefung der Frage, ob auch die mangelnde revisionsgerichtliche Überprüfbarkeit des § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO der Anrufung des Großen Senats entgegensteht. Im Schrifttum wird jedenfalls ausdrücklich formuliert, dass die Anrufung des Großen Senats wegen grundsätzlicher Bedeutung nur möglich ist, wenn die maßgebliche Rechtsnorm dem revisiblen Recht angehört und auch dem verfahrensrechtlichen Zugriff des Revisionsgerichts unterliegt (vgl. Pietzner/Bier, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Januar 2020, § 11 Rn. 53). Daran mangelt es bei § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO, weil die Zwischenentscheidungen des Fachsenats nach § 173 Satz 1 VwGO i.V.m. § 557 Abs. 2 ZPO nicht der revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegen.