BFH 8. Senat, Beschluss vom 05.06.2020, AZ VIII B 38/19, ECLI:DE:BFH:2020:B.050620.VIIIB38.19.0
§ 96 Abs 1 S 1 Halbs 1 FGO, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 116 Abs 6 FGO
Leitsatz
NV: Das FG entscheidet unter Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten, wenn es seine Entscheidung maßgeblich auf in den Akten befindliche Unterlagen stützt, diese Unterlagen die durch das FG gezogenen Schlussfolgerungen aber nicht stützen (vgl. BFH-Beschluss vom 17.07.2019 – II B 30, 32-34, 38/18, BFHE 265, 5, BStBl II 2019, 620).
Verfahrensgang
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 13. Dezember 2018, Az: 12 K 12028/16, Urteil
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 13.12.2018 – 12 K 12028/16 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Gründe
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Die Beschwerde ist begründet.
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Das Finanzgericht (FG) hat seine Entscheidung maßgeblich auf die Ermittlungsergebnisse der Steuerfahndung gestützt, die im strafrechtlichen Ermittlungsbericht und im Bericht über die steuerlichen Feststellungen der Steuerfahndung (jeweils vom …2015) sowie in einem Vermerk der zuständigen Steuerfahndungsstelle vom …2015 wiedergegeben sind und Bestandteile der sog. Hinweisakte des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt –FA–) waren. Das FG hat bei seiner Entscheidung den klaren Inhalt der Akten missachtet, da die in Bezug genommenen Ermittlungsergebnisse der Steuerfahndung keine konkreten Feststellungen dazu enthalten, in welcher Weise dem Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) in den Streitjahren 2003 bis 2009 (Streitjahre) nicht erklärte Mehrhonorare aus seiner freiberuflichen Tätigkeit in der vom FG angenommenen Höhe zugeflossen sind. Wegen des vom Kläger (sinngemäß) gerügten Verstoßes des FG gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist das Urteil des FG aufzuheben und die Sache nach § 116 Abs. 6 FGO an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
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1. Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das Gesamtergebnis des Verfahrens umfasst den gesamten durch das Klagebegehren begrenzten und durch die Sachaufklärung des Gerichts und die Mitverantwortung der Beteiligten konkretisierten Prozessstoff. Insbesondere verpflichtet § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO das Gericht, den Inhalt der ihm vorliegenden Akten vollständig und einwandfrei zu berücksichtigen (vgl. z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 09.07.2012 – III B 66/11, BFH/NV 2012, 1631, Rz 18, m.w.N.; vom 16.07.2019 – X B 114/18, BFH/NV 2019, 1127, Rz 21). Das FG entscheidet unter Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten, wenn es seine Entscheidung maßgeblich auf in den Akten befindliche Unterlagen stützt, diese Unterlagen die durch das FG gezogenen Schlussfolgerungen aber nicht stützen (vgl. BFH-Beschluss vom 17.07.2019 – II B 30, 32-34, 38/18, BFHE 265, 5, BStBl II 2019, 620, Leitsatz 1. und Rz 12).
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2. Nach diesem Maßstab liegt der gerügte Verstoß, das FG habe bei seiner rechtlichen und tatsächlichen Würdigung des Streitfalls gegen den klaren Inhalt der Akten entschieden, vor.
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a) Der strafrechtliche Ermittlungsbericht, der Bericht über die steuerlichen Feststellungen der Steuerfahndung (beide vom …2015) sowie der Vermerk der Steuerfahndung vom …2015 waren in der Hinweisakte des FA abgelegt, die dem FG gemäß § 71 Abs. 2 FGO übermittelt worden und damit Bestandteil derjenigen Akten war, deren Inhalt das FG vollständig und einwandfrei zu berücksichtigen hatte.
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b) Die in den Akten enthaltenen und vom FG in Bezug genommenen Unterlagen stützen nicht die Schlussfolgerung des FG (und des FA), der Kläger habe nicht erklärte Mehrgewinne aus seiner freiberuflichen Tätigkeit in Höhe von … € in den Streitjahren vereinnahmt.
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aa) Dem Kläger wurden in den angefochtenen Bescheiden der Streitjahre nicht erklärte Mehrgewinne in Höhe von … € zugerechnet. Diese Mehrgewinne entsprechen der Differenz zwischen denjenigen Beträgen, die die X-Gesellschaften gegenüber den Hauptauftraggebern abgerechnet und vereinnahmt haben und den Beträgen, die der Kläger den X-Gesellschaften selbst in Rechnung gestellt und in seinen Gewinnermittlungen für die Streitjahre ausgewiesen hat (vgl. Anlage 1 zum Bericht der Steuerfahndung vom …2015). Zur Begründung, der Kläger habe diese Differenzbeträge in voller Höhe in den Streitjahren jeweils selbst vereinnahmt, stützt sich das FG (Bl. 14 der Vorentscheidung unter 2.) auf die Ergebnisse der Steuerfahndung in dem in der Hinweisakte abgelegten strafrechtlichen Ermittlungsbericht und im Bericht der Steuerfahndung (beide vom …2015) sowie auf den Vermerk der Steuerfahndung vom …2015. Der Kläger habe die Differenzbeträge –so das FG auf Bl. 13/14 der Vorentscheidung unter dd– über „das Konto bei der A-Bank“ vereinnahmt. Aus den in den Akten befindlichen Unterlagen der Steuerfahndung vom …2015/…2015 und dem Tatbestand des FG-Urteils geht hierzu im Einzelnen hervor, dass im Streitzeitraum 2003 bis 2009 auf das Konto Nr. … bei der A-Bank, das auf den Namen von Frau … geführt worden und dem Kläger zuzurechnen sei, zwischen dem 08.12.2003 und dem 19.04.2005 insgesamt … € überwiesen wurden. Zudem enthält Ziffer 10 des Berichts über die steuerlichen Feststellungen der Steuerfahndung vom …2015 die Aussage, dem Kläger seien in der Zeit vom 01.01.2003 bis zum 31.12.2008 auf „ausländische Konten“ insgesamt … € zugeflossen.
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bb) Die Feststellungen der Steuerfahndung in den in den Akten befindlichen Unterlagen vom …2015/…2015 stützen damit nicht die Schlussfolgerung des FG (und des FA), dass dem Kläger Differenzbeträge in Höhe von … €, die als nicht erklärte Mehrgewinne in den Steuerbescheiden erfasst wurden, durch Überweisungen auf das Konto bei der A-Bank oder andere ausländische Konten, über die er die Verfügungsmacht hatte, in den Streitjahren zugeflossen sind. Der nach den Unterlagen zwischen dem 08.12.2003 und dem 19.04.2005 auf das Konto bei der A-Bank überwiesene Betrag (… €) ist deutlich geringer als die Summe der zu Lasten des Klägers für die Streitjahre 2003 bis 2005 angesetzten Mehrgewinne in Höhe von … €, ohne dass in den in den Akten befindlichen Unterlagen Feststellungen getroffen wurden, die diese Differenz erklären. Die Schlussfolgerung, der Kläger habe im Streitzeitraum 2007 bis 2009 Differenzbeträge auf anderen „ausländischen Konten“ vereinnahmt, ist in den in den Akten befindlichen Unterlagen zwar enthalten. Der Akteninhalt umfasst aber keine konkreten Feststellungen, aus denen sich darauf schließen lässt, wie (auf welchen ausländischen Konten neben dem Konto bei der A-Bank) und zu welchen Zeitpunkten der Kläger über dorthin überwiesene Differenzbeträge die Verfügungsmacht erlangt hat.
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c) Die Vorentscheidung beruht auf einem Verfahrensverstoß, da das FG sich zur Höhe der vom Kläger nicht erklärten Gewinne die Feststellungen in den in Bezug genommenen Unterlagen in der Hinweisakte in vollem Umfang zu eigen gemacht hat, ohne eigene Feststellungen zu treffen.
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3. Da das FG seine Pflicht aus § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO verletzt hat und bereits hierdurch die Voraussetzungen des § 116 Abs. 6 FGO erfüllt sind, war auf die weiteren Rügen des Klägers nicht mehr im Einzelnen einzugehen.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.