Amtsgericht

Betreuungsverfahren: Erneute Anhörung des Betroffenen nach Erstattung des schriftlichen Gutachtens; Pflicht der Teilnahme des Verfahrenspflegers im Anhörungstermin (Beschluss des BGH 12. Zivilsenat)

BGH 12. Zivilsenat, Beschluss vom 22.07.2020, AZ XII ZB 228/20, ECLI:DE:BGH:2020:220720BXIIZB228.20.0

§ 278 Abs 1 S 1 FamFG, § 280 FamFG, § 1896 BGB, Art 103 Abs 1 GG

Leitsatz

1. Auch wenn der Sachverständige den Betroffenen während der Anhörung begutachtet, ist der Betroffene nach Erstattung des schriftlichen Gutachtens erneut anzuhören. Dazu ist ihm dieses rechtzeitig vor dem neuen Anhörungstermin zu überlassen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 27. Mai 2020 – XII ZB 582/19, zur Veröffentlichung bestimmt).

2. Eine Anhörung des Betroffenen im Betreuungsverfahren, die stattgefunden hat, ohne dass der Verfahrenspfleger Gelegenheit hatte, an ihr teilzunehmen, ist verfahrensfehlerhaft (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 15. Mai 2019 – XII ZB 57/19, FamRZ 2019, 1356).

Verfahrensgang

vorgehend LG Kiel, 6. November 2019, Az: 3 T 77/19
vorgehend AG Kiel, 28. Februar 2019, Az: 2 XVII 11163

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird der Beschluss der 3. Zivilkammer des Landgerichts Kiel vom 6. November 2019 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.

Wert: 5.000 €

Gründe

I.

1

Die Betroffene wendet sich gegen die Einstellung des Verfahrens auf Anordnung einer Betreuung.

2

Seit 2014 hatte die Betroffene wiederholt Auseinandersetzungen mit Behörden und ihrem persönlichen Umfeld, die zu verschiedenen zivil- und strafrechtlichen Verfahren führten.

3

Auf eine entsprechende Anregung der Staatsanwaltschaft hat das Amtsgericht ein Betreuungsverfahren eingeleitet; die Betreuungsbehörde hat sich dieser Anregung angeschlossen. Das Amtsgericht hat das Betreuungsverfahren ohne Einholung eines aktuellen Gutachtens und ohne persönliche Anhörung der Betroffenen eingestellt. Das Landgericht hat im Beschwerdeverfahren einen Anhörungstermin in Anwesenheit des Berichterstatters als beauftragtem Richter durchgeführt, in dem der Sachverständige die Betroffene begutachtet hat. Schließlich hat das Landgericht die Beschwerde der Betroffenen ohne erneute Anhörung zurückgewiesen. Hiergegen wendet sie sich mit ihrer Rechtsbeschwerde.

II.

4

Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

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1. Das Landgericht hat seine Entscheidung damit begründet, dass die Betroffene zwar an einer paranoiden Persönlichkeitsstörung, nicht aber an einer Krankheit oder Behinderung im Sinne von § 1896 BGB oder einer Beeinträchtigung ihrer freien Willensbildung leide. Die Betroffene sei in der Lage, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln.

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2. Die angegriffene Entscheidung ist in mehrfacher Weise verfahrensfehlerhaft, wie die Rechtsbeschwerde zu Recht rügt.

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a) Das Landgericht hätte die Betroffene nochmals persönlich anhören müssen, nachdem das schriftliche Sachverständigengutachten erst nach der Anhörung gefertigt worden ist.

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aa) Einer der Zwecke der persönlichen Anhörung nach § 278 Abs. 1 Satz 1 FamFG besteht darin, den Anspruch des Betroffenen auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG zu sichern. Diesen Zweck kann die Anhörung regelmäßig nur dann erfüllen, wenn das Sachverständigengutachten dem Betroffenen rechtzeitig vor dem Anhörungstermin überlassen wurde, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern (Senatsbeschluss vom 27. Mai 2020 – XII ZB 582/19 – juris Rn. 6 mwN).

9

bb) Dem ist das Landgericht nicht gerecht geworden. Die Betroffene ist in der vom Landgericht erstmals durchgeführten Anhörung am 5. Juni 2019 von dem anwesenden Sachverständigen begutachtet worden. Das schriftliche Gutachten ist erst nach der Anhörung, nämlich am 15. September 2019 gefertigt und dem Landgericht übersandt worden. Die Betroffene hatte vor ihrer Anhörung mithin nicht die Möglichkeit, sich mit dem bis dahin noch nicht vorliegenden schriftlichen Gutachten auseinanderzusetzen und entsprechende Einwendungen zu formulieren. Schon aus diesem Grund hätte das Landgericht die Anhörung gemäß §§ 278 Abs. 1 Satz 1, 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG wiederholen müssen (vgl. Senatsbeschluss vom 27. Mai 2020 – XII ZB 582/19 – juris Rn. 7).

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b) Ein weiterer Verfahrensfehler ist darin zu erblicken, dass das Landgericht den Verfahrenspfleger nicht zu dem Anhörungstermin geladen hat.

11

aa) Die Bestellung eines Verfahrenspflegers in einer Betreuungssache gemäß § 276 Abs. 1 Satz 1 FamFG soll die Wahrung der Belange des Betroffenen in dem Verfahren gewährleisten. Er soll – wenn es im Hinblick auf die einzurichtende Betreuung erforderlich ist – nicht allein stehen, sondern fachkundig beraten und vertreten werden. Der Verfahrenspfleger ist vom Gericht daher im selben Umfang wie der Betroffene an den Verfahrenshandlungen zu beteiligen. Das Betreuungsgericht muss grundsätzlich durch die rechtzeitige Bestellung eines Verfahrenspflegers und dessen Benachrichtigung vom Anhörungstermin sicherstellen, dass dieser an der Anhörung des Betroffenen teilnehmen kann. Erfolgt die Anhörung dennoch ohne die Möglichkeit einer Beteiligung des Verfahrenspflegers, ist sie verfahrensfehlerhaft und verletzt den Betroffenen in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG (Senatsbeschluss vom 15. Mai 2019 – XII ZB 57/19 – FamRZ 2019, 1356 Rn. 8 mwN).

12

bb) Gemessen hieran hätte das Landgericht den Verfahrenspfleger zu dem Anhörungstermin laden müssen. Das ist aber ausweislich der Ladungsverfügung nicht geschehen. In den Gerichtsakten befindet sich auch kein Protokoll über die Anhörung der Betroffenen, weshalb nach dem gegebenen Akteninhalt davon auszugehen ist, dass der Verfahrenspfleger bei der Anhörung nicht anwesend war. Hinzu kommt, dass das Landgericht ihm ausweislich der Gerichtsakten nicht einmal das Sachverständigengutachten übersandt hat.

13

c) Ebenso hätte die Kammer die Betroffene in voller Besetzung anhören müssen.

14

aa) Die Anhörung des Betroffenen im Beschwerdeverfahren muss zwar nicht zwangsläufig durch alle Mitglieder der Beschwerdekammer erfolgen. Dies folgt bereits aus § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG, wonach das Beschwerdegericht im Regelfall von einer Anhörung absehen kann, wenn diese bereits im ersten Rechtszug vorgenommen wurde und von einer erneuten Vornahme keine zusätzlichen Erkenntnisse zu erwarten sind. Die Beschwerdekammer hat im Rahmen der ihr obliegenden Amtsermittlung nach § 26 FamFG darüber zu befinden, ob es für ihre Entscheidung wegen der Besonderheiten des Falles darauf ankommt, dass sich die gesamte Kammer einen eigenen Eindruck von dem Betroffenen verschafft oder ob der Kammer durch eine vom beauftragten Richter durchgeführte Anhörung eine ausreichende Grundlage für die zu treffende Entscheidung vermittelt wird. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Anhörung durch den beauftragten Richter nur in ihrem objektiven Ertrag und als dessen persönlicher Eindruck verwertet werden darf (Senatsbeschluss vom 22. März 2017 – XII ZB 358/16 – FamRZ 2017, 996 Rn. 12 mwN).

15

bb) Auch insoweit ist die Entscheidung des Landgerichts verfahrensfehlerhaft zustande gekommen.

16

Im vorliegenden Fall besteht die Besonderheit, dass das Amtsgericht selbst keine Anhörung durchgeführt hat. Deshalb konnte sich das Landgericht nicht auf eine bereits durchgeführte Anhörung stützen. Hinzu kommt, dass sich in den Akten kein Protokoll über die Anhörung durch den Berichterstatter der Kammer befindet, dem die weiteren Richter der Kammer den konkreten Hergang der Anhörung hätten entnehmen können. Schließlich lassen die in der angefochtenen Entscheidung enthaltenen Formulierungen darauf schließen, dass es für die Entscheidung, ob eine Betreuung einzurichten ist, maßgeblich auch auf den persönlichen Eindruck von der Betroffenen selbst ankam.

17

3. Der Senat kann in der Sache nicht abschließend entscheiden, weil das Landgericht noch die erforderlichen Feststellungen in verfahrensordnungsgemäßer Weise zu treffen haben wird.

18

Für das weitere Verfahren weist der Senat auf das Folgende hin:

19

Soweit sich das Landgericht den Ausführungen des Sachverständigen angeschlossen hat, wonach es sich bei einer paranoiden Persönlichkeitsstörung um keine Krankheit oder Behinderung i.S.d. § 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB handelt, überzeugt dies nicht (vgl. etwa BayObLG FamRZ 2004, 657, 658 f. und OLGR Schleswig 2009, 956). Das wird das Landgericht weiter aufzuklären und dabei zu berücksichtigen haben, dass insoweit zwischen dem Vorliegen einer Krankheit und der Erforderlichkeit einer Betreuung zu unterscheiden ist.

20

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

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