BPatG München 3. Senat, Beschluss vom 04.05.2023, AZ 3 Ni 2/21 (EP), ECLI:DE:BPatG:2023:040523U3Ni2.21EP.0
Leitsatz
Zur Bestimmung der objektiven Aufgabe bei medizinischen Indikationen.
Tenor
In der Patentnichtigkeitssache
…
betreffend das europäische Patent 1 559 427
(DE 603 36 334.2)
und das ergänzende Schutzzertifikat DE 12 2013 000 047
hat der 3. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 4. Mai 2023 durch den Richter Schwarz als Vorsitzenden, die Richterin Dipl.-Chem. Dr. Münzberg, den Richter Dipl.-Chem. Dr. Jäger, den Richter Schödel sowie die Richterin Dr.-Ing. Philipps
für Recht erkannt:
I. Das europäische Patent EP 1 559 427 wird mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland für nichtig erklärt.
II. Das ergänzende Schutzzertifikat DE 12 2013 000 047 wird für nichtig erklärt.
III. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
IV. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des aufgrund der als WO 2004/041276 veröffentlichten internationalen Anmeldung vom 4. November 2003 unter Inanspruchnahme der Priorität aus der japanischen Anmeldung JP 2002323792 vom 7. November 2002 auch mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland in englischer Verfahrenssprache erteilten europäischen Patents 1 559 427 (Streitpatent; im Folgenden: BB01) mit der Bezeichnung „REMEDY FOR OVERACTIVE BLADDER COMPRISING ACETIC ACID ANILIDE DERIVATIVE AS THE ACTIVE INGREDIENT“ (in Deutsch laut Streitpatentschrift: „MITTEL ZUR BEHANDLUNG VON BLASENHYPERAKTIVITÄT MIT EINEM ESSIGSÄUREANILIDDERIVAT ALS WIRKSTOFF“).
2
Das beim Deutschen Patent- und Markenamt unter dem Aktenzeichen DE 603 36 334.2 geführte Streitpatent betrifft die Verwendung des unter dem INN,,Mirabegron“ bekannten Wirkstoffs (R)-2-(2-Aminothiazol-4-yl)-4′-[2-[(2-hydroxy-2-phenylethyl)amino]ethyl] essigsäureanilid oder eines Salzes davon zur Behandlung einer überaktiven Blase und umfasst den unabhängigen Patentanspruch 1 sowie die auf ihn zurückbezogenen Patentsprüche 2 bis 6.
3
Patentanspruch 1 lautet in der Verfahrenssprache:
4
1. A remedy for use in the treatment of overactive bladder comprising (R)-2-(2-aminothiazol-4-yl)-4’-[2-[(2-hydroxy-2-phenylethyl)amino]ethyl] acetic acid anilide or a salt thereof as an active ingredient.
5
und in deutscher Sprache laut der Streitpatentschrift:
6
1. Heilmittel für die Verwendung bei der Behandlung einer überaktiven Blase, das (R)-2-(2-Aminothiazol-4-yl)-4’-[2-[(2-hydroxy-2-phenylethyl) amino]ethyl]essigsäureanilid oder ein Salz davon als Wirkstoff umfasst.
7
Auf der Grundlage des Streitpatents und der arzneimittelrechtlichen Genehmigung EU/1/12/809/001–014 vom 20. Dezember 2012 wurde am 28. August 2015,
8
berichtigt durch Beschluss des DPMA vom 7. Oktober 2016, das Ergänzende Schutzzertifikat DE 12 2013 000 047 für das Erzeugnis „Mirabegron“ zugunsten der Beklagten mit einer Laufzeit vom 5. November 2023 bis zum 07. Januar 2028 erteilt.
9
Mit ihrer Nichtigkeitsklage begehrt die Klägerin zum einen die vollständige Nichtigerklärung des Streitpatents mangels Patentfähigkeit, hinsichtlich der Hilfsanträge auch wegen unzulässiger Erweiterung und in Bezug auf den Hilfsantrag 2 des Weiteren wegen nicht ausführbarer Offenbarung, und zum anderen auch des Ergänzenden Schutzzertifikats wegen Schutzunfähigkeit des Grundpatents. Die Beklagte verteidigt ihr Patent in der erteilten Fassung sowie jeweils als geschlossene Anspruchssätze in den Fassungen der Hilfsanträge 1 und 2 vom 27. August 2021 sowie des Hilfsantrags 3 vom 20. März 2023.
10
Die Patentansprüche in den Fassungen der Hilfsanträge lauten in der Verfahrenssprache wie folgt (Änderungen gegenüber der erteilten Fassung gekennzeichnet):
11
Hilfsantrag 1:
12
- 1.
- A remedy for use in the treatment of overactive bladder comprising (R)-2-(2-aminothiazol-4-yl)-4’-[2-[(2-hydroxy-2-phenylethyl)amino]ethyl] acetic acid anilide or a salt thereof as an active ingredient, wherein it is a remedy for use in the treatment of urinary incontinence and/or pollakiuria.
- 2.
- A remedy for use according to claim 1 comprising a free substance of (R)-2-(2-aminothiazol-4-yl)-4’-[2-[(2-hydroxy-2-phenylethyl)amino]ethyl] acetic acid anilide as an active ingredient.
- 3.
- A remedy for use according to claim 1 or claim 2, wherein it is a remedy for use in the treatment of overactive bladder as a result of benign prostatic hyperplasia.
- 4.
- A remedy for use according to claim 1 or claim 2, wherein it is a remedy for use in the treatment of urinary urgency.
- 5.
- A remedy for use according to claim 1 or claim 2, wherein it is a remedy for use in the treatment of urinary incontinence.
- 6.
- A remedy for use according to claim 1 or claim 2, wherein it is a remedy for use in the treatment of pollakiuria.
13
Hilfsantrag 2
14
1. A remedy for use in the treatment of overactive bladder resulting from an imbalance of the autonomic dual control of the detrusor muscle comprising (R)-2-(2-aminothiazol-4-yl)-4’-[2-[(2-hydroxy-2-phenylethyl) amino]ethyl]acetic acid anilide or a salt thereof as an active ingredient, wherein it is a remedy for use in the treatment of urinary incontinence and/or pollakiuria.
15
2. A remedy for use according to claim 1 comprising a free substance of (R)-2-(2-aminothiazol-4-yl)-4’-[2-[(2-hydroxy-2-phenylethyl)amino]ethyl] acetic acid anilide as an active ingredient.
16
3. A remedy for use according to claim 1 or claim 2, wherein it is a remedy for use in the treatment of overactive bladder as a result of benign prostatic hyperplasia.
17
4. A remedy for use according to claim 1 or claim 2, wherein it is a remedy for use in the treatment of urinary urgency.
18
5. A remedy for use according to claim 1 or claim 2, wherein it is a remedy for use in the treatment of urinary incontinence.
19
6. A remedy for use according to claim 1 or claim 2, wherein it is a remedy for use in the treatment of pollakiuria.
20
Hilfsantrag 3 entspricht dem erteilten Patentanspruch 1 unter Streichung der erteilten Patentansprüche 2 bis 6.
21
Beide Parteien haben zur Stützung ihres jeweiligen Vortrags u.a. folgende Druckschriften eingereicht (Nummerierung und Kurzzeichen von den Parteien vergeben):
22
- BB01
- EP 1 559 427 B1 (Streitpatent)
- BB06
- WO 99/51564 A1
- BB07a
- Tanaka, N. et al., J. Med. Chem., 2001, 44, 1436-1445
- BB08
- Fujimura, T. et al., The Journal of Urology, 1999, 161, 680-685
- BB11
- Chancellor, M. B., Reviews in Urology, 2002, 4, Suppl. 4, S50-S56
- BB13
- WO 99/20607 A1
- BB14
- EP 1 028 111 A1
- BB15
- WO 03/037881 A1
- BB16
- EP 1 440 969 A1
- BB18
- DE 103 51 271 A1
- BB19
- WO 2004/047830 A2
- BB20
- WO 02/00622 A2
- BB30
- Screenshot des Internetarchivs „archive.org“ zur Veröffentlichung der BB11
- BB32
- De Groat, W.C., Urology, 1997, 50 (Suppl. 6A), 36-52
- BB38
- Fraunhofer CIMD, „Phasen der Medikamentenentwicklung“, 2023, 1 Seite
- HE7
- District Court of the Hague, Urteil vom 23. November 2022
23
Die Klägerin ist der Auffassung, dass das Streitpatent gegenüber den Druckschriften BB18 und BB19 nicht neu sei; diese Druckschriften, deren Zeitrang nach dem Prioritätszeitpunkt, aber vor Anmeldung des Streitpatents liegt, seien dabei als Stand der Technik gemäß § 3 Abs. 2 PatG zu beachten, denn das Streitpatent nehme die Priorität der japanischen Voranmeldung zu Unrecht in Anspruch. Darüber hinaus fehle dem streitpatentgemäßen Gegenstand die erfinderische Tätigkeit gegenüber Verbindungen der Druckschrift BB20 mit BB13/ BB14 oder den Druckschriften BB20, BB11, BB08 oder BB06 jeweils mit den Druckschriften BB15/BB16 sowie den Druckschriften BB13/BB14 oder BB15/BB16 jeweils mit den Druckschriften BB11, BB20, BB08 oder BB06.
24
In den Fassungen der Hilfsanträge sei der mit ihnen beanspruchte Gegenstand zudem unzulässig erweitert und gegenüber dem benannten Stand der Technik aus denselben Gründen wie die erteilte Fassung nicht patentfähig. Darüber hinaus sei die Fassung nach Hilfsantrag 2 auch nicht ausführbar offenbart.
25
Die Klägerin beantragt,
26
das europäische Patent 1 559 427 mit Wirkung für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland sowie das Ergänzende Schutzzertifikat DE 12 2013 000 047 für nichtig zu erklären.
27
Die Beklagte beantragt,
28
die Klage abzuweisen,
29
hilfsweise die Klage mit der Maßgabe abzuweisen, dass das Streitpatent eine der Fassungen nach den Hilfsanträgen 1 oder 2 gemäß Schriftsatz vom 27. August 2021 oder nach Hilfsantrag 3 laut Schriftsatz vom 20. März 2023 erhält.
30
Die Beklagte hält den Gegenstand des Streitpatents in wenigstens einer der verteidigten Fassungen für schutzfähig. Gegenüber BB18 und BB19 sei er neu, da sich ihnen nicht unmittelbar und eindeutig der streitpatentgemäße Wirkstoff zur Behandlung der überaktiven Blase entnehmen lasse; zudem seien diese Druckschriften kein Stand der Technik, da das Streitpatent seine Priorität zu Recht in Anspruch nehme. Auch die erfinderische Tätigkeit gegenüber dem benannten Stand der Technik könne nicht verneint werden. Die objektive Aufgabe bestehe dabei darin, zur Behandlung der überaktiven Blase einen neuen Wirkstoff zu finden. Eine Anregung für den Fachmann, den Weg der Erfindung zu beschreiten und sich für die Behandlung überaktiver Blasen konkret Mirabegron zuzuwenden, könne dem im Verfahren befindlichen Stand der Technik nicht entnommen werden.
Entscheidungsgründe
A.
31
Die zulässige Klage ist begründet. Das Streitpatent ist gemäß Artikel II § 6 Absatz 1 Nr. 1 IntPatÜG, Art. 138 Abs. 1 Buchst. a) EPÜ i. V. m. Art. 52, 56 EPÜ und das auf seiner Grundlage erteilte Schutzzertifikat nach Art. 15 Abs. 1 lit. c) der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel (ABl. 2009 L 152/1; im Folgenden: AMVO) jeweils für nichtig zu erklären, da der Gegenstand des Streitpatents sowohl in der erteilten Fassung als auch in den Fassungen der Hilfsanträge, mit denen die Beklagte es verteidigt, nicht patentfähig ist. Auf die weiteren Fragen der wirksamen Beanspruchung der Priorität des Streitpatents, der Neuheitsschädlichkeit der BB18 und BB19 sowie der sonstigen möglichen Nichtigkeitsgründe, die einer Anspruchsfassung nach den Hilfsanträgen ebenfalls entgegenstehen könnten, kommt es bei dieser Sachlage nicht mehr an, so dass diese Fragen dahingestellt bleiben können.
I.
32
1. Das Streitpatent betrifft die Behandlung von überaktiver Blase mit Mirabegron (vgl. BB01 Abs. [0001], Patentanspruch 1). Nach den Erläuterungen des Streitpatents unterliegt die Blase einer doppelten Innervierung. Zum einen werde die Blase durch die adrenerge Stimulation sympathischer Nerven entspannt und zum anderen werde durch Stimulation von parasympathischen Nerven über den Muscarinrezeptor eine Kontraktion herbeigeführt. Geraten diese gegenläufigen Prozesse aus dem Gleichgewicht, könne es zu unkontrollierten Kontraktionen des Detrusor-Muskels und damit zu einer überaktiven Blase kommen (vgl. BB01 Abs. [0002]. Eine überaktive Blase zeichne sich streitpatentgemäß durch häufigen Harndrang aus, der mit Inkontinenz und Pollakisurie einhergehen könne (vgl. BB01 Abs. [0013], [0014]). Eine überaktive Blase sei bisher mit Anticholinergika behandelt worden, was allerdings nur teilweise erfolgreich und mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden gewesen sei, weshalb ein Bedarf an neuen Wirkstoffen gegen überaktive Blase bestünde (vgl. BB01 Abs. [0002] und [0003]). Mirabegron sei ein bekannter Wirkstoff zur Behandlung von Diabetes mellitus. Zudem sei bekannt, dass b3-Adrenorezeptor-Stimulantien geeignete Wirkstoffe u.a. zur Behandlung des Harndrangs und der Harninkontinenz seien (vgl. BB01 Abs. [0004] bis [0012].
33
2. Ausgehend hiervon liegt dem Streitpatent, das selbst hierzu keine Ausführungen enthält, die objektive Aufgabe zugrunde, für den bekannten Wirkstoff Mirabegron neue Anwendungsgebiete bzw. Indikationen aufzufinden.
34
Soweit die Beklagte demgegenüber meint, die objektive Aufgabe des Grundpatents sei stattdessen darin zu sehen, eine verbesserte Therapie der überaktiven Blase bzw. alternative b3-Adrenergenrezeptor-Agonisten (= b3-AR-Agonisten) zur Behandlung von überaktiver Blase, akutem Harndrang, Harninkontinenz oder Pollakisurie bereitzustellen, kann dem aus rechtlichen und sachlichen Gründen nicht gefolgt werden.
35
2.1 Der Gegenstand der vom Streitpatent beanspruchten Lehre wird maßgeblich durch das Zusammenwirken von Problem und dessen erfindungsgemäßer Lösung charakterisiert (BGH GRUR 1985, 31, 32 – Acrylfasern; BGH GRUR 1991, 811, 814 – Falzmaschine). Aus dem technischen Problem ergibt sich auch, ob der Stand der Technik Anlass bot, sich mit einer bestimmten Problemstellung zu befassen und hierfür eine bestimmte Lösung in Betracht zu ziehen; das technische Problem ist dabei aber so allgemein und neutral zu formulieren, dass sich die Frage, welche Anregungen der Fachmann durch den Stand der Technik erhielt, ausschließlich bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit stellt (BGH GRUR 2015, 352 Rn. 17 – Quetiapin; BGH GRUR 2015, 356 Rn. 9 – Repaglinid; BGH GRUR 2020, 603 Rn. 12 – Tadalafil). Die Formulierung des technischen Problems richtet sich allerdings nicht nach der subjektiven Zielvorstellung des Erfinders, sondern nach dem, was die im Patent beschriebene Erfindung aus der Sicht des Fachmanns in der Zeit vor Vollendung der Erfindung (BGH GRUR 1987, 510, 511 Mittelohr-Prothese) tatsächlich leistet (BGH, GRUR 1986, 803, 805 – Formstein; BGH, GRUR 2010, 602 Rn. 27 – Gelenkanordnung; BGH, GRUR 2015, 352 Rn. 11 – Quetiapin; BGH, GRUR 2016, 921 Rn. 14 – Pemetrexed I; BGH, GRUR 2018, 390 Rn. 32 – Wärmeenergieverwaltung). Durch die Bestimmung der objektiven Aufgabe wird zugleich auch der Ausgangspunkt für die fachmännischen Bemühungen zu einer Bereicherung des Stands der Technik ohne Kenntnis der Erfindung lokalisiert, von dem aus die hieran erst anschließende und davon zu trennende Prüfung auf Patentfähigkeit, insbesondere auf erfinderische Tätigkeit, zu erfolgen hat (vgl. BGH, GRUR 2015, 356 Rn. 9 – Repaglinid; BGH, a.a.O. – Quetiapin).
36
Die objektive Aufgabe ist dabei unabhängig vom Stand der Technik aufgrund einer Auslegung der technischen Lehre des Streitpatents zu ermitteln (Benkard/Bacher, PatG, 11. Aufl., § 1 Rn. 62); sie stellt daher wie diese trotz der ihr zugrunde zu legenden technischen Grundlagen eine Rechtserkenntnis und keine Tatsachenfeststellung dar (BGH, GRUR 2007, 859 Rn. 14 – Informationsübermittlungsverfahren I). Für den hier vorliegenden Fall der medizinischen Indikation ist dabei zu beachten, dass die Erteilung eines Verfahrenspatents (vgl. Ann, Patentrecht, 8. Aufl., § 14 Rn. 217) für die bislang nicht bekannte therapeutische Behandlung einer Krankheit mittels eines bereits vorbekannten Stoffs durch Art. 54 Abs. 4 oder 5 EPÜ in Fortführung der bereits zuvor als „erweiterter Stoffanspruch“
praeterlegem entwickelten Rechtsprechung (BGH, GRUR 1983, 729 – Hydropyridin) eine Erweiterung der Patentierungsmöglichkeiten darstellt, denn ohne die Vorschriften des Art. 54 Abs. 4 und 5 EPÜ bzw. dem
praeter legem entwickelten „erweiterten Stoffanspruchs“ wäre eine Patentierung mangels Neuheit des hierbei geschützten Stoffs i.S.d. Art. 54 Abs. 1 EPÜ und wegen des Patentierungsausschlusses für therapeutische Verfahren nach Art. 53 lit. c) EPÜ an sich ausgeschlossen (vgl. Benkard/Melullis, PatG, 12. Aufl., § 3 Rn. 376). Bei der medizinischen Indikation nach Art. 54 Abs. 4 oder 5 EPÜ liegt in den Fällen, in denen ein bereits bekannter und damit für sich genommen nicht neuer Wirkstoff für eine mit ihm bislang nicht durchgeführte Therapie einer Erkrankung verwendet werden soll, die tatsächliche Leistung der hierauf gerichteten Erfindung aber allein in dieser neuen, bislang nicht bekannten Behandlungsmöglichkeit mit dem vorbekannten Wirkstoff. Daher ist in diesem Fall patentrechtlich die Aufgabe darin zu sehen, für diesen bekannten Wirkstoff eine neue therapeutische Anwendung zu finden. Ob die tatsächliche technische Entwicklung dabei nicht von dem vorbekannten Wirkstoff ausgeht, sondern ihr stattdessen möglicherweise die Suche nach einer neuen Therapiemöglichkeit für eine bestimmte Krankheit zugrunde lag, die zum Auffinden des bekannten Wirkstoffs als Lösungsmittel führte, spielt dabei patentrechtlich keine Rolle (vgl. Urteil des Senats vom 12.5.2020 – 3 Ni 34/17, GRUR-RS 2020, 20899 – Ubichinon).
37
Soweit die Beklagte demgegenüber für ihre Bestimmung der objektiven Aufgabe des Streitpatents auf die Aufgabenformulierungen in den BGH-Urteilen
Escitalopram (BGH, GRUR 2010, 123),
Repaglinid (a.a.O),
Quetiapin (a.a.O.) und
Tadalafil (a.a.O.) abstellt, übersieht sie, dass Gegenstand der diesen Entscheidungen zugrundeliegenden Patenten anders als im vorliegenden Fall (und auch im oben genannten Fall
Ubichinon) jeweils nicht nur eine medizinische Indikation, also die Verwendung eines vorbekannten Stoffes für eine bislang mit ihm nicht bekannte Therapiemöglichkeit, sondern entweder ein neuer Wirkstoff oder eine Abwandlung eines bereits bekannten Wirkstoffes war, so dass sich hieraus zwangsläufig als objektive Aufgabe die Formulierung eines neuen oder abgewandelten Wirkstoffes für eine vorgegebene Krankheitsbehandlung ergab. Diese Sachverhaltsgestaltungen sind aber mit der vorliegenden nicht vergleichbar, so dass die in diesen Entscheidungen jeweils formulierte Aufgabenstellung für das hier zu beurteilende Streitpatent nicht herangezogen werden kann.
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2.2 Dass die tatsächliche Leistung des Streitpatents nicht in der Entwicklung eines neuen, bislang unbekannten Stoffes zur Behandlung einer überaktiven Blase liegt, sondern im Auffinden einer Eignung des bekannten Stoffes Mirabegron zur Behandlung einer überaktiven Blase, wird auch durch das Streitpatent selbst bestätigt. Denn bereits Absatz [0004] des Streitpatents weist auf den Wirkstoff Mirabegron als Mittel zur Behandlung von Adipositas und Hyperlipämie hin, und zwar unter Hinweis auf BB13/BB14, in denen Mirabegron als Vertreter der b3-AR stimulierenden Wirkstoffe aufgezeigt wird. Der Fachmann wird somit vom SP bereits als erstes auf Mirabegron als b3-AR stimulierenden Wirkstoff hingewiesen. Hieran schließen sich zwar in den Absätzen [0005] bis [0012] allgemeine Ausführungen zu bekannten Behandlungsmöglichkeiten mit anderen b3-AR stimulierenden Wirkstoffen an. Danach beschäftigt sich das SP aber nur noch mit dem Wirkstoff Mirabegron. Andere Wirkstoffe als mögliche Lösung einer Aufgabe, die auf das Auffinden einer verbesserten oder alternativen Therapie der überaktiven Blase, von akutem Harndrang, Harninkontinenz oder Pollakisurie gerichtet wäre, werden im SP weder untersucht noch näher beschrieben. Schon diese Reihenfolge – zunächst Benennung von Mirabegron als b3-AR stimulierenden Wirkstoff, sodann der allgemeine Hinweis auf therapeutische Einsatzmöglichkeiten von b3-AR stimulierenden Wirkstoffen, darunter auch zur Behandlung der überaktiven Blase und schließlich die nähere Untersuchung nur noch von Mirabegron zur Behandlung eben dieser Erkrankung – zeigt, dass die objektive Aufgabe darin liegt, nach weiteren Indikationen für den bekannten Wirkstoff Mirabegron zu suchen. Die bloße allgemeine Erwähnung der b3-AR stimulierenden Wirkstoffe und ihrer therapeutischen Einsatzmöglichkeiten geben dagegen keinen Hinweis darauf, die Aufgabe anders zu formulieren.
39
2.3 Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Formulierung der Aufgabe durch den Senat auch frei von Lösungsmerkmalen. Denn wenn die tatsächliche Leistung des Streitpatents nur in der Anwendung von Mirabegron zur Behandlung der überaktiven Blase besteht, ist die erfindungsgemäße Lösung – Behandlung der überaktiven Blase durch den bekannten Wirkstoff – nicht Teil der vom Senat formulierten Aufgabe. Im Übrigen enthält auch die alternative Formulierung der Beklagten, worauf die Klägerin zutreffend in der mündlichen Verhandlung hingewiesen hat, durch Benennung der Erkrankung der überaktiven Blase Teile des Patentanspruchs.
40
2.4 Soweit der Senat im Folgenden zu einer unterschiedlichen Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit als der District Court of The Hague im niederländischen Parallelverfahren gemäß HE7 gelangt, beruht dies im Wesentlichen auf dieser abweichenden Definition der Aufgabe.
41
3. Der zuständige Fachmann, bei dem es sich um ein Team aus einem klinischen Urologen und einem im medizinischen Bereich tätigen Chemiker oder Pharmazeuten mit mehrjähriger Industriepraxis und speziellen Kenntnissen auf dem Gebiet der Arzneimittelentwicklung handelt, wird die erläuterungsbedürftigen Begriffe in den erteilten Patentansprüchen wie folgt verstehen:
42
3.1. Gemäß der Streitpatentschrift wird unter einer überaktiven Blase (= OAB) eine Krankheit verstanden, die häufig zu akuten Harndrang führt. Sie kann neben benigner Prostatahyperblasie andere idiopathische Ursachen haben. Eine überaktive Blase ist dabei oft von häufigem Harndrang (= urinary frequency: davon spricht das Streitpatent bei einer Blasenentleerung von mindestens zweimal pro Nacht und mindestens achtmal pro 24 Stunden), Harninkontinenz und Pollakisurie begleitet, muss aber nicht immer diese Begleitsymptome aufweisen (vgl. BB01 Abs. [0013] ab Satz 2 und Abs. [0014]).
43
3.2. Der oral applizierbare Wirkstoff (R)-2-(2-Aminothiazol-4-yl)-4’-[2-[(2-hydroxy-2-phenylethyl)amino]ethyl]essigsäureanilid hat den INN Mirabegron und ist ein b3-Adrenozeptor-Agonist. Da Mirabegron, wie das Streitpatent im Abs. [0004] selbst angibt, bereits als Wirkstoff zur Behandlung von Diabetes mellitus u.a. aus der BB13/BB14 bekannt ist, handelt es sich beim vorliegenden Streitgegenstand um die Beanspruchung einer zweiten medizinischen Indikation für Mirabegron.
44
3.3. b3-Adrenorezeptor-Agonisten/b3-AR-Agonisten werden auch b3-adrenerge Rezeptor-Agonisten oder b3-Adrenozeptor stimulierende Mittel (= b3-Adrenozeptor-Stimulantien) bezeichnet. Die b3-Rezeptoren werden insbesondere von dem Hormon Adrenalin aktiviert und kommen im menschlichen Herz, in der Gallenblase und im Magen-Darmtrakt sowie im Harnblasen-Detrusormuskel vor. Die b3-AR-Agonisten erregen die b3-Rezeptoren und kommen zur Verwendung in der Therapie verschiedener metabolischer und gastrointestinaler Erkrankungen sowie von Blasenfunktionsstörungen in Frage (vgl. z.B. BB07a S. 1436 li Sp. ab Z. 10).
II.
45
Der Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 beruht nicht auf einer erfinderischen Tätigkeit (Art. 56 EPÜ).
46
1. Einen geeigneten Ausgangspunkt stellt die BB15/BB16 dar. Die beiden Druckschriften sind dabei als Einheit anzusehen, da die BB16 lediglich eine englischsprachige Übersetzung der in japanischer Sprache verfassten vorveröffentlichten BB15 darstellt. Die BB15/BB16 beschäftigt sich ausschließlich mit dem Wirkstoff Mirabegron. Sie betrifft dessen Verwendung zur Behandlung von Diabetes mellitus und damit die Offenbarung der ersten medizinischen Indikation von Mirabegron (vgl. BB16 Abs. [0001] und Patentanspruch 6). Im Zusammenhang mit seinen bekannten Wirkungen weist die BB15/BB16 den Fachmann zugleich darauf hin, dass Mirabegron ein selektiver b3-AR-Agonist ist (vgl. BB16 Abs. [0002]).
47
Ausgehend davon schaut sich der Fachmann zur Lösung der streitpatentgemäßen Aufgabe, für den Wirkstoff Mirabegron neue Anwendungsgebiete bzw. Indikationen aufzufinden, im Stand der Technik nach Anwendungsgebieten für b3-AR-Agonisten um. Dabei trifft er auf eine ganze Reihe von Dokumenten, die eine Verwendung von b3-AR-Agonisten zur Behandlung von Harnblasenstörungen und insbesondere von überaktiver Blase anregen. So lehren beispielsweise die BB07a und die BB08, dass b3-AR-Agonisten zur Behandlung der überaktiven Blase geeignet sind (vgl. BB07a S. 1436 Abstract, li. Sp. Z. 22 bis 25, S. 1440 spaltenübergr. Abs.; vgl. BB08 S. 683/684 seitenübergr. Abs. und S. 684 „Conclusion“ Abs. 1). Dieselbe Information erhält der Fachmann auch aus der BB11 (vgl. BB11 S. S54 li. Sp. Abs. 1 und 2). Bei der BB11 handelt es sich im Übrigen unabhängig von einer wirksamen Beanspruchung der Priorität der JP 2002323792 durch das Streitpatent um einen vorveröffentlichten Stand der Technik, da gemäß BB30 dieser Aufsatz am 22. Oktober 2002 und damit vor dem Anmeldetag der durch das Streitpatent in Anspruch genommenen japanischen Prioritätsschrift publiziert worden ist. Auch der BB20 entnimmt der Fachmann die Eignung von b3-AR-Agonisten zur Behandlung von Harnblasenstörungen wie Pollakisurie, Harninkontinenz, neurogene Blasendysfunktion oder instabiler Blase (vgl. BB20 Patentansprüche 9 und 10 iVm S. 1 Z. 10 bis 33, S. 20 Z. 28 bis S. 21 Z. 12). In Kenntnis dieses Fachwissens war der Fachmann motiviert, Mirabegron zur Behandlung von Harnblasenstörungen und dabei auch von überaktiver Blase zu untersuchen. Darin wurde er bestärkt, weil die Fachliteratur von wenigen bzw. keinen Nebenwirkungen bei der Verwendung von b3-AR-Agonisten zur Behandlung von Harnblasenerkrankungen berichtet (vgl. BB07a S. 1436/1437 seitenübergr. Satz; BB08 S. 683 re. Sp. Z. 12 bis 14, S. 684 „Conclusion“ Abs. 1 le. Satz). Somit hat ausgehend von BB15/BB16 in einer Zusammenschau mit dem Fachwissen zu b3-AR Agonisten die neue Indikation für Mirabegron gemäß Patentanspruch 1 nahegelegen.
48
2. BB15/BB16 stellt keinen wegen rückschauender Auswahl unzulässigen Ausgangspunkt dar, weil nach Ansicht der Beklagten in dieser Druckschrift die b3-AR-Aktivität von Mirabegron nicht als relevante Eigenschaft für die Behandlung von Diabetes mellitus, sondern lediglich für die Wirkung gegen Adipositas und Hyperlipidämie offenbart werde. Der Beklagten ist bei ihrer Begründung zwar insoweit zu folgen, dass im Absatz [0002] der BB16 die b3-AR-Aktivität im Zusammenhang mit der Anti-Adipositas und Anti-Hyperlipidämie-Wirkung von Mirabegron offenbart wird. Allerdings versteht der Fachmann den gesamten Absatz [0002] derart, dass sämtliche darin beschriebenen Wirkungen von Mirabegron, also die Wirkung auf die Insulinsekretion und Insulinsensitivität sowie die Anti-Adipositas- und Anti-Hyperlipidämie-Wirkung dazu beitragen, dass Mirabegron als Wirkstoff zur Behandlung von Diabetes verwendet werden kann. Dies wird durch den Bezug auf die BB13/BB14 bekräftigt (auch hier sind beide Druckschriften als Einheit anzusehen, da die BB14 wiederum lediglich eine englischsprachige Übersetzung der in japanischer Sprache verfassten vorveröffentlichten BB13 darstellt). In BB13/BB14 wird explizit ausgeführt, dass die beschriebenen Amid-Derivate, von denen Mirabegron gemäß dem Patentanspruch 6 dieser Druckschrift ein bevorzugtes Beispiel darstellt, aufgrund derselben Wirkungen, also die Wirkung auf die Insulinsekretion und Insulinsensitivität sowie die Anti-Adipositas- und Anti-Hyperlipidämie-Wirkung, als therapeutisches Mittel für die Behandlung von Diabetes mellitus verwendbar sind (vgl. BB14 Abs. [0054]). Für das, was der Fachmann der BB15/BB16 als Lehre hinsichtlich des Wirkstoffs Mirabegron entnimmt, spielt es allerdings keine Rolle, ob die Wirkung auf die Insulinsekretion und Insulinsensitivität durch die b3-AR-Aktivität von Mirabegron bedingt ist. Denn unabhängig davon lehrt diese Druckschrift unmittelbar und eindeutig, dass der Diabetes-Wirkstoff Mirabegron zu der Klasse der b3-AR-aktiven Wirkstoffe gehört. Somit wird die Offenbarung der BB15/BB16 nicht rückschauend auf die b3-AR-Aktivität von Mirabegron eingeengt. Vielmehr motiviert diese Druckschrift den Fachmann, sich zur Lösung der streitpatentgemäßen Aufgabe mit der Wirkstoffklasse der b3-AR-aktiven Wirkstoffe zu beschäftigen. Darin wird er wiederum durch den Bezug auf die BB13/BB14 bestärkt, da diese Druckschrift
expressis verbis lehrt, dass die selektive b3-Rezeptor-stimulierende Wirkung der beschriebenen Amidverbindungen und damit auch des in dieser Druckschrift bevorzugten Mirabegrons zur Vorbeugung und Therapie verschiedener durch Stimulation des ß3-Rezeptors behandelbarer Krankheiten nützlich ist (vgl. BB14 Abs. [0057]).
49
3. Der Fachmann wird auch nicht dadurch von der Berücksichtigung der BB15/BB16 abgehalten, weil er vermeintlich die in jedem Fall vorhandene Wirkung von Mirabegron auf die Insulinsekretion und Insulinsensitivität als unerwünschte Nebenwirkung bei der Behandlung der überaktiven Blase ansieht, die er vermeiden möchte. Ein derartiges, das Beruhen auf erfinderischer Tätigkeit begründendes Vorurteil liegt vor, wenn eine in den einschlägigen Fachkreisen allgemein und weit verbreitete Ansicht oder vorgefasste Meinung herrscht, die auf einer allgemein eingewurzelten technischen Fehlvorstellung beruht, die die Fachwelt daran gehindert hat, in Richtung auf die geschützte Lehre zu arbeiten oder auch nur Versuche in dieser Richtung zu unternehmen (vgl. Schulte, PatG, 11. Aufl., § 4 Rn. 163), was allerdings nur bei bislang bestehenden Annahmen technischer Unausführbarkeit oder Unerreichbarkeit des erzielten technischen Erfolgs zu bejahen ist (vgl. Benkard/Asaendorf/Schmidt/Tochtermann, PatG, 12. Aufl., § 4 Rn. 96). Eine solche eingewurzelte technische Fehlvorstellung ist vorliegend nicht gegeben. Denn im Stand der Technik gibt es keine Hinweise oder Andeutungen dahingehend, dass die Wirkung von b3-AR-aktiven Wirkstoffen bei der Behandlung der überaktiven Blase einen negativen, den Fachmann von der Berücksichtigung dieser Wirkstoffklasse abhaltenden Einfluss besitzen würde. Vielmehr wird im Stand der Technik bereits
in vivo am Tiermodell die Wirkung von b3-AR-aktiven Wirkstoffen bei der Behandlung der OAB beschrieben (vgl. BB07a S. 1445 li. Sp. vorle. Abs.; BB08 S. 680 Abstract, „Materials and Methods“ vorle. Satz und „Results“). Darüber hinaus wird im Stand der Technik berichtet, dass keine unerwünscht schweren Nebenwirkungen auftreten (vgl. BB07a S. 1436/1437 seitenübergr. Satz; BB08 S. 683 re. Sp. Z. 12 bis 14, S. 684 „Conclusion“ Abs. 1 le. Satz). Zudem gehört es zur fachüblichen Vorgehensweise, dass in der sogenannten klinischen Phase IV ein Medikament in weiteren Studien daraufhin untersucht wird, ob es für die Behandlung weiterer Krankheiten in Betracht kommt (vgl. BB38 Abs. re. unten). Bei diesen Phase IV-Studien ist sich der Fachmann selbstverständlich der Problematik bewusst, dass Wirkstoffe, die hinsichtlich einer zweiten medizinischen Indikation untersucht werden, immer auch die Wirkung ihrer bekannten ersten medizinischen Indikation aufweisen. Dies führt in der fachüblichen Praxis aber nicht dazu, von derartigen Studien abzusehen. Schließlich wurden von der Beklagten auch keine entsprechenden Belege oder Nachweise vorgelegt, so dass dieser Vortrag als unbegründete Spekulation zu werten ist.
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4. Ausgehend von der Lehre der BB15/BB16 muss das Augenmerk des Fachmanns nicht auf Mirabegron gelenkt werden, da diese Druckschrift nur den Wirkstoff Mirabegron betrifft. Vielmehr hat der Fachmann zur Lösung der Aufgabe gemäß
I.2. insbesondere Anlass, von Druckschriften auszugehen, die sich schwerpunktmäßig mit dem Wirkstoff Mirabegron beschäftigen, da Mirabegron aufgrund der Aufgabe bereits im Zentrum seiner Überlegungen steht. Ebenso ist der Einwand nicht überzeugend, dass in BB13/BB14 Mirabegron nur eine von vielen in dieser Druckschrift beschriebenen Amidverbindungen darstelle, dessen Auswahl nur bei einer
ex post-Betrachtung für den Fachmann auf der Hand gelegen habe. Denn Mirabegron ist in BB13/BB14 im Patentanspruch 6 explizit als eine von neun Verbindungen genannt und wird durch diese Beanspruchung in einem Unteranspruch in den Fokus des Fachmanns gerückt, weil sie besondere Ausführungsformen der beanspruchten Erfindung betreffen (vgl. Benkard/Schacht PatG, 12. Aufl., § 34 Rn. 235).
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5. Die BB20 mag zwar eine große Liste von Wirkungen aufzeigen, die alle auf b3-AR-Aktivität beruhen sollen (vgl. BB20, S.1/2 seitenübergr. Abs.). Die Behandlung der OAB stellt in diesen Aufzählungen aber keine spekulative Offenbarung dar, die den Fachmann die Behandlung der OAB durch b3-AR-aktive Wirkstoffe als nicht wirkstoffklassentypische Indikation erkennen lassen würde. Denn zum einen wird in der BB20 das Augenmerk des Fachmanns auf die Behandlung der OAB durch die Testmethode im experimentellen Teil gerichtet, wodurch er zugleich erkennt, dass die OAB-Behandlung keine Spekulation der Autoren der BB20 darstellt, sondern dass diese die OAB als Indikation für Vertreter der Wirkstoffklasse der b3-AR-Agonisten bereits in Betracht gezogen haben (vgl. BB20, S. 22ff.). Zum anderen erhält er aus dem weiteren Stand der Technik zu b3-AR-aktiven Wirkstoffen gemäß BB07a, BB08 und BB11 sogar den konkreten Hinweis, sich auf die Behandlung der OAB zu konzentrieren, da sich diese Druckschriften ausschließlich mit der Indikation der überaktiven Blase beschäftigen und in diesem Zusammenhang b3-AR-aktive Wirkstoffe als mögliche Therapeutika offenbaren (vgl. BB07a u.a. S. 1436 Titel und Abstract, S. 1440 spaltenübergr. Abs.; vgl. BB08 S. 680 Titel, Abstract, „Conclusion“ Abs. 1 S. 684 li. Sp. Abs. 2; vgl. BB11 S. S50 Titel und Abstract iVm S. S54 li. Sp. Abs. 1 und 2).
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6. Gegen eine Berücksichtigung des Standes der Technik zu b3-AR-aktiven Wirkstoffen und dabei insbesondere der BB20 und der BB08 spricht auch nicht, dass in den Beispielen dieser Druckschriften insbesondere hinsichtlich der Behandlung der OAB strukturell zu Mirabegron unterschiedliche Verbindungen offenbart worden sind. Denn die Lehre der BB20 betrifft die allgemeine Verwendbarkeit von Aminoalkohol-Derivaten als b3-AR-aktive Arzneimittelwirkstoffe (vgl. BB20 S. 1 Z. 10 bis S. 4 Z. 24). Dabei lehrt diese Druckschrift, dass Verbindungen mit b3-AR-Aktivität u.a. Wirkungen auf die überaktive Blase haben (vgl. BB20 S. 20 Z. 28 bis S. 21 Z. 19). Diese Wirkung wird im Test ab S. 22 der BB20 beispielhaft anhand einer b3-AR-aktiven Verbindung nachgewiesen. Aufgrund dieser explizit offenbarten positiven Versuchsergebnisse hatte der Fachmann eine angemessene Erfolgserwartung, diese Indikation auch bei dem ihm als b3-AR-aktiven Wirkstoff bekannten Mirabegron als Aminoalkohol-Derivat zu untersuchen, auch wenn sich die Verbindung im Beispiel der BB20 strukturell von Mirabegron unterscheidet. Dasselbe gilt auch für die Lehre der BB08. Auch aus dieser Druckschrift erhält der Fachmann die Lehre, dass die überaktive Blase mit b3-AR-aktiven Wirkstoffen behandelt werden kann (vgl. BB08 S. 680 Titel und Abstract le. Satz). Dabei spielt es für die Motivation des Fachmanns bei der Berücksichtigung der Indikation OAB zur Lösung der streitpatentgemäßen Aufgabe wiederum keine Rolle, dass sich die in BB08 untersuchten b3-AR-aktiven Verbindungen strukturell von Mirabegron unterscheiden.
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7. Die weiteren Patentansprüche des Hauptantrags bedürfen keiner isolierten Prüfung, weil die Beklagte in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, dass sie den Hauptantrag und die Hilfsanträge jeweils als geschlossene Anspruchssätze versteht und das Streitpatent in der Reihenfolge Hauptantrag und Hilfsanträge 1 bis 3 verteidigt (vgl. BGH GRUR 2007, 862 – Informationsübermittlungsverfahren II; BGH GRUR 1997, 120 – Elektrisches Speicherheizgerät; BPatG GRUR 2009, 46 – Ionenaustauschverfahren).
III.
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Die Beklagte kann ihr Patent auch nicht erfolgreich in den Fassungen der Hilfsanträge verteidigen, die sie nach ihrer Mitteilung in der mündlichen Verhandlung ohnehin nicht in Reaktion auf die klägerseits beanstandete fehlende erfinderische Tätigkeit formuliert hat.
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1. Der Patentanspruch 1 des Hilfsantrags 1 enthält durch Hereinnahme der Merkmale der erteilten Unteransprüche 5 und 6 als zusätzliches Merkmal, dass die Behandlung der überaktiven Blase auf eine Behandlung der Harninkontinenz und/oder der Pollakisurie beschränkt worden ist. Dieses Merkmal ist allerdings beispielsweise aus den Druckschriften BB08 oder BB20 bekannt (vgl. BB08 S. 683/684 seitenübergr. Abs; vgl. BB20 Patentanspruch 10, S. 1 Z. 12 bis S. 2 Z. 13, v.a. S. 1 Z. 16 und 29/30, S. 2 Z. 14 bis 17, S. 20 Z. 28 bis S. 21 Z. 19, v.a. S. 20 Z. 30 und S. 21 Z. 8/9). Damit kann das zusätzliche Merkmal im Patentanspruch 1 des Hilfsantrags 1 ein Beruhen auf erfinderischer Tätigkeit nicht begründen.
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2. Ob die gegenüber dem Patentanspruch 1 gemäß Hilfsantrag 1 zusätzliche Aufnahme des Merkmals „resulting from an imbalance of the automatic dual control of the detrusor muscle“ (= „resultierend aus einem Ungleichgewicht der dualen Kontrolle des Detrusormuskels“) im Patentanspruch 1 des Hilfsantrags 2 eine zulässige Beschränkung darstellt, weil hiermit lediglich der physiologische Hintergrund beim Auftreten einer überaktiven Blase beschrieben wird (vgl. BB01 [0002], BB32 S. 36 Abstract Abs. „Results“), kann dahingestellt bleiben. Denn gemäß der BGH-Rechtsprechung
Leflunomid und
Rifaximina ist ein Gegenstand nahegelegt, den der Fachmann zwangsläufig erhält, wenn er ein durch den Stand der Technik nahegelegtes Verfahren anwendet (vgl. BGH, GRUR, 2012, 1130, Rn. 29 – Leflunomid und BGH, GRUR, 2019, 157, Ls. – Rifaximin a). Zudem ist nach der BGH-Rechtsprechung
Memantin eine Entdeckung biologischer Zusammenhänge als solche dem Patentschutz nicht zugänglich (vgl. BGH, GRUR, 2011, 999, Rn. 44 – Memantin). Diese vom BGH aufgestellten Rechtsgrundsätze sind auf das neue Merkmal im Patentanspruch 1 des Hilfsantrags 2 anwendbar. Denn dieses neue Merkmal beschreibt lediglich den fachbekannten biologischen und damit nicht dem Patentschutz zugänglichen Zusammenhang zwischen der Ursache eines Ungleichgewichts der dualen Kontrolle des Detrusormuskels und der daraus resultierenden überaktiven Blase (vgl. BB32 aaO). Da sich dieser Zusammenhang zudem zwangsläufig bei der Anwendung der aus dem Stand der Technik gemäß BB15/BB16 iVm dem Fachwissen zu b3-AR-Agonisten gemäß BB07a, BB08, BB11 und BB20 einstellt (vgl.
II.1.), kann dieses zusätzliche Merkmal nach der Fassung des Hilfsantrags 2 eine erfinderische Tätigkeit nicht begründen.
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3. Da mit der Fassung des Hilfsantrags 3 lediglich noch der nach den vorstehenden Ausführungen nicht patentfähige erteilte Patentanspruch 1 gemäß Hauptantrag ohne die erteilten Unteransprüche beansprucht wird, erweist sich dieser wie der Hauptantrag als zur wirksamen Verteidigung des Streitpatents ungeeignet.
IV.
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Da sich das Grundpatent als nicht patentfähig erweist, ist auch das auf seiner Grundlage erteilte, ebenfalls angegriffene ergänzende Schutzzertifikat gemäß Art. 15 Abs. 1 lit. c) AMVO für nichtig zu erklären.
B.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 709 ZPO.