Beschluss des BVerwG 7. Senat vom 29.10.2020, AZ 7 VR 6/20, 7 VR 6/20 (7 A 16/20)

BVerwG 7. Senat, Beschluss vom 29.10.2020, AZ 7 VR 6/20, 7 VR 6/20 (7 A 16/20), ECLI:DE:BVerwG:2020:291020B7VR6.20.0

Tenor

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen den Planfeststellungsbeschluss des Eisenbahn-Bundesamtes vom 24. August 2020 wird abgelehnt.

Die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen trägt die Antragstellerin.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 7 500 € festgesetzt.

Gründe

I

1

Die Antragstellerin wendet sich gegen den Planfeststellungsbeschluss des Eisenbahn-Bundesamtes vom 24. August 2020 für das Vorhaben „Neubau S-Bahnlinie S4 (Ost) Hamburg – Bad Oldesloe, Planungsabschnitt 1 Hasselbrook – Luetkensallee in der Freien und Hansestadt Hamburg im Bezirk Wandsbek“. Sie begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage.

2

Die Antragstellerin ist Eigentümerin eines parkähnlichen unter anderem mit wertvollen Rotbuchen bestandenen von ihr selbst zu Wohnzwecken genutzten Grundstücks, das an die vorhandene Trasse angrenzt. Sie macht geltend, ihr Eigentum werde in unverhältnismäßigem Umfang bauzeitlich und dauerhaft in Anspruch genommen; unwiederbringlicher Bewuchs ginge verloren.

3

Mit ihrer Klage (BVerwG 7 A 16.20) begehrt die Antragstellerin die Aufhebung, hilfsweise die Feststellung der Rechtswidrigkeit und Nichtvollziehbarkeit des Planfeststellungsbeschlusses.

II

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1. Der Antrag ist zulässig.

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1. 1. Die Antragstellerin ist als Eigentumsbetroffene antragsbefugt. Teile ihres Grundstücks sollen für das planfestgestellte Vorhaben dauerhaft bzw. zumindest vorübergehend in Anspruch genommen werden. Als Grundstückseigentümerin kann sie geltend machen, durch den Planfeststellungsbeschluss unmittelbar in ihren Rechten aus Art. 14 GG verletzt zu sein (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 21. Januar 2016 – 4 A 5.14 – BVerwGE 154, 73 Rn. 19 sowie Beschluss vom 19. Dezember 2019 – 7 VR 6.19 – juris Rn. 6).

6

1.2. Das Bundesverwaltungsgericht ist als Gericht der Hauptsache nach § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO i.V.m. Nr. 41 der Anlage 1 zu § 18e Abs. 1 AEG für die Entscheidung über den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Klage gemäß § 80a Abs. 3, § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zuständig. Der Neubau der S-Bahnlinie S4 (Ost) Hamburg – Bad Oldesloe ist im Bundesverkehrswegeplan als Teilmaßnahme des Knotens Hamburg aufgeführt und näher beschrieben. Der Knoten Hamburg ist seinerseits in der Anlage zu § 1 Abschnitt 2, Unterabschnitt 2 des Gesetzes über den Ausbau der Schienenwege des Bundes (Bundesschienenwegeausbaugesetz – BSWAG) vom 15. November 1993 (BGBl. I S. 1874), zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3221) – Bedarfsplan für die Bundesschienenwege – unter Nr. 39 als „Vorhaben des Potenziellen Bedarfs, die in den VB aufsteigen können“ ausgewiesen. Durch die am 5. November 2018 bekanntgegebene Entscheidung des Ministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (Bundesverkehrsministeriums) über die Bewertung der Schienenausbauvorhaben des potenziellen Bedarfs ist er in den vordringlichen Bedarf aufgestiegen und Teil des in der Anlage 1 zu § 18e Abs. 1 AEG unter Nr. 41 und gleichzeitig im Bedarfsplan für die Bundesschienenwege in Abschnitt 2, Unterabschnitt 1 unter Nr. 25 als vordringlicher Bedarf ausgewiesenen Großknotens Hamburg geworden.

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1.3. Der angefochtene Planfeststellungsbeschluss ist nach § 18e Abs. 2 Satz 1 AEG kraft gesetzlicher Anordnung sofort vollziehbar. Danach hat die Anfechtungsklage gegen einen Planfeststellungsbeschluss für den Bau oder die Änderung von Betriebsanlagen der Eisenbahnen des Bundes, für die nach dem Bundesschienenwegeausbaugesetz vordringlicher Bedarf festgestellt ist, keine aufschiebende Wirkung. Das Vorhaben ist – wie gezeigt – im Bundesbedarfsplan in Abschnitt 2, Unterabschnitt 1 unter Nr. 25 als vordringlicher Bedarf ausgewiesen.

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2. Der Antrag ist nicht begründet.

9

2.1. Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den nach § 18e Abs. 2 Satz 1 AEG sofort vollziehbaren Planfeststellungsbeschluss anordnen.

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In Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80a Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht auf der Grundlage einer eigenen Abwägung der widerstreitenden Vollzugs- und Suspensivinteressen. Wesentliches Element dieser Interessenabwägung ist die Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache, die dem Charakter des Eilverfahrens entsprechend nur aufgrund einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erfolgen kann. Ist es – wegen der besonderen Dringlichkeit einer alsbaldigen Entscheidung oder wegen der Komplexität der aufgeworfenen Sach- und Rechtsfragen – nicht möglich, die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache wenigstens summarisch zu beurteilen, so sind allein die einander gegenüberstehenden Interessen unter Berücksichtigung der mit der Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einerseits und deren Ablehnung andererseits verbundenen Folgen zu gewichten (vgl. nur BVerwG, Beschlüsse vom 23. Januar 2015 – 7 VR 6.14 – NVwZ-RR 2015, 250 Rn. 8 m.w.N. sowie vom 19. Dezember 2019 – 7 VR 6.19 – juris Rn. 9).

11

Bei der Gewichtung der einander gegenüberstehenden Vollzugs- und Suspensivinteressen ist von maßgeblicher Bedeutung, dass der Gesetzgeber ausweislich des § 18e Abs. 2 Satz 1 AEG dem Vollzugsinteresse – und damit der beschleunigten Umsetzung eisenbahnrechtlicher Planungsentscheidungen – erhebliches Gewicht beimisst (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 14. April 2005 – 4 VR 1005.04 – BVerwGE 123, 241 <244>, vom 6. März 2014 – 9 VR 1.14 – juris Rn. 7 und vom 5. Juli 2018 – 9 VR 1.18 – NVwZ 2018, 1653 Rn. 10). Eine längere Dauer des vorangegangenen Planfeststellungsverfahrens schmälert das Gewicht dieses Vollzugsinteresses nicht.

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Vorliegend sind allein die einander gegenüberstehenden Interessen unter Berücksichtigung der mit der Anordnung der aufschiebenden Wirkung einerseits und deren Ablehnung andererseits verbundenen Folgen zu gewichten. Zum einen verträgt die Entscheidung über den Antrag keinen Aufschub. Zum anderen werden in diesem Verfahren Sach- und Rechtsfragen aufgeworfen, deren Klärung dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss.

13

Die Entscheidung über den Antrag ist dringlich. Dies folgt aus dem Beschleunigungsgebot, das sich aus der gesetzgeberischen Grundentscheidung nach § 18e Abs. 2 Satz 1 AEG zugunsten der sofortigen Vollziehbarkeit – und damit zugunsten der unverzüglichen Umsetzung – von Planfeststellungsbeschlüssen für Bauvorhaben des vordringlichen Bedarfs ergibt. Zudem folgt eine besondere Eilbedürftigkeit daraus, dass zur Baufeldfreimachung die Beigeladene Rodungsarbeiten durchführen muss, die aus naturschutzrechtlichen Gründen nur bis Ende Februar durchgeführt werden dürfen. Falls die vorgesehenen Rodungsarbeiten nicht bis zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen sind, hätte dies eine deutliche Verzögerung der Umsetzung des Vorhabens von einem Jahr zur Folge. Bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Planfeststellungsbeschlusses stellen sich zudem Sach- und Rechtsfragen, die erst im Zuge der Durchführung des Hauptsacheverfahrens geklärt werden können.

14

2.2. Das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin und der Beigeladenen überwiegen das Suspensivinteresse der Antragstellerin. Ausgehend von der gesetzgeberischen Grundentscheidung nach § 18e Abs. 2 Satz 1 AEG zugunsten der sofortigen Vollziehbarkeit ist hierfür maßgeblich, dass mit einer Fortsetzung der von der Beigeladenen begonnenen Arbeiten keine irreparablen bzw. nicht rückgängig zu machenden Folgen zulasten Drittbetroffener eintreten. Vollendete Tatsachen werden nicht geschaffen. Sollten sich die bis zu einer Entscheidung des Senats in der Hauptsache durchgeführten bauvorbereitenden Maßnahmen bzw. Baumaßnahmen als rechtswidrig erweisen, ließen sich die eingetretenen Folgen im Wege des Rückbaues und der Wiederbepflanzung gerodeter Flächen beseitigen bzw. rückgängig machen. Entsprechendes gilt für die bei der Antragstellerin vorgesehenen dauerhaften Inanspruchnahmen.

15

Dem steht nicht entgegen, dass nach einer Wiederbepflanzung gerodeter Flächen vor dem Erreichen des ursprünglichen Zustands Neuanpflanzungen zunächst noch eine Anwachsphase durchlaufen müssen (BVerwG, Beschluss vom 19. Dezember 2019 – 7 VR 6.19 – juris Rn. 15). Der Gesetzgeber setzt Ausgleich und Ersatz für Eingriffe in Natur und Landschaft (vgl. § 15 Abs. 2 BNatSchG) nicht mit einer Naturalrestitution im naturwissenschaftlichen Sinne gleich. Vielmehr nimmt er im Rahmen der Kompensation von Eingriffen in Natur und Landschaft eine vorübergehende Verschlechterung des ökologischen Zustands hin, weil es auf der Hand liegt, dass etwa ein ausgewachsener Baum erst Jahre später gleichwertig substituiert werden kann (vgl. BVerwG, Urteil vom 6. November 2012 – 9 A 17.11 – juris Rn. 149 m.w.N. [insoweit in BVerwGE 145, 40 nicht abgedruckt]). Für eine Rückgängigmachung von Eingriffen in Natur und Landschaft kann nichts anderes gelten. Entsprechendes gilt auch für die Rückgängigmachung von etwaigen Eingriffen in Hausgärten.

16

Soweit die Antragstellerin im Hinblick auf den wertvollen alten Baumbestand auf ihrem Grundstück die diesbezüglichen Anordnungen im Planfeststellungsbeschluss als unzureichend rügt, kann ihr nicht gefolgt werden. Wie sie selbst ausführt, hat die Beigeladene eigens für die auf ihrem Grundstück stehenden Rotbuchen durch einen öffentlich bestellten und vereidigten Baumsachverständigen ein Gutachten erstellen lassen, das die Erhaltungsmöglichkeit bei Erstellung einer Baustraße in deren Schutzbereich geprüft hat (PFB, S. 342). Die daraufhin in den Planfeststellungsbeschluss aufgenommenen Auflagen A.4.26.3 PFB, S. 92) stellen in ausreichender Weise sicher, dass vor Beginn der Bauausführungen geprüft wird, ob im Bereich des Grundstücks der Antragstellerin Anpassungen an der Lage oder dem Umfang der Baustraße vorzunehmen sind. In der Auflage kommt hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass die Beigeladene vor dieser Prüfung keinerlei Maßnahmen, auch keine bauvorbereitenden Maßnahmen, ergreifen darf, die die Rotbuche Nr. 5 gefährden könnten. Entsprechendes gilt für die angeordneten Standortverbesserungsmaßnahmen. Die weitere Rüge, der Planfeststellungsbeschluss habe sich nicht zu Rotbuche Nr. 4 verhalten, greift ebenfalls nicht durch. Aus dem genannten Gutachten ergibt sich, dass dieser Baum nicht erhalten werden kann, da er auf der Trasse der vorgesehenen Baustraße steht. Dies erschließt sich auch aus der planfestgestellten Unterlage 10.5. des Baustelleneinrichtungs- und -erschließungsplans. Daraus wird deutlich, dass angesichts der örtlichen Verhältnisse eine den Erhalt dieses Baumes sichernde Anpassung der Baustraße ausgeschlossen ist. Das dürfte selbst bei einer deutlichen Reduktion der Breite der Baustraße der Fall sein, zumal nicht ersichtlich ist, dass die Breite der Straße erheblich reduziert werden könnte. Sie ist ersichtlich so konzipiert, einen Begegnungsverkehr von Baufahrzeugen zu ermöglichen.

17

Vor dem Hintergrund, dass die Entscheidung des Senats in der Hauptsache voraussichtlich im Jahr 2021 und mithin während der laufenden Ausbaumaßnahmen erfolgen soll, ist vor der Entscheidung über die erhobene Klage auch mit keinen dem planfestgestellten Ausbau zuzurechnenden betriebsbedingten Beeinträchtigungen der Antragstellerin zu rechnen. Entsprechendes gilt für die vorgesehene dauerhafte Inanspruchnahme eines Teils ihres Grundstücks für die Anlage eines Wendehammers.

18

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 und § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 52 Abs. 1 GKG.