1. Wurde in einer durch Zeitablauf erledigten Unterbringungssache das für die Entscheidung maßgebliche Gutachten… (Beschluss des BGH 12. Zivilsenat)

BGH 12. Zivilsenat, Beschluss vom 14.10.2020, AZ XII ZB 146/20, ECLI:DE:BGH:2020:141020BXIIZB146.20.0

§ 37 Abs 2 FamFG, § 62 FamFG, § 319 Abs 1 S 1 FamFG

Leitsatz

1. Wurde in einer durch Zeitablauf erledigten Unterbringungssache das für die Entscheidung maßgebliche Gutachten dem Betroffenen nicht bekannt gegeben, liegt eine Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf rechtliches Gehör vor (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 16. Mai 2018 – XII ZB 542/17, FamRZ 2018, 1196).

2. Das Unterbleiben einer verfahrensordnungsgemäßen persönlichen Anhörung des Betroffenen stellt einen Verfahrensmangel dar, der derart schwer wiegt, dass der genehmigten Unterbringungsmaßnahme insgesamt der Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung anhaftet (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 29. Januar 2014 – XII ZB 330/13, FamRZ 2014, 649).

Verfahrensgang

vorgehend LG Göttingen, 13. Februar 2020, Az: 5 T 24/20
vorgehend AG Hann. Münden, 30. Januar 2020, Az: 8 XVII 130/19

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Hann. Münden vom 30. Januar 2020 und der Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Göttingen vom 13. Februar 2020 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt haben.

Das Verfahren der Rechtsbeschwerde ist gerichtskostenfrei.

Die außergerichtlichen Kosten des Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe

I.

1

Die Rechtsbeschwerde wendet sich gegen die durch Zeitablauf erledigte Genehmigung der Unterbringung des Betroffenen.

2

Das Amtsgericht hat mit Beschluss vom 30. Januar 2020 die Unterbringung des Betroffenen in einer geschlossenen Einrichtung bis längstens zum 29. Juli 2020 genehmigt. Die dagegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen hat das Landgericht mit Beschluss vom 13. Februar 2020 zurückgewiesen. Hiergegen wendet er sich mit seiner Rechtsbeschwerde, mit der er die Feststellung erstrebt, dass ihn die genannten Beschlüsse in seinen Rechten verletzen.

II.

3

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg; sie führt zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Beschlüsse des Amts- und des Landgerichts.

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1. Die Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde ergibt sich auch im Fall der – hier vorliegenden – Erledigung der Unterbringungsmaßnahme aus § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FamFG (vgl. Senatsbeschluss vom 16. Mai 2018 – XII ZB 542/17 – FamRZ 2018, 1196 Rn. 6 mwN).

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2. Die Entscheidungen von Amts- und Landgericht haben den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, was nach der in der Rechtsbeschwerdeinstanz entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 62 Abs. 1 FamFG festzustellen ist (vgl. Senatsbeschluss vom 16. Mai 2018 – XII ZB 542/17 – FamRZ 2018, 1196 Rn. 7 mwN).

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a) Das Beschwerdegericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet:

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Die formellen Voraussetzungen für die Genehmigung der Unterbringung auf Antrag des Betreuers lägen vor, weil der Aufgabenkreis des Betreuers die Sorge für die Gesundheit sowie die Aufenthaltsbestimmung umfasse, vor der Beschlussfassung ein fachpsychiatrisches Gutachten eingeholt, eine Verfahrenspflegerin für den Betroffenen bestellt und der Betroffene in Anwesenheit der Verfahrenspflegerin richterlich angehört worden sei. Auch die materiell rechtlichen Voraussetzungen einer Unterbringung nach § 1906 BGB seien wegen der Notwendigkeit einer Heilbehandlung sowie der Gefahr einer erheblichen Gesundheitsschädigung gegeben. Die Unterbringung sei auch verhältnismäßig. Von einer erneuten persönlichen Anhörung des Betroffenen werde abgesehen, nachdem das Amtsgericht den Betroffenen am 30. Januar 2020 umfassend angehört habe.

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b) Die Entscheidungen des Amtsgerichts und des Beschwerdegerichts halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand, weil sie – wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt – verfahrensfehlerhaft ergangen sind.

9

aa) Die Rechtsbeschwerde rügt zutreffend, dass dem Betroffenen das eingeholte Sachverständigengutachten nicht persönlich bekannt gegeben wurde.

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(1) Die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Grundlage einer Entscheidung in der Hauptsache setzt gemäß § 37 Abs. 2 FamFG voraus, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Insoweit ist das Gutachten mit seinem vollen Wortlaut im Hinblick auf die Verfahrensfähigkeit des Betroffenen (§ 316 FamFG) grundsätzlich auch ihm persönlich zur Verfügung zu stellen. Davon kann nur unter den Voraussetzungen des § 325 Abs. 1 FamFG abgesehen werden (vgl. Senatsbeschluss vom 7. Februar 2018 – XII ZB 334/17 – FamRZ 2018, 707 Rn. 9 mwN).

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(2) Diesen Anforderungen wird das vorliegende Verfahren nicht gerecht.

12

Die Voraussetzungen des § 325 Abs. 1 FamFG liegen nach den Feststellungen der Vorinstanzen nicht vor. Gleichwohl ist der Inhalt des Gutachtens dem Betroffenen weder vom Amtsgericht noch vom Beschwerdegericht in vollem Umfang mitgeteilt worden. Denn ausweislich des Anhörungsvermerks des Amtsgerichts vom 30. Januar 2020 wurde dem Betroffenen lediglich im Rahmen der Anhörung der wesentliche Inhalt des Sachverständigengutachtens vom 28. Januar 2020 bekannt gegeben. Der Betroffene hatte danach keine Gelegenheit, das Gutachten mit seinem vollen Inhalt zur Kenntnis zu nehmen.

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bb) Ebenfalls mit Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde, dass das Beschwerdegericht nicht von einer erneuten Anhörung des Betroffenen habe absehen dürfen.

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(1) Nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor einer Unterbringungsmaßnahme persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Diese Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG auch in einem Unterbringungsverfahren dem Beschwerdegericht die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung von zwingenden Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 7. Februar 2018 – XII ZB 334/17 – FamRZ 2018, 707 Rn. 15 mwN).

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(2) Auf dieser Grundlage durfte das Beschwerdegericht im vorliegenden Fall nicht von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG absehen. Denn die Anhörung des Betroffenen durch das Amtsgericht litt an einem wesentlichen Verfahrensmangel, weil ihm das eingeholte Sachverständigengutachten nicht rechtzeitig vor dem Anhörungstermin überlassen worden ist. Das Beschwerdegericht hätte diesen Mangel durch die Übersendung des Sachverständigengutachtens an den Betroffenen und dessen anschließende erneute Anhörung beheben müssen.

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c) Der Betroffene ist durch diese Verfahrensmängel in seinem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt worden.

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aa) Die Feststellung, dass ein Betroffener durch angefochtene Entscheidungen in seinen Rechten verletzt ist, kann grundsätzlich auch auf einer Verletzung des Verfahrensrechts beruhen. Dabei ist die Feststellung nach § 62 FamFG jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn der Verfahrensfehler so gravierend ist, dass die Entscheidung den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung hat, der durch Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (vgl. etwa Senatsbeschlüsse vom 16. Mai 2018 – XII ZB 542/17 – FamRZ 2018, 1196 Rn. 14 mwN und vom 29. Januar 2014 – XII ZB 330/13 – FamRZ 2014, 649 Rn. 23 mwN).

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bb) Wurde in einer – wie hier – durch Zeitablauf erledigten Unterbringungssache das für die Entscheidung maßgebliche Gutachten dem Betroffenen nicht bekannt gegeben, ist von einer Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf rechtliches Gehör auszugehen. Schon allein dieser Verfahrensfehler ist so gewichtig, dass er die Feststellung nach § 62 FamFG zu rechtfertigen vermag, weil er einer Verwertung des gemäß § 321 Abs. 1 FamFG unabdingbaren Sachverständigengutachtens entgegensteht (vgl. Senatsbeschluss vom 16. Mai 2018 – XII ZB 542/17 – FamRZ 2018, 1196 Rn. 15).

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Auch das Unterbleiben einer verfahrensordnungsgemäßen persönlichen Anhörung des Betroffenen stellt einen Verfahrensmangel dar, der derart schwer wiegt, dass der genehmigten Unterbringungsmaßnahme insgesamt der Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung anhaftet. Die durch § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG angeordnete persönliche Anhörung gehört zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien, deren Verletzung die Feststellung nach § 62 FamFG rechtfertigt (vgl. Senatsbeschluss vom 29. Januar 2014 – XII ZB 330/13 – FamRZ 2014, 649 Rn. 24 f. mwN).

20

cc) Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse des Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der – hier durch Zeitablauf erledigten – Unterbringungsmaßnahme feststellen zu lassen, liegt vor. Die gerichtliche Anordnung oder Genehmigung einer freiheitsentziehenden Maßnahme bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff im Sinne des § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. etwa Senatsbeschlüsse vom 16. Mai 2018 – XII ZB 542/17 – FamRZ 2018, 1196 Rn. 16 mwN und vom 29. Januar 2014 – XII ZB 330/13 – FamRZ 2014, 649 Rn. 27 mwN).

21

3. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

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