Soziales

Sozialgerichtliches Verfahren – Verfahrensfehler – Verletzung des rechtlichen Gehörs – Überraschungsentscheidung – Entscheidung durch Urteil des Einzelrichters – abweichende Wertung der Kausalitätsfrage – keine weiteren medizinischen Ermittlungen – eigene medizinische Sachkunde (Beschluss des BSG 2. Senat)

BSG 2. Senat, Beschluss vom 06.10.2020, AZ B 2 U 94/20 B, ECLI:DE:BSG:2020:061020BB2U9420B0

§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 Halbs 1 SGG, Art 103 Abs 1 GG

Verfahrensgang

vorgehend SG Speyer, 25. Juni 2018, Az: S 11 U 226/16
vorgehend Landessozialgericht Rheinland-Pfalz, 8. April 2020, Az: L 2 U 148/18, Urteil

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 8. April 2020 – L 2 U 148/18 – aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz zurückverwiesen.

Gründe

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I. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger einen Anspruch auf Verletztenrente hat.

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Der 1991 geborene Kläger erlitt am 4.12.2013 einen als Wegeunfall anerkannten Verkehrsunfall. Die Beklagte lehnte die Gewährung einer Verletztenrente ab, weil der Arbeitsunfall nur zu einem Zustand nach folgenlos ausgeheilter HWS-Distorsion mit Commotio cerebri geführt habe. Die vorliegende Netzhautablösung am linken Auge sei unfallunabhängig, wie sich aus dem von ihr eingeholten Gutachten des Augenarztes C. ergebe
(Bescheid vom 9.3.2016; Widerspruchsbescheid vom 31.8.2016). Das SG hat ein augenfachärztliches Gutachten der Augenärztin K. eingeholt, wonach das unfallbedingte Schleudertrauma wesentlich mitursächlich für das Ausmaß der Netzhautablösung am linken Auge sei. Die Visusminderung und die Gesichtsfeldausfälle führten insgesamt zu einer MdE von 20 vH. Die Beklagte hat eine beratungsärztliche Stellungnahme des N. vorgelegt, derzufolge am linken Auge von einer vor dem Schleudertrauma bestehenden peripheren Netzhautablösung wegen veranlagungsmäßig an beiden Augen bestehender Kurzsichtigkeit und Astigmatismus gesprochen werden könne. Das SG hat sodann auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG ein Sachverständigengutachten des Augenarztes H. eingeholt, wonach das Unfallgeschehen auf eine bereits bestehende Netzhautdegeneration gestoßen sei und deren Beschleunigung bewirkt habe. Dem Unfall sei daher eine Mitwirkung an der jetzt bestehenden Augensituation zuzusprechen, die eine MdE von 20 vH rechtfertige. Das SG hat durch Gerichtsbescheid vom 25.6.2018 die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 4.12.2013 eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH zu gewähren und sich zur Begründung im Wesentlichen auf die Sachverständigengutachten der K. und des H. bezogen.

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Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt. Im Berufungsverfahren hat das LSG im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch den konsentierten Einzelrichter entschieden, den Gerichtsbescheid des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen
(Urteil vom 8.4.2020). Die beim Kläger diagnostizierte Netzhautablösung könne nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit wesentlich mitursächlich auf das Unfallgeschehen vom 4.12.2013 zurückgeführt werden. Das SG habe sich insoweit ohne überzeugende Begründung über die herrschende wissenschaftlich-medizinische Lehrmeinung zur Entstehung von Netzhautablösungen durch indirekte Traumata hinweggesetzt, nach der eine indirekte Krafteinwirkung nur dann als Ursache einer Netzhautablösung in Betracht komme, wenn Knochenbrüche im Schädel und eindeutige Gehirnerschütterungen vorlägen bzw traumatische Optikusschäden oder Korpuseinblutungen aufträten. Das LSG hat für diese Einschätzung auf das Werk „Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl 2017, S 300 mwN“ verwiesen. Auch könne ein schweres Schädel-Hirn-Trauma bei einer engen zeitlichen Verbindung eine Netzhautablösung hervorrufen, wie aus der beratungsärztlichen Stellungnahme des N. und dem Verwaltungsgutachten des C. folge. Ein direktes stumpfes Trauma habe der Kläger aber ebenso wenig erlitten wie ein indirektes Trauma, das den dargelegten Anforderungen genüge. Ausweislich des Durchgangsarztberichts habe nur eine Gehirnerschütterung vorgelegen und kein schweres Schädel-Hirn-Trauma, sodass davon auszugehen sei, dass beim Kläger allein anlagebedingte Risiken für die Netzhautablösung am linken Auge ursächlich geworden seien. Die im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten der K. und des H. führten zu keiner anderen, für den Kläger günstigeren rechtlichen Bewertung, weil sich diese nicht in substantiierter Weise mit der nach Überzeugung des LSG herrschenden wissenschaftlich-medizinischen Lehrmeinung zu direkten Traumen als Auslöser einer Netzhautablösung auseinandersetzten.

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Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger eine Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs durch ein Überraschungsurteil. Die Entscheidung des LSG beruhe nicht auf einer anderen Einschätzung eines juristischen Sachverhalts, sondern auf einer anderen Bewertung der medizinischen Erkenntnisse. Das LSG habe aber überhaupt keine weiteren wissenschaftlichen Erkenntnisse eingeholt oder andere Gutachter im Sinne eines Obergutachtens gehört. Die Kritik des Gerichts, dass sich die Sachverständigen, denen das SG gefolgt sei, nicht mit der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung auseinandergesetzt hätten, komme überraschend, weil der Berichterstatter am LSG diese Gutachter weder gehört noch der Klägerseite die Möglichkeit gegeben habe, zu der streitigen Frage ebenfalls eine fachmedizinische Stellungnahme einzuholen.

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II. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Das Berufungsurteil beruht auf dem Verfahrensmangel der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör
(Art 103 Abs 1 GG, § 62 Halbsatz 1 SGG). Die Entscheidung des LSG stellt eine Überraschungsentscheidung dar. Eine solche liegt vor, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis einen tatsächlichen oder rechtlichen Standpunkt einnimmt, mit dem ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf – selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen – nicht zu rechnen brauchte
(vgl BVerfG Beschlüsse vom 29.5.1991 – 1 BvR 1383/90 – BVerfGE 84, 188, vom 23.4.1991 – 1 BvR 1443/87 – BVerfGE 84, 82 und Urteil vom 24.4.1991 – 1 BvR 1341/90 – BVerfGE 84, 133). Diese Voraussetzungen sind gegeben.

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Im bisherigen Prozessverlauf hatten beide augenärztlichen Sachverständigen die Kausalitätsfrage übereinstimmend bejaht, das SG war ihnen gefolgt, hatte das Vorliegen der Voraussetzungen für den Erlass eines Gerichtsbescheids nach § 105 Abs 1 SGG (Sachverhalt geklärt, keine besonderen Schwierigkeiten) angenommen und der Klage vollumfänglich stattgegeben. Im Berufungsverfahren hielt das LSG medizinische Ermittlungen für entbehrlich und signalisierte mit den Anfragen, ob die Beteiligten mit einer Entscheidung durch Urteil des Einzelrichters ohne mündliche Verhandlung einverstanden seien, dass es die Sache ohne Weiteres für entscheidungsreif hielt. Auf dieser Grundlage musste ein sorgfältiger Beteiligter nicht damit rechnen, das LSG werde die Kausalitätsfrage ohne weitere medizinische Ermittlungen – entgegen dem SG und den beiden augenärztlichen Sachverständigen – unter streitentscheidender Berufung auf eine Literaturstelle
(Schönberger/Mehrtens/Valentin,Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl 2017, S 300) verneinen und den zusprechenden Gerichtsbescheid aufheben, obwohl dieser nur erlassen werden darf, „wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist“
(§ 105 Abs 1 Satz 1 SGG). Vielmehr durfte der Kläger darauf vertrauen, dass der Sachverhalt einfach gelagert und (zu seinen Gunsten) geklärt ist, und zugleich davon ausgehen, das LSG werde seine Entscheidung auf die bisher eingeholten Befunde und Gutachten stützen und jedenfalls keine neuen Aspekte in das Verfahren einführen, die ihm bisher nicht zur Kenntnis gegeben wurden und zu denen er sich dementsprechend auch nicht äußern konnte.

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Das LSG hat auch deshalb eine Überraschungsentscheidung getroffen, weil die tragenden Gründe seiner von dem Gerichtsbescheid des SG abweichenden Entscheidung sich nicht maßgeblich alleine auf den Inhalt der eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten stützen, sondern auf eine von ihm selbst unter Auswertung der unfallmedizinischen Literatur entwickelte Beurteilung und damit auf eigene Sachkunde. Vor der Entscheidung hat es die Beteiligten nicht auf das Bestehen dieser eigenen medizinischen Sachkunde hingewiesen und ihnen nicht erläutert, was Inhalt dieser Sachkunde ist
(vgl BSG Beschluss vom 15.9.2011 – B 2 U 157/11 B – juris RdNr 9).

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Damit liegt der von der Beklagten gerügte Verfahrensfehler iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vor. Die Entscheidung kann auch auf diesem Verfahrensfehler beruhen, weil nicht auszuschließen ist, dass das LSG auf die vom Kläger vorgebrachten Einwendungen zu einer anderen Entscheidung hätte kommen können. Der Senat hebt deshalb gemäß § 160a Abs 5 SGG die angefochtene Entscheidung des LSG auf und verweist die Sache zur erneuten Entscheidung an das LSG zurück.

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Das LSG wird dabei beachten müssen, dass es ihm bei fehlender Sachkunde verwehrt ist, medizinische Beurteilungen selbst vorzunehmen. Vielmehr muss sich der Tatrichter regelmäßig zur Ermittlung des medizinischen Sachverhalts sachverständiger Hilfe bedienen
(BSG Urteil vom 17.4.2013 – B 9 V 1/12 R – BSGE 113, 205 = SozR 4-3800 § 1 Nr 20, RdNr 45; Müller in Roos/Wahrendorf, SGG, Stand 1.9.2019, § 103 RdNr 26; Bieresborn in Francke/Gagel/Bieresborn, Der Sachverständigenbeweis im Sozialrecht, 2. Aufl 2017, § 2 RdNr 11). Auch bei der Bestimmung und Auslegung der Quellen des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands ist das Gericht gehalten, weiteren sachkundigen Rat bei einem (medizinischen) Sachverständigen einzuholen. Eine bloße Literaturauswertung durch auf dem einschlägigen Gebiet nicht fachgerecht ausgebildeten Richter genügt zur Feststellung des (nicht allgemeinkundigen oder gerichtsbekannten) aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands über Kausalbeziehungen in der Regel nicht. Vielmehr wird dessen Klärung im Rahmen des ohnehin benötigten Gutachtens zu erfolgen haben. Diese Grundsätze gelten ebenso für die Interpretation der hier maßgeblichen Literaturstellen und der Stellungnahme des Durchgangsarztes
(BSG Urteile vom 6.9.2018 – B 2 U 13/17 R – SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 10 RdNr 22 und vom 24.7.2012 – B 2 U 9/11 R – SozR 4-2700 § 8 Nr 44 RdNr 69). So ist nicht klar, woher das LSG die Sachkunde nimmt, dass die Literaturstelle bei Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl 2017, S 300, dass eine für eine Netzhautablösung geeignete indirekte Krafteinwirkung Knochenbrüche und eindeutige Gehirnerschütterungen verlange, als kumulative und nicht alternative Voraussetzungen zu werten seien. Das gilt umso mehr, als das LSG anscheinend durchaus ein isoliertes schweres Schädel-Hirn-Trauma mit der Stellungnahme des N. ausreichen lassen würde, ein solches aber nach eigenständiger Einordnung der Feststellung des Durchgangsarztes „commotio cerebri“ in das Diagnose-System ICD-10 als nicht nachgewiesen ansieht.

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Das LSG wird bei der Begründung
(§ 128 Abs 1 Satz 2 SGG) seiner erneuten Entscheidung auch zu berücksichtigen haben, dass das Verwaltungsgutachten des Augenarztes C. nicht im Wege des Sachverständigenbeweises
(§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 402 f ZPO) sondern allenfalls als Urkundenbeweis verwertet werden darf
(§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 415 ff ZPO, grundlegend BSG Beschluss vom 30.3.2017 – B 2 U 181/16 B – ASR 2017, 169 – juris). Zwar können Verwaltungsgutachten auch alleinige Entscheidungsgrundlage sein
(BSG Urteil vom 8.12.1988 – 2/9b RU 66/87 – juris RdNr 17 sowie Beschlüsse vom 31.5.1963 – 2 RU 231/62 – SozR Nr 66 zu § 128 SGG und vom 6.6.2007 – B 2 U 108/07 B – RdNr 6; BVerwG Urteil vom 15.4.1964 – V C 45.63 – BVerwGE 18, 216 = Buchholz 310 § 188 Nr 1). Dies setzt allerdings voraus, dass das Gutachten in Form und Inhalt den (Mindest-)Anforderungen entspricht
(vgl dazu exemplarisch BVerfG Beschluss vom 14.1.2005 – 2 BvR 983/04 – BVerfGK 5, 40 = juris RdNr 16; BGH Urteil vom 30.7.1999 – 1 StR 618/98 – BGHSt 45, 164, 178 ff), die an ein wissenschaftlich begründetes Sachverständigengutachten zu stellen sind
(BSG Urteil vom 1.3.1984 – 9a RV 45/82 – juris RdNr 12), was das Tatsachengericht bei der Angabe der Gründe, die für die richterliche Überzeugung leitend gewesen sind
(§ 128 Abs 1 Satz 2 SGG), zu erörtern und festzustellen hat. Ferner muss das LSG im Rahmen des § 128 Abs 1 Satz 2 SGG erkennen lassen, dass es das Verwaltungsgutachten gerade nicht als Sachverständigengutachten verwertet hat und ihm die Besonderheiten des Urkundenbeweises
(§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 415 ZPO) bewusst gewesen sind, zu denen beispielsweise die fehlende Verantwortlichkeit des Verwaltungsgutachters gegenüber dem Gericht
(§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 404a, 407a ZPO), die fehlende Strafandrohung der §§ 153 ff StGB und die fehlende Möglichkeit der Beeidigung
(§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 410 ZPO), das fehlende Ablehnungsrecht
(§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 406 ZPO) und insbesondere das fehlende Fragerecht
(§§ 116 Satz 2, 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 397, 402, 411 Abs 4 ZPO; § 62 SGG) zählen
(BSG Urteil vom 7.5.2019 – B 2 U 25/17 R – BSGE 128, 78 = SozR 4-2700 § 200 Nr 5, RdNr 14; BSG Beschluss vom 30.3.2017 – B 2 U 181/16 B – juris RdNr 9).

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Zudem wird das LSG zu beachten haben, dass beratungsärztliche Stellungnahmen als qualifiziertes Parteivorbringen keine Beweismittel sind, auch wenn es bei der Überzeugungsbildung zu berücksichtigen ist
(BSG Urteile vom 6.4.1989 – 2 RU 55/88 – USK 8999, vom 8.12.1988 – 2/9b RU 66/87 – HV-Info 1989, 410 ff und vom 30.10.1963 – 2 RU 62/58 – SozR Nr 68 zu § 128 SGG) und ebenfalls alleinige Entscheidungsgrundlage sein kann
(BSG Urteile vom 8.12.1988 und vom 6.4.1989, aaO sowie Beschluss vom 23.9.1957 – 2 RU 113/57 – SozR Nr 3 zu § 118 SGG).

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Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.