Ermittlungsbefugnis des Gerichts im PKH-Verfahren (Beschluss des BFH 10. Senat)

BFH 10. Senat, Beschluss vom 28.05.2020, AZ X S 38/19 (PKH), X S 4/20 (PKH), X S 38/19 (PKH), X S 4/20 (PKH), ECLI:DE:BFH:2020:B.280520.XS38.19.0

§ 42 Abs 2 ZPO, § 118 Abs 2 S 2 ZPO, § 76 Abs 1 FGO, § 86 Abs 1 FGO, § 86 Abs 2 FGO

Leitsatz

1. NV: Vermeintliche Verfahrensverstöße oder sonstige Rechtsfehler eines Richters stellen grundsätzlich keinen Grund für die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit dar. Etwas anderes gilt nur, wenn zusätzlich Gründe dargelegt werden, die dafür sprechen, dass der Fehler auf einer unsachlichen Einstellung des Richters gegenüber dem ihn ablehnenden Beteiligten oder auf Willkür beruht.

2. NV: Wenn ein PKH-Antragsteller unzureichende Angaben über seine Renteneinnahmen macht, ist das für die Bewilligung der PKH zuständige Gericht befugt, den Rentenversicherungsträger um Auskunft zur Höhe der bezogenen Rente zu ersuchen. Ob das Sozialgeheimnis der Auskunftserteilung entgegensteht, hat weder das ersuchende Gericht noch der ersuchte Rentenversicherungsträger zu entscheiden, sondern die oberste Aufsichtsbehörde des Rentenversicherungsträgers (§ 86 Abs. 2 FGO).

Verfahrensgang

vorgehend Thüringer Finanzgericht, 11. Juli 2019, Az: 4 K 675/14, Urteil

Tenor

Die Verfahren über die Ablehnungsanträge werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

Die Ablehnungsanträge des Antragstellers vom 19.03.2020 gegen den Berichterstatter, Richter am Bundesfinanzhof …, werden abgelehnt.

Tatbestand

I.

1

Der Kläger und Antragsteller (Antragsteller) beantragte beim Bundesfinanzhof (BFH) die Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) sowohl für ein beabsichtigtes Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde gegen ein Urteil des Thüringer Finanzgerichts (FG) als auch für eine beabsichtigte Entschädigungsklage wegen der Dauer des Verfahrens vor dem FG. Er reichte jeweils eine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse ein.

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Der Berichterstatter (BE) der beiden PKH-Verfahren bat den Antragsteller mit Schreiben vom 13.02.2020 um Überprüfung seiner Angaben, da der Rentenversicherungsträger (R) während des Klageverfahrens mitgeteilt habe, der Antragsteller beziehe eine Rente.

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Hierauf erklärte der Antragsteller mit Schreiben vom 02.03.2020, er beziehe derzeit keine Rente und bitte um besonders aufmerksame Einhaltung des Steuer- und Sozialgeheimnisses. Eine Verwendung seiner Sozialdaten für Zwecke des PKH-Verfahrens sei durch die entsprechenden Regelungen des Sozialgesetzbuchs (§ 35 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch –SGB I–, § 78 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch –SGB X–) verboten.

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Am 05.03.2020 wandte sich der BE an R und bat um Mitteilung, ob und in welcher Höhe der Antragsteller aktuell eine Leistung beziehe. Dieses Schreiben wurde R am 05.03.2020 per Telefax übermittelt und am 06.03.2020 mit der Briefpost sowohl an R als auch zur Kenntnis an den Antragsteller abgesandt. R erteilte die erbetene Auskunft mit Schreiben vom 10.03.2020.

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Am 19.03.2020 lehnte der Antragsteller den BE wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Dieser habe einen Angriff auf sein Sozialgeheimnis geführt. Erschwerend komme hinzu, dass der BE das Auskunftsersuchen vom 05.03.2020 an R per Telefax, aber an den Antragsteller nur mit normaler Briefpost übermittelt habe. Der Antragsteller habe dadurch keine Möglichkeit gehabt, rechtzeitig eine Schutzschrift einzureichen.

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In seiner dienstlichen Erklärung hat der BE ausgeführt, er habe aufgrund des Akteninhalts –einschließlich der eigenen Ausführungen des Antragstellers in einem Erörterungstermin am 10.11.2016– Zweifel an der Richtigkeit von dessen Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse gehabt. Nachdem diese Zweifel auch durch die Antwort des Antragstellers auf die an diesen gerichtete Anfrage vom 13.02.2020 nicht hätten ausgeräumt werden können, habe der BE sich entschlossen, R um Auskunft zu bitten. Er hielt und halte diese Vorgehensweise für berechtigt, da auch im PKH-Verfahren die Untersuchungsmaxime nach § 76 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gelte. Gemäß § 118 Abs. 2 Satz 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) sei das Gericht im PKH-Verfahren zur Einholung von Auskünften berechtigt. Behörden seien gemäß § 86 Abs. 1 FGO grundsätzlich zur Erteilung von Auskünften verpflichtet.

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Auf eine entsprechende Beschwerde des Antragstellers hat R den BFH mit Schreiben vom 06.05.2020 gebeten, das Auskunftsschreiben vom 10.03.2020 im Original sowie alle gefertigten Kopien zurückzusenden und die darin enthaltenen Informationen nicht zu verwerten. Nach Auffassung von R hätte die Auskunft aufgrund des Sozialgeheimnisses nicht erteilt werden dürfen. Die Vorsitzende des beschließenden Senats hat R am 26.05.2020 auf die Zuständigkeitsregelung des § 86 Abs. 2 Satz 1 FGO hingewiesen und anheimgestellt, die oberste Aufsichtsbehörde um Entscheidung über die Verweigerung der Auskunft zu ersuchen.

8

Die vom Antragsteller angekündigte ausführliche Begründung seines Ablehnungsgesuchs ist weder innerhalb der erbetenen Frist von einem Monat ab Zusendung der dienstlichen Erklärung noch danach eingegangen.

Entscheidungsgründe

II.

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Die Ablehnungsanträge haben keinen Erfolg.

10

1. Nach § 42 Abs. 1 Alternative 2 ZPO i.V.m. § 51 Abs. 1 Satz 1 FGO kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Die Ablehnung findet in diesen Fällen statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen (§ 42 Abs. 2 ZPO). Dabei kommt es nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung darauf an, ob der Beteiligte von seinem Standpunkt aus bei vernünftiger und objektiver Betrachtung davon ausgehen darf, der Richter werde nicht unvoreingenommen, sondern willkürlich entscheiden (BFH-Beschluss vom 24.08.2011 – V S 16/11, BFH/NV 2011, 2087).

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Vermeintliche Verfahrensverstöße oder sonstige Rechtsfehler eines Richters stellen grundsätzlich keinen Ablehnungsgrund dar. Das Institut der Richterablehnung soll eine unparteiische Rechtspflege sichern, nicht aber die Möglichkeit einer Überprüfung einzelner Verfahrenshandlungen eröffnen. Nur ausnahmsweise können Verfahrens- oder Rechtsverstöße eine Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen. Dies setzt indes die Darlegung von Gründen voraus, die dafür sprechen, dass eine –ohne Weiteres feststellbare– Fehlerhaftigkeit auf einer unsachlichen Einstellung des Richters gegenüber dem ihn ablehnenden Beteiligten oder auf Willkür beruht (zum Ganzen vgl. BFH-Beschlüsse vom 24.11.1994 – X B 146-149/94, BFH/NV 1995, 692, unter 2.a, m.w.N.; vom 20.06.2013 – IX S 12/13, BFH/NV 2013, 1444, und vom 12.09.2013 – X S 30, 31/13, BFH/NV 2014, 51, Rz 8).

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2. Nach diesen Grundsätzen besteht in Bezug auf den BE vorliegend keine Besorgnis der Befangenheit.

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a) Der Senat ist bereits der Auffassung, dass die Anfrage des BE an R vom 05.03.2020 nicht verfahrensfehlerhaft war, so dass es an jeder Grundlage für die Annahme einer hierauf gestützten Besorgnis der Befangenheit fehlt.

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Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO). Dabei sind die Beteiligten heranzuziehen und haben ihre Erklärungen über tatsächliche Umstände vollständig und der Wahrheit gemäß abzugeben (§ 76 Abs. 1 Sätze 2 und 3 FGO). Nach der ausdrücklich für das PKH-Verfahren geltenden Regelung des § 118 Abs. 2 Satz 2 ZPO kann das Gericht Erhebungen anstellen, insbesondere Auskünfte einholen.

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Wenn § 86 Abs. 1 FGO eine grundsätzliche Auskunftspflicht von Behörden enthält (dazu gehören nicht nur Finanzbehörden, sondern sämtliche Behörden; vgl. Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 86 FGO Rz 10, 15, 25) und § 86 Abs. 2 Satz 1 FGO die Entscheidung darüber, ob im Einzelfall die Auskunft verweigert werden soll, der zuständigen obersten Aufsichtsbehörde zuweist, dann folgt aus diesen Regelungszusammenhängen zwingend, dass nicht schon die bloße Anfrage des Gerichts bei einer Behörde unzulässig sein kann. Ob der Auskunftserteilung ein gesetzliches Verbot entgegensteht, hat daher weder das anfragende Gericht –bereits im Vorfeld– abschließend zu prüfen noch die Behörde, die über die angeforderten Informationen verfügt, abschließend zu entscheiden, sondern allein deren oberste Aufsichtsbehörde.

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Damit korrespondierend weist § 67d Abs. 1 Satz 1 SGB X die Verantwortung für die Zulässigkeit der Bekanntgabe von Sozialdaten durch ihre Weitergabe an einen Dritten allein der übermittelnden Stelle (hier: R) zu. Der ersuchende Dritte (hier: der BFH) trägt nur die Verantwortung der Richtigkeit der Angaben in seinem Ersuchen (§ 67d Abs. 1 Satz 2 SGB X). Dass der BE in seinem Ersuchen vom 05.03.2020 gegenüber R unrichtige Angaben gemacht hätte, ist nicht ersichtlich und wird auch vom Antragsteller selbst nicht behauptet.

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b) Ebenso war es nicht verfahrensfehlerhaft, dass der BE den Antragsteller nicht schon vorab über seine Absicht, ein Auskunftsersuchen an R zu richten, informiert hat, damit dieser eine Schutzschrift einreichen könne. Eine solche Verpflichtung zur Vorabinformation über beabsichtigte Ermittlungsmaßnahmen ergibt sich weder aus dem Gesetz noch aus der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Auch der Antragsteller hat keine entsprechende Rechtsgrundlage angeführt.

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Die Verantwortung für die Einhaltung des Sozialgeheimnisses liegt nicht beim Antragsteller, sondern –wie bereits dargelegt– gemäß § 67d Abs. 1 Satz 1 SGB X bei der ersuchten Behörde; die abschließende Entscheidung liegt gemäß § 86 Abs. 2 Satz 1 FGO bei deren oberster Aufsichtsbehörde. Schon deshalb muss dem Antragsteller nicht vorab Gelegenheit gewährt werden, eine Schutzschrift zu erstellen.

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c) Auch wenn damit bereits ein Verfahrensfehler des BE ausscheidet, weist der Senat darüber hinaus darauf hin, dass sich den Ausführungen des Antragstellers nicht entnehmen lässt, weshalb das von BE an R gerichtete Auskunftsersuchen auf einer unsachlichen Einstellung gegenüber dem Antragsteller beruhen sollte. Sowohl den Akten als auch der dienstlichen Erklärung des BE ist zu entnehmen, dass BE Zweifel an der Richtigkeit der Angaben des Antragstellers zur Höhe seiner Einnahmen hegte. Nachdem eine Anfrage beim Antragsteller nicht zu der erforderlichen Aufklärung geführt hat, hat der BE sich an R gewandt. Ermittlungshandlungen bei Dritten sind –nach ergebnisloser Anfrage beim Beteiligten– ein üblicher Vorgang innerhalb eines finanzgerichtlichen Verfahrens. Sie deuten als solche nicht auf eine unsachliche Einstellung gegenüber dem Beteiligten hin, sondern setzen die Pflicht des Gerichts zur Sachverhaltsermittlung von Amts wegen (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) um.