Bezeichnung von Umfang und Grund der Vorläufigkeit in Änderungsbescheiden – Auslegung des Vorläufigkeitsvermerks (Urteil des BFH 8. Senat)

BFH 8. Senat, Urteil vom 16.06.2020, AZ VIII R 12/17, ECLI:DE:BFH:2020:U.160620.VIIIR12.17.0

§ 165 Abs 1 S 1 AO, § 165 Abs 1 S 2 AO, § 165 Abs 1 S 3 AO, § 165 Abs 2 AO

Leitsatz

Ein in einem Änderungsbescheid enthaltener Vorläufigkeitsvermerk, der an die Stelle des bereits im Vorgängerbescheid enthaltenen Vorläufigkeitsvermerks tritt, bestimmt den Umfang der Vorläufigkeit neu und regelt abschließend, inwieweit die Steuer nunmehr vorläufig festgesetzt ist, wenn für den Steuerpflichtigen nach seinem objektiven Verständnishorizont nicht erkennbar ist, dass der ursprüngliche Vorläufigkeitsvermerk trotz der Änderung wirksam bleiben soll (Anschluss an BFH-Urteil vom 19.10.1999 – IX R 23/98, BFHE 190, 44, BStBl II 2000, 282, Rz 17).

Verfahrensgang

vorgehend Finanzgericht Rheinland-Pfalz, 22. August 2017, Az: 3 K 2227/15, Urteil

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Rheinland-Pfalz vom 22.08.2017 – 3 K 2227/15 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.

Tatbestand

I.

1

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Ehegatten und werden für das Streitjahr 2001 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.

2

Die Klägerin machte in der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr einen Verlust aus selbständiger Arbeit als … in Höhe von 12.219 DM (umgerechnet 6.247,48 €) geltend. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt –FA–) lehnte die Berücksichtigung dieses Verlustes bei der Einkommensteuerfestsetzung für 2001 vom 20.11.2002 ab. Der Bescheid erging unter dem Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO).

3

In dem Änderungsbescheid für 2001 vom 06.01.2003 legte das FA erstmals die Verluste der Klägerin aus selbständiger Arbeit in Höhe von 12.219 DM (umgerechnet 6.247,48 €) der Steuerfestsetzung zugrunde und hob den Vorbehalt der Nachprüfung auf.

4

Unter dem Punkt „Festsetzung“ führte das FA in diesem Bescheid aus:

5

In den Erläuterungen hieß es:

  • „Der Bescheid ist vorläufig hinsichtlich der Einkünfte aus selbständiger Arbeit, weil z.Z. die Gewinnerzielungsabsicht nicht abschließend beurteilt werden kann. …
    Der Bescheid ist im Hinblick auf anhängige Verfassungsbeschwerden bzw. andere gerichtliche Verfahren vorläufig hinsichtlich
    – der beschränkten Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3 EStG).“

6

Aus den Erläuterungen ging nicht hervor, welcher der mitgeteilten Vorläufigkeitsgründe sich auf § 165 Abs. 1 Satz 1 AO und welcher sich auf § 165 Abs. 1 Satz 2 AO bezog.

7

Für die Folgejahre (Veranlagungszeiträume 2002 bis einschließlich 2005) wurden die Einkünfte der Klägerin aus selbständiger Arbeit ohne Vorläufigkeitsvermerk berücksichtigt, unabhängig davon, ob sie positiv (2002, 2003, 2005) oder negativ waren (2004).

8

Mit Einkommensteuerbescheid vom 07.04.2006 änderte das FA die Festsetzung für das Streitjahr unter Bezugnahme auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO. Unter „Festsetzung“ führte es aus:

9

Der Erläuterungsteil enthielt nur die Hinweise zum Vorläufigkeitskatalog des § 165 Abs. 1 Satz 2 AO:

  • „Die Festsetzung der Einkommensteuer ist im Hinblick auf vor dem Bundesverfassungsgericht, dem Bundesfinanzhof bzw. dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anhängige Verfahren vorläufig hinsichtlich
  • der Höhe des Behinderten-Pauschbetrags (§ 33b Abs. 3 EStG)
  • der Nichtberücksichtigung pauschaler Werbungskosten bzw. Betriebsausgaben in Höhe der steuerfreien Aufwandsentschädigung nach § 12 des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages
  • der Nichtabziehbarkeit von Beiträgen zu Rentenversicherungen als vorweggenommene Werbungskosten bei den Einkünften im Sinne des § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchstabe a EStG
  • der beschränkten Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3 EStG).“

10

Der Bescheid enthielt in den Erläuterungen keinen Hinweis darauf, dass sich die Vorläufigkeit weiterhin auf die Einkünfte der Klägerin aus selbständiger Arbeit beziehen sollte.

11

Mit Einkommensteuerbescheid vom 11.01.2011 änderte das FA die Festsetzung für das Streitjahr erneut und erkannte die Verluste der Klägerin aus selbständiger Arbeit nicht mehr an.

12

Hiergegen legten die Kläger Einspruch ein, der in Bezug auf die steuerliche Berücksichtigung der Verluste der Klägerin aus selbständiger Arbeit abgewiesen wurde.

13

Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen erhobenen Klage mit Urteil vom 22.08.2017 – 3 K 2227/15 (Entscheidungen der Finanzgerichte –EFG– 2017, 1863) statt.

14

Das FA rügt mit seiner Revision die Verletzung des § 165 AO. In dem Änderungsbescheid vom 07.04.2006 sei der Vorläufigkeitsvermerk nicht inhaltlich neu bestimmt worden. Der Vorläufigkeitsvermerk sei als Nebenbestimmung i.S. von § 120 AO –auch in den nachfolgenden Änderungsbescheiden– bestehen geblieben, da er nicht ausdrücklich durch eine selbständige Verfügung aufgehoben worden sei (FG Münster, Urteil vom 25.05.2012 – 4 K 511/11 E, EFG 2012, 1616). Der Klägerin sei zudem die vorläufige Festsetzung hinsichtlich ihrer negativen Einkünfte aus selbständiger Arbeit bekannt gewesen. Eine andere Beurteilung ergebe sich auch nicht daraus, dass diese Einkünfte für die Veranlagungszeiträume 2002 bis einschließlich 2005 ohne Vorläufigkeitsvermerk berücksichtigt worden seien.

15

Das FA beantragt,
das Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 22.08.2017 – 3 K 2227/15 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.

16

Die Kläger beantragen,
die Revision des FA als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

17

Die Revision ist unbegründet und daher gemäß § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen.

18

Das FG hat zu Recht den Einkommensteuerbescheid 2001 vom 11.01.2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 22.10.2015 aufgehoben, soweit die Verluste der Klägerin aus selbständiger Arbeit nicht mehr anerkannt wurden, da keine gesetzliche Grundlage für eine diesbezügliche Änderung des Bescheides gegeben war.

19

1. Das FA durfte den Einkommensteuerbescheid für 2001 vom 07.04.2006, in dem die Verluste der Klägerin aus selbständiger Arbeit der Besteuerung zugrunde gelegt worden waren, nicht gemäß § 165 Abs. 2 Satz 1 AO zu Lasten der Klägerin ändern, da die Steuer in diesem Punkt nicht mehr vorläufig festgesetzt war.

20

a) Nach § 165 Abs. 2 Satz 1 AO kann die Finanzbehörde Steuerfestsetzungen aufheben oder ändern, soweit sie die Steuer vorläufig festgesetzt hat. Die Voraussetzungen einer vorläufigen Steuerfestsetzung sind in § 165 Abs. 1 AO geregelt. Danach kommt eine vorläufige Steuerfestsetzung in Betracht, soweit ungewiss ist, ob die Voraussetzungen für die Entstehung einer Steuer eingetreten sind (§ 165 Abs. 1 Satz 1 AO), oder wenn einer der in § 165 Abs. 1 Satz 2 AO geregelten Tatbestände vorliegt.

21

§ 165 Abs. 1 Satz 3 AO verlangt in formeller Hinsicht für die Begründung des Vorläufigkeitsvermerks, dass dessen Umfang und Grund anzugeben sind. Diese Angaben dienen dem Rechtsschutzinteresse des Steuerpflichtigen. Er soll wissen, welche Umstände der endgültigen Festsetzung bzw. Feststellung entgegenstehen und hinsichtlich welcher als ungewiss betrachteter Tatsachen (bei § 165 Abs. 1 Satz 1 AO) sich das FA eine weitere Überprüfung vorbehält. Diese Angaben zeigen auch die Grenzen für die endgültige Festsetzung bzw. Feststellung auf. Sind die Formulierung des Vorläufigkeitsvermerks und die Erläuterungen in dem Bescheid nicht hinreichend klar, so kann sich die Wirksamkeit des Vermerks auch durch Würdigung der Umstände des Einzelfalls ergeben. Zu prüfen ist dabei, ob der Umfang des Vorläufigkeitsvermerks aus Sicht eines objektiven Empfängers hinreichend erkennbar war (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH–vom 12.07.2007 – X R 22/05, BFHE 218, 26, BStBl II 2008, 2).

22

Für den Regelungsinhalt der Nebenbestimmung ist danach entscheidend, wie der Adressat ihren materiellen Gehalt nach den ihm bekannten Umständen –seinem „objektiven Verständnishorizont“– unter Berücksichtigung von Treu und Glauben (vgl. § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) verstehen konnte. Dies gilt auch für die Änderung eines Vorläufigkeitsvermerks in einem Änderungsbescheid. Da Umfang und Grund der Vorläufigkeit nach § 165 Abs. 1 Satz 3 AO anzugeben sind, muss der Steuerpflichtige den in einem Änderungsbescheid enthaltenen –geänderten– Vorläufigkeitsvermerk so verstehen, dass der Umfang der Vorläufigkeit gegenüber dem ursprünglichen Bescheid geändert und nun im Änderungsbescheid abschließend umschrieben worden ist. Es wäre mit dem Grundsatz des § 124 Abs. 1 Satz 2 AO nicht zu vereinbaren, dem Steuerpflichtigen die Spekulation darüber zuzumuten, ob die Beschränkung des Vorläufigkeitsvermerks auf erneuter Prüfung oder auf einem Versehen der Finanzverwaltung beruht (BFH-Urteil vom 19.10.1999 – IX R 23/98, BFHE 190, 44, BStBl II 2000, 282).

23

b) Nach diesen Grundsätzen hat das FG zu Recht entschieden, dass der Einkommensteuerbescheid für 2001 vom 07.04.2006 in Bezug auf die negativen Einkünfte der Klägerin aus selbständiger Arbeit nicht vorläufig und somit nicht nach § 165 AO änderbar war.

24

aa) Die Klägerin konnte als Empfängerin aus dem Inhalt des Änderungsbescheides vom 07.04.2006 nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass die Festsetzung hinsichtlich ihrer negativen Einkünfte aus selbständiger Arbeit weiterhin vorläufig sein sollte.

25

Das FA hat im Änderungsbescheid für 2001 vom 06.01.2003 den Vorbehalt der Nachprüfung nach § 164 AO aufgehoben und die Einkommensteuer hinsichtlich der Verluste der Klägerin aus selbständiger Arbeit nach § 165 AO vorläufig festgesetzt. Aus dem Bescheid, der eine Vorläufigkeit nach § 165 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 AO anordnete, ging nicht hervor, welche der mitgeteilten vorläufigen Festsetzungen sich auf § 165 Abs. 1 Satz 1 AO und welche sich auf § 165 Abs. 1 Satz 2 AO bezog. Der Änderungsbescheid vom 07.04.2006 erging zwar mit dem Hinweis, dass die Steuerfestsetzung nach § 165 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 AO vorläufig war. Die negativen Einkünfte der Klägerin aus selbständiger Arbeit wurden vom Vorläufigkeitskatalog jedoch nicht mehr explizit erfasst.

26

Aus dem Inhalt des Änderungsbescheides vom 07.04.2006 konnte die Klägerin als Empfängerin des Bescheides folglich nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass die Festsetzung in Bezug auf ihre negativen Einkünfte aus selbständiger Arbeit weiterhin vorläufig sein sollte. Für diese Sichtweise spricht nach dem Grundsatz von Treu und Glauben auch, dass die Festsetzungen für nachfolgende Veranlagungszeiträume, die teilweise vor der Änderung des Bescheides am 07.04.2006 ergingen, in Bezug auf die teils negativen und teils positiven Einkünfte der Klägerin aus selbständiger Arbeit keinen Vorläufigkeitsvermerk enthielten.

27

bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass das FA in dem Änderungsbescheid vom 07.04.2006 unter der Überschrift „Festsetzung“ die Vorschrift des § 165 Abs. 1 Satz 1 AO erneut zitiert hat. Allein aufgrund dessen konnte die Klägerin nicht erkennen, dass die Vorläufigkeit in Bezug auf ihre negativen Einkünfte aus selbständiger Arbeit des Streitjahres weiter fortgelten sollte, da in den Erläuterungen des geänderten Bescheides vom 07.04.2006 keine ausdrückliche Zuordnung der Vorläufigkeitsgründe zum jeweiligen Satz des § 165 Abs. 1 AO enthalten war. Der Steuerpflichtige muss jedoch wissen, welche Umstände der endgültigen Festsetzung bzw. Feststellung entgegenstehen und hinsichtlich welcher als ungewiss betrachteter Tatsachen nach § 165 Abs. 1 Satz 1 oder Satz 2 AO sich das FA eine weitere Überprüfung vorbehält.

28

cc) Eine andere Beurteilung des Streitfalls ergibt sich auch nicht daraus, dass nach der Rechtsprechung des BFH der Vorläufigkeitsvermerk grundsätzlich bis zu seiner ausdrücklichen Aufhebung wirksam bleibt, auch wenn er in einem Änderungsbescheid nicht ausdrücklich wiederholt wird (vgl. BFH-Urteile vom 15.07.1987 – X R 19/80, BFHE 150, 459, BStBl II 1987, 746; vom 09.09.1988 – III R 191/84, BFHE 154, 430, BStBl II 1989, 9; vom 22.11.1994 – VII R 40/94, BFH/NV 1995, 1108; vom 14.07.2015 – VIII R 21/13, BFHE 253, 1, BStBl II 2016, 371). Eine –nach diesen Grundsätzen– unwirksame stillschweigende Aufhebung des Vorläufigkeitsvermerks liegt nicht vor, wenn das FA den Vorläufigkeitsvermerk in einem Änderungsbescheid inhaltlich abändert. Denn ein in einem Änderungsbescheid enthaltener Vorläufigkeitsvermerk, der an die Stelle des bereits im Vorgängerbescheid enthaltenen Vorläufigkeitsvermerks tritt, bestimmt den Umfang der Vorläufigkeit neu und regelt abschließend, inwieweit die Steuer nunmehr vorläufig festgesetzt ist (BFH-Urteil in BFHE 190, 44, BStBl II 2000, 282, Rz 17). Im Streitfall hat das FA dem Änderungsbescheid vom 07.04.2006 einen solchen inhaltlich geänderten Vorläufigkeitsvermerk beigefügt, da sich dieser nicht (mehr) auf die Einkünfte der Klägerin aus selbständiger Arbeit i.S. des § 18 des Einkommensteuergesetzes bezog. Für die Klägerin war nach „objektivem Verständnishorizont“ nicht erkennbar, dass der ursprüngliche Vorläufigkeitsvermerk trotz der Änderung wirksam bleiben sollte.

29

dd) Schließlich führt auch das vom FA zitierte Urteil des FG Münster in EFG 2012, 1616 zu keiner anderen Beurteilung, da der dieser Entscheidung zugrundeliegende Sachverhalt nicht mit dem vorliegenden Fall vergleichbar ist. Während bei dem Fall des FG Münster dem Steuerpflichtigen aufgrund einer einvernehmlichen Beendigung des Einspruchsverfahrens von vornherein klar war, welche Ausführungen in den Erläuterungen sich auf die vorläufige Festsetzung i.S. des § 165 Abs. 1 Satz 1 oder Satz 2 AO bezogen, war dies im vorliegenden Fall für die Klägerin nicht erkennbar. Die Klägerin konnte danach –anders als in dem vom FG Münster entschiedenen Fall– davon ausgehen, dass in dem Änderungsbescheid vom 07.04.2006 die Anordnung der Vorläufigkeit in Bezug auf ihre Einkünfte aus selbständiger Arbeit aufgehoben worden war.

30

2. Die Änderung des Bescheides vom 07.04.2006 war auch nicht aufgrund einer anderen Korrekturvorschrift nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. d AO zulässig.

31

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.